Читать книгу Die beste Zeit ist am Ende der Welt - Сара Барнард - Страница 6
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Aber nichts war besser. Ganz offensichtlich.
Ich schaue aus dem winzigen Flugzeugfenster und versuche, den Boden zu sehen, der so weit unter mir ist, dass es wirkt, als würde ich ein Gemälde betrachten. Laut Karte gehört er zu Grönland. Einem kompletten Land voller Menschen mit eigenen Lebensgeschichten und Problemen. Wäre ich in Grönland geboren worden, hätte ich dann dieselben Schwierigkeiten gehabt? Oder ist alles bloß Zufall, die Leute, die einen umgeben, die Schule, auf die man geht, die Freunde, die man findet – oder eben nicht findet?
Über mir ertönt ein deutliches, aber freundliches Ping und das Anschnallzeichen leuchtet auf. Im gleichen Augenblick sackt das Flugzeug ab.
»Oh nein!« Der Frau im grünen Jumpsuit neben mir entfährt ein leiser Stoßseufzer.
Ich lehne den Kopf zurück und versuche, ein mulmiges Gefühl zu unterdrücken. Turbulenzen machen mir eigentlich nicht viel aus. Allerdings habe ich gerade mein altes Leben komplett hinter mir gelassen. Falls das jetzt ein Omen sein soll, was meine Zukunft betrifft, dann kein besonders gutes. Mein Magen schlingert zeitgleich mit dem Flugzeug. Aber ganz ehrlich? Ich nehme es tausendmal lieber mit diesen physischen Turbulenzen auf als mit denen, die mich im Leben bisher sonst durchgeschüttelt haben. Zumindest weiß ich, dass diese Holpertour in fast zehntausend Metern Höhe zeitlich begrenzt ist.
Meine Sitznachbarin ist da offenbar vollkommen anderer Ansicht. Sie hält die Augen geschlossen und umklammert die Armlehnen. Ab und an entweicht ihr ein Wimmern durch die fest zusammengebissenen Zähne. Ich beobachte sie einen Moment und überlege, ob ich etwas sagen soll, um sie zu beruhigen.
»Es ist alles in Ordnung.«
Sie antwortet, ohne sich zu mir umzudrehen, als fürchtete sie, eine unbedachte Bewegung von ihr könnte den Flieger zum Absturz bringen. »Wie bitte?«
»Es ist alles in Ordnung«, wiederhole ich. »Passen Sie auf, ich zeig’s Ihnen.« Ich stelle mein Wasserglas rüber auf ihren Tisch. »Schauen Sie mal. Die Oberfläche bewegt sich kaum.«
Sie runzelt die Stirn, ihr Blick huscht zum Glas.
»Sich auf etwas anderes zu konzentrieren, kann helfen, wenn man Angst hat«, erkläre ich. Das Flugzeug wackelt und ich deute aufs Wasser. »Sehen Sie? Es schwappt nicht mal über den Rand.«
Jetzt dreht sie den Kopf und sieht mich an. »Du bist ganz schön tapfer.«
»Nicht wirklich. Aber Turbulenzen sind nicht gefährlich. Sie fühlen sich nur so an.«
Das nächste Ruckeln schüttelt uns durch bis ins Mark. Die Frau schreit leise auf, dann schließt sie die Augen erneut und atmet tief ein. »Was macht das für einen Unterschied?«
Keine Ahnung, ob sie eine echte Antwort hören will, weil ja ziemlich klar ist, wo hier der Unterschied liegt. Deshalb frage ich stattdessen: »Warum fliegen Sie nach Kanada?«
»Ich wohne dort.« Sie hält die Lider weiter geschlossen.
»Oh, cool! Sind Sie Kanadierin?«
»Ja. Wobei, nein.« Sie öffnet die Augen. »Eigentlich bin ich US-Amerikanerin, aber ich lebe jetzt seit fast zwanzig Jahren drüben. Kanada war wirklich gut zu mir.«
So als spontane Kurzbeschreibung eines Landes, in das ich vor meinem alten Leben flüchte, klingt das doch echt nett. Ich merke es mir für später und stelle mir vor, wie ich das in Zukunft mal zu jemandem sage: Ich bin nach Kanada geflogen und das Land war wirklich gut zu mir.
