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Vancouver

Beim Aufstehen fühle ich mich völlig gerädert. Das Zimmer ist leer, aber ich kann mich verschwommen daran erinnern, dass ich nachts ein paar Mal wach wurde, weil Leute reinkamen und wieder rausgingen. Ich habe einen Jetlag, bin orientierungslos und unsicher, in welchem Land ich mich befinde oder welcher Tag heute ist. Und ich habe von Flick geträumt.

Ich greife nach meinem Handy. Natürlich habe ich lauter Nachrichten, fast alle von Mum. Nur eine ist von meinem Bruder Dillon. Die von Mum sind größtenteils logistischer Art. Offenbar hat sie in der Zwischenzeit einige Nachforschungen angestellt. Sie fragt mich nach Wechselkursen, schreibt mir, wo ich Krankenhäuser oder Polizeireviere finde und welchen Notruf man in Kanada wählen muss. Außerdem hat sie mir die Adressen und Telefonnummern von gleich vier verschiedenen »Bekannten« geschickt, die sie hier in British Columbia hat: drei ehemalige Kollegen und eine Cousine zweiten Grades. Noch dazu die von Grandad, was mich überrascht. Sie muss sich echt Sorgen machen. Zu guter Letzt hat sie Screenshots von allen Flügen angehängt, die innerhalb der nächsten achtundvierzig Stunden von Vancouver nach Großbritannien fliegen. Nur »für den Fall«.

Guten Morgen, antworte ich. Ich hab dich lieb.

Dillons Nachricht ist weniger pragmatisch:

Dillon:

KRASSE SCHEISSE, PEYTON!

Ein Grinsen breitet sich auf meinem Gesicht aus und ich schicke ihm die kanadische Flagge. Ich glaube nicht, dass ich Dillon jemals zuvor ein Krasse Scheiße, Peyton! entlockt habe. Er behandelt mich sonst mit einer gewissen Nachsicht, so auf beschützerische Großer-Bruder-Art, hat mich aber bisher nie als ebenbürtig betrachtet. Gerade erscheint eine zweite Nachricht von ihm auf dem Bildschirm.

Dillon:

Wie geil bist du denn? Ich fasse es nicht.

Ich:

Bist du stolz?

Dillon:

Scheiße, ja. Mum und Dad drehen völlig durch. Sie haben keinen Plan, was sie machen sollen.

Ich:

Sie können gar nichts machen.

Dillon:

Echt, Dad kommt nicht drauf klar! Aber mal ohne Witz, geht’s dir gut? Brauchst du irgendwas?

Ich:

Nein, ich komm zurecht. Aber danke!

Dillon:

OK. Wenn du Geld oder Hilfe brauchst oder so, ruf mich an, ja? Ich mein’s ernst.

Ich:

Alles klar.

Dillon:

Krass, P., versteh mich nicht falsch, aber ich hätte nicht gedacht, dass du so cool bist!

Frisch geduscht und angezogen mache ich mich auf den Weg in den Frühstücksraum. An einem der Tische unterhalten sich ein paar Leute mit australischem Akzent so lebhaft und angeregt, dass ich es nicht über mich bringe, sie mit einer steifen britischen Begrüßung zu unterbrechen. Stattdessen verharre ich vor den Bagels am Buffet und bestaune die Essensauswahl. Dabei komme ich mir vor wie auf dem Präsentierteller, sodass ich mir bloß zwei Müsliriegel schnappe und Reißaus nehme. So viel zu meinem Vorsatz, das grandiose Hostel-Frühstück so richtig auszukosten.

Ich flüchte in den strahlend blauen kanadischen Morgen und versuche, das Gefühl der Entschlossenheit heraufzubeschwören, das ich direkt nach der Ankunft hatte. Das Wetter ist traumhaft, der Tag wirklich wunderschön, und nur ab und an zeigt sich ein verirrtes Wölkchen am Himmel.

Und da bin ich, in einer der tollsten Städte der Welt, bereit, Neues zu entdecken. Deshalb bin ich schließlich hier, oder? Ich bin bereit für Abenteuer und lebensverändernde Erfahrungen.