»Was ist mit dir?«, fragt sie nun zurück, laut, so als wollte sie sich davon ablenken, was ihr sonst so alles durch den Kopf schießt. »Was erwartet dich in Kanada?«
»Das weiß ich noch nicht. Aber ich werde es herausfinden.«
Sie wirft mir einen überraschten Blick zu. »Wie meinst du das?«
»Ich habe keinen festen Plan. Das wird … eine Art Abenteuer.«
»In Kanada?«
»Ja.«
Kurze Stille. »Warum?«
»Ich …« Wie erkläre ich das? »Ich musste einfach raus. Aus meinem Leben. Woanders hin. Und Kanada kam mir vor wie … ein guter Ort dafür. Ergibt das Sinn?«
»Nicht so richtig. Aber irgendwie … vielleicht doch.« Mit einem erneuten Ping erlöschen die Anschnallleuchten über uns. Sichtlich erleichtert atmet sie auf. Schließt für einen Moment wieder die Augen, öffnet sie und lächelt. »O Gott, ich hasse Fliegen.«
»Mein Vater sagt, auf normaler Flughöhe ist ein Flugzeug der sicherste Ort, an dem man sich befinden kann.«
»Echt?« Sie sieht mich hoffnungsvoll an. »Stimmt das? Ist dein Vater Pilot?«
»Nein, er arbeitet bei einer Bank.«
Spontan bricht sie in Gelächter aus. »Tja, das überzeugt mich. Warum musstest du raus aus deinem Leben?«
»Lange Geschichte«, antworte ich. Ist es eigentlich gar nicht. Aber ich werde jetzt nicht versuchen, ihr das zu erklären. Ich weiß nicht mal, ob ich es könnte.
»Du bist aber keine Ausreißerin, oder?« Sie beäugt mich misstrauisch, womöglich auch besorgt.
»Nein.« Oder vielleicht doch? Ist man automatisch eine Ausreißerin, wenn man vor dem eigenen Leben davonrennt? Wahrscheinlich. »Es ist ein bisschen komplizierter.«
Ist ja nicht so, als wäre ich von jetzt auf gleich abgehauen. Ich habe mir noch beinahe einen kompletten Tag Zeit gelassen, nachdem ich beschlossen hatte, dass ich wegmuss. Währenddessen habe ich ein paar Nachforschungen angestellt, meine Reisedokumente zusammengesucht, meine elektronische Reiseerlaubnis beantragt (die zum Glück recht schnell bewilligt wurde) und mir ein Hostel in Vancouver gebucht. Das klingt nicht nach Kurzschlussentscheidung, oder? Fast vierundzwanzig Stunden, in denen ich mir die Sache hätte anders überlegen können. Aber das habe ich nicht.
Heute Morgen bin ich ganz normal zur Schule gegangen. Ich habe meine Ankunft absichtlich so getimt, dass der Unterricht längst begonnen hatte, damit ich nicht aus Versehen jemandem über den Weg lief, den ich nicht sehen wollte. Ich ging zum Büro des Oberstufenkoordinators und erklärte ihm, dass ich das College schmeißen würde. Er meinte, dass er darüber mit meinen Eltern sprechen müsste und dass sie mir Zeit geben würden, um meinen Entschluss zu überdenken, dass ich nichts überstürzen solle. Wir könnten uns ja alle nächste Woche noch mal zusammensetzen. Ich nickte bloß.
»Und warum brichst du ab?«, wollte Mr Kirby wissen.
»Das ist einfach nicht das Leben, das ich führen möchte.«
Die ganze Zeit über fragte ich mich nervös, ob Dad wohl eine Benachrichtigung darüber kriegen würde, dass ich mein Flugticket mit seiner Kreditkarte bezahlt hatte. Aber zum Glück für mich passierte nichts. Ich ging nach Hause, packte mein Skizzenbuch und meine kanadatauglichsten Reiseklamotten – Latzhose, Langarmshirts und einen Hoodie – in einen Reiserucksack und verließ das leere Haus so betont lässig, als würde ich nur schnell zum Supermarkt huschen und dabei zufällig meinen dicken Wintermantel über dem Arm tragen.
Um ehrlich zu sein, habe ich eigentlich nicht daran geglaubt, dass wirklich alles klappen und ich es tatsächlich ins Flugzeug und hoch in die Luft schaffen würde, ohne dass mich jemand aufhält.