Ursprünglich hatte ich vor, einfach energisch in irgendeine Richtung zu laufen. Doch schon nach etwa drei Metern gerate ich ins Stocken. Vom Flugzeug aus war Vancouver atemberaubend, genau wie auf allen Bildern, die ich mir angeschaut habe, aber jetzt gerade, hier unten auf dem Boden, sieht Vancouver aus wie … eine Stadt. Ich stehe auf dem Bürgersteig an einer Straße, die so urban und unfreundlich wirkt wie jede x-beliebige Straße in einer x-beliebigen Großstadt, nur mit anderen Ampeln und Schildern. Überall sind Menschen, einige abgehetzt, einige entspannter, allein oder mit Freunden, alle mit einem Plan und einem Ziel. Sie alle gehören hierher und ich bin bloß eine Fremde. Eine Fremde ohne Freunde, ohne Plan und ohne Ziel.

Panik steigt in mir auf. Beinahe hätte ich mich umgedreht und wäre zum Hostel zurückgerannt.

Nein, Peyton. Du schaffst das. Ich atme tief durch. Da bietet sich mir ein vertrauter Anblick: ein Starbucks. Ich gehe darauf zu. Hier werde ich mir ein Getränk holen, mich kurz hinsetzen und mir etwas überlegen. Schon klar, große Ketten sind die Ausgeburt des Kapitalismus und man sollte sie wirklich nicht unterstützen, aber in diesem Moment sind die grün-braune Innenausstattung und das bekannte Logo einfach nur tröstlich.

Ich bestelle einen schwarzen Tee und der Barista lacht. In meinem ganzen Leben habe ich mich nie britischer gefühlt. Aber als ich ihm meinen Namen sage, schreibt er ihn korrekt auf den Becher, was auch noch nie vorgekommen ist. Er lächelt und fragt: »Bist du zum ersten Mal in Vancouver?« Als ich nicke, fährt er fort: »Cool, herzlich willkommen!« Und gibt mir damit ein gutes Gefühl.

In einem der gemütlichen Sessel, mit dem wärmenden Tee vor mir, geht es mir gleich besser. Ich ziehe den Stadtplan hervor, den ich von einem Stapel an der Rezeption mitgenommen habe, und entdecke, dass er von einem Busunternehmen vertrieben wird. Praktischerweise sind schon alle Sehenswürdigkeiten eingezeichnet. Vielleicht sollte ich das tun: eine Hop-on-Hop-off-Bustour durch die Stadt. So müsste man sie ja ziemlich gut kennenlernen, oder? Klingt unkompliziert und machbar.

Dann fällt mein Blick auf den Preis: siebzig Dollar.

»Okay, doch nicht«, murmele ich. Zwar habe ich einiges gespart, aber keine Unsummen. Wenn ich will, dass mein Geld reicht, um so viel wie möglich von Kanada zu sehen, muss ich mich echt ein bisschen einschränken. Außerdem bin ich ja nicht blöd. Ich kriege das auch auf eigene Faust hin. Mit normalen Linienbussen kommt man bestimmt genauso gut überall hin und ich benutze einfach den Stadtplan zur groben Orientierung. Das ist eigentlich sogar viel cooler, weil ich nicht auf die Touri-Busse angewiesen bin. So kann ich mir Zeit lassen und muss nicht alles an einem Tag abklappern.

Eine ganze Stunde bleibe ich bei Starbucks, studiere die Karte und nutze das WLAN, um meinen ersten Tag zu planen. Als ich aufbreche, fühle ich mich deutlich besser. Ich schaffe das hier auf jeden Fall. Ich bin stark und unabhängig.

Zuerst will ich nach Granville Island, das ist eins der eingezeichneten Highlights. Über ein freies WLAN-Netz, das ich im Vorbeilaufen finde, suche ich sorgfältig heraus, welche Linie ich brauche und wann sie wo hält. Als ich endlich alle Infos zusammenhabe, warte ich dreizehn Minuten auf den Bus und steige ein, nur um zehn weitere Minuten später festzustellen, dass er in die falsche Richtung fährt. Ich kriege Panik, zögere und steige schließlich wieder aus.

Wenn ich ehrlich bin, macht mich das ganz schön fertig. Die Stadt überfordert mich und es war dumm zu glauben, dass ich das alles allein hinkriegen würde. Wie soll ich denn bitte einmal quer durch dieses gigantische Land reisen, wenn ich es nicht mal schaffe, innerhalb Vancouvers von A nach B zu kommen?