Aber hier sitze ich nun. Und versuche, mir einen Reim auf alles zu machen. Wie ich hier gelandet bin, was genau meine Fehler waren. Bisher bin ich zu folgendem Schluss gekommen: Vielleicht war ich all die Jahre viel zu sehr auf andere Menschen fixiert. Ich dachte, das wäre der richtige Weg. Aber wir sehen ja, wohin er mich geführt hat. Nachdem ich meine gesamte Energie darauf verwendet habe, Freundschaften zu schließen, stehe ich am Ende komplett mit leeren Händen da. Sogar schlimmer als vorher, denn jetzt weiß ich, dass man ohne Freunde besser dran ist als mit schlechten. Und wer bitte will eine solche Lektion lernen? Ständig bin ich anderen Leuten hinterhergerannt, um mich selbst zu finden. Vielleicht muss ich einfach mal … na ja, ich sein. Herausfinden, wer ich eigentlich bin, ohne mir am laufenden Band Sorgen zu machen, ob das genug ist.
Und genau das werde ich in Kanada tun. Ich werde nicht einsam sein, sondern unabhängig. Ich werde einmal quer durchs Land reisen, auf eigene Faust, von einem Ende zum anderen. Es wird unglaublich. Und es wird mein Leben verändern.
Und wenn ich zurückkomme … hm, wer weiß, womöglich komme ich gar nicht zurück. Vielleicht werde ich zur Nomadin. Nur ich, ein Paar Wanderstiefel, mein Rucksack und mein Skizzenbuch. Ich werde einer von diesen Life Coaches, die superinspirierende Vorträge darüber halten, welche Kraft und welches Potenzial im Alleinsein liegen.
Das ist meine Chance, jemand anderes zu werden. Wie damals, als ich aufs College kam, nur besser. In einem völlig anderen Land kann ich zu einer völlig anderen Person werden. Wobei … nein, ich möchte nicht einfach irgendjemand anderes werden. Ich will versuchen, Peyton zu sein. Die richtige Peyton, die ich nie sein konnte. Was habe ich zu verlieren? Nichts. Es ist eh längst alles verloren.
Wenn man bedenkt, was alles schiefgehen könnte, bin ich erstaunlich ruhig, als wir die Passkontrolle erreichen. Bestimmt liegt es daran, dass ich schon alle möglichen Szenarien im Kopf durchgespielt habe. Im schlimmsten Fall setzen sie mich ins nächste Flugzeug nach Hause. Sollte es dazu kommen, wäre ich zwar mehr als enttäuscht und ziemlich am Boden, aber es wäre kein absoluter Weltuntergang. Auch wenn ich mich dann früher als erhofft den Konsequenzen meines Handelns stellen müsste, hätte ich das Ganze trotzdem durchgezogen. Außerdem würden meine Eltern mir dann vielleicht endlich zuhören und einsehen, dass es so nicht weitergeht.
Ich antworte dem Mann am Schalter also auf seine Frage, warum ich nach Kanada gekommen bin, mit der dreisten Lüge, die ich mir vorher zurechtgelegt habe, und erkläre ihm, dass mein über alles geliebter Großvater, der in Edmonton, Alberta, lebt, operiert wird und ich hergeflogen bin, um für ihn da zu sein. Diesen Großvater gibt es tatsächlich und er lebt auch in Alberta. Was das »über alles geliebt« angeht … nun ja. Dazu kann ich nur sagen: Ich habe diesen Mann in meinem ganzen Leben noch nie getroffen. Nach allem, was ich weiß, könnte das mit der OP sogar stimmen. Ich fühle mich dennoch kein bisschen schuldig, dass ich seine Existenz als Ausrede benutze; geschieht ihm ganz recht. Immerhin hat er meine Grandma, die ich wirklich über alles liebe, damals mit meinem Vater sitzen lassen. Im Moment kommt mir seine kanadische Staatsbürgerschaft zudem einfach sehr gelegen, für alle eventuellen Schwachstellen in meinem Plan. Warum sind Sie nach Vancouver geflogen, wenn er doch in Alberta wohnt? »Wir werden ein paar Tage in Vancouver verbringen, weil ich noch nie dort war. Und dann wollen wir mit dem Auto bis zu ihm nach Hause fahren, so als eine Art Roadtrip.« Was ist mit der Operation? »Der Termin ist erst nächste Woche. Und seine Fahrtüchtigkeit ist nicht eingeschränkt.« Ich habe auf alles eine Antwort, was mir normalerweise gar nicht ähnlich sieht. Ich mache sogar Witze über Ahornsirup und entschuldige mich gleich darauf, weil der Grenzbeamte – Barry – die sicher schon hundertmal gehört haben muss. Er verdreht die Augen und schüttelt den Kopf, aber während er den Stempel in meinen Pass drückt, umspielt ein kleines Lächeln seinen Mund. Und auf meinem Gesicht breitet sich ein großes aus.