Nachdem ich tief Luft geholt habe, beschließe ich, meine Pläne zu ändern. Ich folge einigen Schildern und suche Zuflucht im Stanley Park, der sich als eine Art größere Version des Hyde Parks entpuppt. Er ist sogar so riesig, dass ein ganzer Wald darin Platz findet. Während ich umherwandere, merke ich, wie die Hektik der Großstadt von mir abfällt. Einer Infotafel, die ich gewissenhaft bis zum Ende durchlese, entnehme ich, dass eine neun Kilometer lange Kaimauer einmal rund um den Park verläuft. Ich setze mich und lasse den Blick über den Hafen schweifen. Endlich! So habe ich mir das vorgestellt: strahlend blauer Himmel, Berge, die wirken, als wären sie einem Bilderbuch entsprungen, und das Meer, das sich vor mir erstreckt. Eine ganze Weile bleibe ich einfach sitzen. Diesen Augenblick muss ich auskosten, hier und jetzt. Ich will ihn mit einem Lesezeichen im Buch meiner Erinnerungen versehen. Will mich zurückversetzen können, wann immer ich mich verloren fühle.

Auf dem Rückweg ins Hostel husche ich in einen Andenkenladen, kaufe eine Postkarte mit der Skyline von Vancouver bei Sonnenuntergang und adressiere sie an meine Eltern. Statt eine Nachricht zu schreiben, zeichne ich eine Skizze von mir auf den Stufen vor dem Hostel. Ich verpasse mir ein breites Lächeln und einen Safarihut, übertreibe die Größe meines Rucksacks und verwandle meine Chucks in Wanderstiefel. Ich nenne das Bild PEYTON DIE ENTDECKERIN und ergänze einen winzigen Untertitel, so klein, dass Dad seine Brille aufsetzen wird, um ihn lesen zu können: die euch sehr lieb hat.

Ich wähle den Expressversand, damit die Karte so schnell wie möglich bei ihnen ist. Hoffentlich versöhnt sie das ein bisschen.

Am späten Nachmittag komme ich wieder im Hostel an. Ich gehe direkt in die Küche, um mir einen Tee zu machen. In der Ecke sitzt eine junge Frau in voller Wandermontur. Sie hat Kopfhörer auf und blättert in einer Zeitschrift. Außerdem sind da noch zwei Jungs. Sie scheinen in ein intensives Gespräch vertieft zu sein. Ich nehme meinen Tee mit ins Billardzimmer, wo die Australier von heute Morgen eine Partie Pool spielen. Kurz zögere ich, dann schlendere ich weiter in den Gemeinschaftsraum. Er ist leer. Oder zumindest fast. Im Raum verteilt stehen ein paar Tische und Sofas, von denen eines belegt ist – darauf thront die dreifarbige Katze von dem Foto an der Rezeption.

»Hallo, Teapot«, sage ich. Die Katze maunzt zufrieden und rollt sich auf den Rücken. Ich muss grinsen. Mit Tieren hat man es so viel einfacher als mit Menschen.

Ich lasse meinen Blick über die Bücherregale schweifen, aber so spontan spricht mich nichts an. Also sinke ich vorsichtig neben Teapot auf die Couch, ziehe mein Skizzenbuch hervor und beginne, sie zu zeichnen. Die ruhigen Bewegungen meiner Hand und die gleichmäßigen Bleistiftstriche entspannen mich.

Auch nachdem Teapot sich irgendwann anscheinend gelangweilt und davongestohlen hat, bleibe ich noch eine ganze Weile sitzen und male vor mich hin. Mit der Zeit kommen verschiedene Leute rein und wieder raus, manche allein, wie ich, andere gemeinsam lachend und plaudernd. Zuerst nehme ich an, dass es sich um Grüppchen von Freunden handelt, die zusammen reisen. Doch während ich schamlos ihren Gesprächen lausche, geht mir auf, dass ich falschliege. Die meisten haben sich gerade erst kennengelernt. Vielleicht hätte mir das von Anfang an klar sein müssen, aber bis zu diesem Moment im Gemeinschaftsraum war mir gar nicht der Gedanke gekommen, dass dieses Hostel voller Leute sein könnte, die mir total ähnlich sind. Reisende, die in ihrem Leben kurz auf Pause gedrückt haben, die sich in einer Übergangsphase befinden und auch auf der Suche nach neuen Freunden sind.

Mich durchfährt ein Hoffnungsschauer. Ich war so damit beschäftigt, unabhängig zu sein und das Reisen als einsame Tätigkeit zu romantisieren, dass ich überhaupt nicht bedacht habe, was ein Hostel eigentlich ist: ein Treffpunkt für Menschen. Viele Menschen an einem Ort, die Ausschau nach Gefährten für gemeinsame Unternehmungen und Erfahrungen halten. Aber nicht wie in der Schule, wo wir alle gezwungen sind, aufeinanderzuhocken, egal, ob wir einander nun mögen oder nicht.

Diese Erkenntnis lässt mich zehn Minuten später mein Skizzenbuch beiseitelegen, als eine Gruppe von Leuten mit unterschiedlichen Akzenten den Raum betritt. Stumm flehe ich mein Herz an, sich zu beruhigen, und lächele. Ein großer, kräftiger Typ, etwa Anfang, Mitte zwanzig und dem Anschein nach der Älteste unter ihnen, nimmt meinen Blick wahr und lächelt zurück, breit und herzlich.

»Hallo!«, sagt er, mit russischem Einschlag und lauter, selbstsicherer Stimme. »Du bist neu hier.«

Ich nicke. Nicht so schüchtern! Damit kommst du hier nicht weit! Dann nehme ich mein Skizzenbuch, klammere mich daran fest und stehe auf. »Ich bin Peyton.«

»Hallo, Peyton. Ich bin Sewa. Wir wollen Karten spielen. Möchtest du mitmachen?«

Einfach so? Kann es echt so einfach sein? Wieder nicke ich und lasse mich auf einen der freien Stühle fallen. Anscheinend ja.

»Wann bist du angekommen?«, fragt Sewa, schüttelt einen Stapel Spielkarten aus ihrer Packung und beginnt, sie zu mischen.

»Gestern Abend«, antworte ich. »Spät. Ähm …« Ich hasse dieses Ähm schon, sobald es mir rausgerutscht ist. »Was ist mit euch?«

»Vor einer Woche. Ich habe ein Projekt abgeschlossen und nun überbrücke ich die Zeit bis zu einem neuen Auftrag. Lars und Stefan«, er zeigt auf zwei seiner Begleiter, »sind seit Samstag hier. Und Beasey und Khalil«, jetzt deutet er auf die anderen beiden, »seit Sonntag.«

»Kennt ihr euch alle?«

»Na, wir kennen uns jetzt«, antwortet Khalil. Sein Akzent ist schottisch. Schottisch! Ich freue mich so darüber, einen britischen Akzent zu hören, dass ich ihn völlig übertrieben anstrahle. Aber er scheint es zu verstehen, denn sein Lachen ist zwar trocken, aber herzlich, auf jeden Fall nicht gemein. Und vertraut mir, ich weiß, wie sich gemeines Lachen anhört.

»Maja«, ruft Sewa und ich drehe mich zur Tür, durch die in diesem Moment eine rothaarige junge Frau tritt. Sie ist ungefähr in seinem Alter und trägt eine Brille. »Hallo! Komm und spiel mit uns Karten.« Er wendet sich an mich. »Maja ist am gleichen Tag angekommen wie ich. Wir haben eine Verbindung.«

»So? Haben wir das?« Maja lacht und sagt »Hallo«, während sie den Stuhl neben mir hervorzieht und sich setzt. »Was spielen wir?«, fragt sie in die Runde. Sie hat einen deutschen Akzent und ein sanftes, ausgeglichenes Lächeln.

Sewa schlägt Blackjack vor, was mich an lang zurückliegende Campingurlaube mit meiner Familie erinnert: Dillon und ich, wie wir Blatt um Blatt austeilen, um uns bei Regen die Zeit zu vertreiben.

Beim Kartenspielen entspanne ich mich ein bisschen. Ich schaffe es, die ganze Zeit ein wenig zu lächeln – was hoffentlich nicht zu verkrampft wirkt –, zu nicken, wenn etwas gesagt wird, und über die Witze der anderen zu lachen. Sewa hat sich selbst zu einer Art Spielkommentator erkoren und ich beneide ihn dafür, wie wohl er sich offenbar beim Small Talk mit völlig Fremden aus aller Welt fühlt. In ein paar Jahren bin ich vielleicht genauso, spreche mit allen, die ich treffe, als wären wir längst Freunde, und mache sie somit dazu.

»Peyton«, fragt Sewa gerade, »hast du vorher schon mal einen Russen getroffen?« Als ich den Kopf schüttele, fährt er fort: »Bin ich so, wie du dir einen vorgestellt hättest?«

Was antwortet man denn darauf? Ich entscheide mich für: »Nein.«

Zu meiner Erleichterung lachen alle, auch Sewa.

»Das überrascht mich nicht. Ich erfülle zu wenig Klischees. Aber damit kann ich leben.« Er sieht sich in der Runde um, während er die obere Hälfte der gemischten Karten nach unten legt. »Was fällt euch ein, wenn ihr an Russland denkt?«

»Bots«, sagt einer der Schotten, der mit der Brille, in beinahe entschuldigendem Tonfall. Wie hieß er noch mal? Beasey?

Sewa mimt mit seinen riesigen Händen einen Roboter und setzt dabei eine herzzerreißende Miene auf. »Miep morp«, piept er. Das ist richtig niedlich.

»Spionage«, ergänzt Khalil.

»Wodka«, fügt Lars hinzu und Sewa grinst.

»Der beste Wodka der Welt, jawohl, das ist extrem wahr. Aber Bots? Spionage?« Er schnalzt mit der Zunge und schüttelt den Kopf. »Wenn man auf Reisen ist, sehen einen die Leute nicht als Person, sondern als Vertreter des Landes, aus dem man kommt. Sie vergessen dabei, dass sie in Stereotypen denken.« Er räuspert sich und teilt wieder aus. »Ich treffe gern Menschen von überallher«, fährt er fort. »Lerne sie kennen, jenseits aller Stereotype, an einem Ort wie diesem hier. Wenn man lange genug bleibt, begegnet man der ganzen Welt.«

»In einem Hostel?«

Er nickt. »Die Atmosphäre, das Miteinander. Das zieht eine bestimmte Sorte Menschen an. Auch wenn wir alle von woanders herkommen, das haben wir gemeinsam. Wir sind auf der Suche nach etwas.«

Mir und den anderen steht dieselbe Frage ins Gesicht geschrieben: Wonach suche ich?

»Nach Abenteuern«, zählt Sewa auf, »Inspiration, Zuflucht.«

»Freiheit«, ergänzt Maja. »Uns selbst.«

Nach all diesen Dingen, denke ich. Aber warum spreche ich es nicht laut aus? »Nach all diesen Dingen«, sage ich.

»Und natürlich nach richtig guter Poutine«, mischt sich einer der Schotten ein, und obwohl ich keine Ahnung habe, was das sein soll, lache ich mit.

Sewa grinst und legt die letzten Karten ab. »Wir alle sind Reisende, Entdecker, Ausreißer.«

»Vielleicht nicht unbedingt Ausreißer«, erwidert Maja sanft.

»Alle, die reisen, nehmen vor irgendetwas Reißaus«, sagt Sewa. »Auf gewisse Art.«

Ich frage mich, ob das stimmt.

»Mir gefällt trotzdem Entdecker besser«, meldet sich Beasey zu Wort. »Das klingt deutlich cooler.«

Lars und Stefan erwähnen Skifahren und es entspinnt sich eine Diskussion, ob das als Reisen zählt oder eher als Urlaub.

»Was ist mit dir, Peyton?«, erkundigt sich Sewa irgendwann. »Warum bist du hier?«

Gute Frage … »Das weiß ich noch nicht genau«, antworte ich.

Jetzt schauen sie mich alle erwartungsvoll an. Die Karten liegen auf dem Tisch und warten auf uns, aber niemand nimmt sie auf.

»Ich werde einfach eine Weile gucken, was Vancouver so zu bieten hat«, sage ich. »Und dann weiterziehen. Ich will versuchen, so weit wie möglich quer durch Kanada zu reisen. Aber das ist im Moment mein einziger Plan.« Sie sehen mich so verblüfft an, dass ich mich genötigt fühle, noch etwas hinzuzufügen, als wäre ich wieder bei der Einreisekontrolle. »Außerdem ist da noch mein Großvater. Er lebt in Edmonton.«

»Und da willst du ihn besuchen?«, fragt Maja.

Ganz sicher nicht! »Äh … ja.«

Ich schätze, streng genommen habe ich sie alle damit gerade angelogen, aber da das hier sowieso nicht von Dauer sein wird, ist es vielleicht gar nicht so schlimm. Vermutlich kann ich mich eh an keinen von ihnen mehr erinnern, sobald ich es erst mal in die Nähe von Alberta geschafft habe.

»Kannst du denn Auto fahren?« Khalil hält eine Spielkarte zwischen Daumen und Zeigefinger und klopft damit auf den Tisch.

»Nein. Und selbst wenn, dürfte ich hier noch keins mieten.«

»Wie willst du dann reisen?«

»Wahrscheinlich mit Bussen. Vielleicht mit dem Greyhound? Ich dachte, das finde ich unterwegs schon irgendwie raus.«

Skeptische Mienen. Maja und Sewa werfen sich einen Blick zu.

»Greyhound fährt praktisch kaum noch durch Westkanada«, erklärt Lars. Er deutet auf Stefan. »Wir haben es nachgeschaut, als wir unseren Trip geplant haben.«

»Oh«, sage ich.

»Und abgesehen davon … weißt du, wie lange es von hier bis Edmonton mit dem Bus dauert?« Khalil lässt nicht locker.

»Nein.« Ich spüre, wie Röte meinen Hals hinaufkriecht. Warum bohrt er so nach? Was hat er davon?

»Ganz schön lange«, beantwortet er seine eigene Frage. »Am Stück etwa vierundzwanzig Stunden. Kanada ist groß. Ich meine, wirklich riesig

»Deshalb bin ich ja hier.« Hoffentlich klinge ich nicht zu trotzig. »Weil es so riesig ist.«

»Bist du vielleicht doch eine Ausreißerin?«, fragt Maja.

»Nein. Meine Eltern wissen, wo ich bin.«

Noch immer starren sie mich an und ich versuche zu lächeln und irgendwie nicht zu rot anzulaufen. Das habe ich nun davon, dass ich mich entschlossen habe, Kontakt zu meinen Mitmenschen aufzunehmen, statt mich hinter den sicheren Mauern meiner Einsamkeit zu verschanzen. Für einen kurzen Moment hatte ich vergessen, was für eine Versagerin ich bin, wenn es um ganz normale soziale Interaktion geht.

»Okay, aber … hast du so gar keinen Plan?« Beasey schenkt mir ein ungläubiges Grinsen.

»Ich wollte einfach sehen, wohin es mich verschlägt.«

»Krass, das ist mal mutig.«

»Und mit mutig meinst du dumm«, stelle ich fest.

»Nein! Ich meine, ja, okay, es ist … ungewöhnlich. So völlig ohne Plan zu reisen. Aber Menschen tun ständig irgendwelche dummen, mutigen Dinge.«

Ich kann nicht anders, ich muss lachen. »Äh, danke?«

»Wir könnten dir ja beim Planen helfen.« Er sieht die anderen an. »Oder?« Alle nicken. Ich öffne den Mund, um zu erklären, dass niemand irgendetwas für mich planen soll, dass es der Zweck dieser Übung ist, unabhängig zu werden und zu lernen, mit mir allein klarzukommen, oder was auch immer ich mir da während des Flugs zurechtgelegt habe. Aber er redet schon weiter: »Du findest keine besseren Reiseveranstalter als eine beliebige Gruppe Backpacker in einem beliebigen Hostel.« Dabei lächelt er so voller Überzeugung, dass ich mich frage, ob er wohl je etwas sagt, ohne sein ganzes Herzblut hineinzulegen. »Du könntest auch trampen«, schlägt er vor.

»Au ja, könnte ich. Das wird ein Spaß! Lasst uns Wetten abschließen, wie lange es dauert, bis ich ermordet werde.«

Er lacht, irgendwie trocken, als hätte es ihn selbst überrumpelt.

»Für euch Männer ist es was anderes«, erklärt Maja.

»Genau«, bekräftige ich, froh, eine Verbündete zu haben.

»Ich reise auch allein«, schiebt sie hinterher. »Ich könnte dir ein paar Tipps geben, wenn du magst.«

»Das wäre toll! Danke schön.«

»Gibt es nicht morgen sogar einen Tagesausflug vom Hostel aus?« Sie wendet sich an Sewa, doch der zuckt nur mit den Schultern.

»Ja«, mischt sich Beasey wieder ein, »nach North Vancouver. Wir fahren mit.« Er deutet auf sich und Khalil. »Das wird bestimmt cool.«

»So eine geführte Tour?«, frage ich, als wäre das wichtig.

»Jap, mit ermäßigtem Eintritt und Fahrpreis«, sagt Khalil. »Sehr praktisch, wenn man eine Menge sehen, aber nicht zu viel Geld ausgeben will.«

Ist das eine Einladung? Oder bloß eine Info? Besteht da ein Unterschied? »Cool. Dann komme ich auch mit.«

»Na bitte!« Sewa lacht. »Zumindest einen Tag haben wir schon geplant.« Er nimmt seine Karten auf. »Dann können wir jetzt weiterspielen.«

Die beste Zeit ist am Ende der Welt

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