Auch wenn ich Barry erzählt habe, Grandad würde mich am Flughafen abholen, wartet in der Ankunftshalle natürlich niemand auf mich. Trotzdem kann ich nicht anders: Wie die meisten Ankommenden verrenke ich mir den Hals und mustere alle Menschen hinter dem Ausgang genau, als würde mich überraschend doch jemand in Empfang nehmen.
In meinem Fall ist dem zum Glück nicht so. Ich habe es geschafft. Ich bin in Kanada! Ich suche mir eine Stuhlreihe im Wartebereich vor einem Info-Schalter, setze mich und atme tief durch. Wahrscheinlich ist jetzt ein guter Zeitpunkt für eine kleine Bestandsaufnahme. Es ist kurz nach 20 Uhr hier, was bedeutet … wie spät ist es zu Hause? Ich schaue hoch und bemerke eine Anzeigetafel mit Uhrzeiten auf der ganzen Welt. London, 04:09. Ich habe meinen Eltern zwar versprochen, sie sofort anzurufen, sobald ich gelandet bin, aber bestimmt schlafen sie gerade. Ich wähle mich ins Flughafen-WLAN ein und sehe zu, wie mein Handydisplay von Nachrichten überschwemmt wird.
Meine Eltern haben beide jeweils auf meine E-Mail geantwortet und mir außerdem WhatsApp-Nachrichten geschickt, die im Grunde dasselbe meinen:
Dad:
WIE BITTE???
Mum:
PEYTON!!!
Die Texte danach sind schon etwas aussagekräftiger. Ich kann quasi in Echtzeit nachverfolgen, wie meine Eltern begreifen, dass ich wirklich im Flugzeug sitze und dass es bereits abgehoben hat. Sie schreiben mir, ich solle auf der Stelle heimkommen. Sie erinnern mich daran, dass ich erst siebzehn bin, dass ich zur Schule muss, dass ich nicht einfach so abhauen kann. Ich scrolle durch die Nachrichten, die mich vermutlich nervös machen sollten, aber ich bin merkwürdig ruhig. Allmählich ebbt die Textflut ab. Die letzte Aufforderung lautet, sie anzurufen, und zwar SOBALD DU DURCH DEN SICHERHEITSCHECK DURCH BIST, VÖLLIG EGAL, WIE SPÄT ES DANN IST!, denn sie würden WACH BLEIBEN UND DARAUF WARTEN. Außerdem wollten sie meinen Flug online nachverfolgen, sodass sie GENAUESTENS informiert wären, wann die Maschine landet, und sollte ich mich nicht SOFORT MELDEN, würden sie DIE MOUNTIES AUF mich ANSETZEN!
Mounties? Ich schaue das Wort nach. Kanadische Polizisten. Ich verdrehe die Augen und entspanne mich ein bisschen. Denn ich weiß jetzt, dass – einmal abgesehen von den ganzen Großbuchstaben und Ausrufezeichen – alles in Ordnung ist. Sie haben nicht das getan, was ich befürchtet hatte, nämlich die Flughafenpolizei zu informieren und sie anzuweisen, mich in den nächstbesten Flug zurück nach England zu stecken. Ich habe also wirklich eine Chance. Irgendetwas in ihnen hat – wenn auch nur unterbewusst – beschlossen, mir diese Chance zu geben.
Ich hole tief Luft und rufe an.
»Peyton!« Nach gefühlt nicht mal einem Klingeln geht Mum atemlos ans Telefon.
»Hi.«
»Du …«, setzt sie an, dann hält sie inne. »Wir … ich kann nicht fassen, dass du –«
»Es tut mir leid.«
»Wie konntest du uns das antun? Und warum?«
»Das habe ich doch erklärt. In der E-Mail.«
»Aber du kannst nicht einfach sang- und klanglos verschwinden, Peyton. Ich weiß, du denkst wahrscheinlich anders darüber, aber das geht so nicht. Du musst nach Hause kommen. Was ist mit deinem Unterricht?«
»Ich habe die Schule abgebrochen«, erwidere ich.
»Du hast was?« Sie hört sich an, als wäre sie kurz vor einer Ohnmacht.
»Ich gehe nicht mehr hin«, bekräftige ich.
»Du kannst nicht einfach alles hinschmeißen, Peyton. Du musst zur Schule gehen, das ist gesetzlich vorgeschrieben.«
»Nicht, wenn ich einen Job oder einen Ausbildungsplatz habe. Und ich habe Mr Kirby erzählt, ich hätte einen Job.«
»Peyton!« Jetzt klingt sie verzweifelt und schrill. »Du kannst nicht … Das ist keine …« Sie stockt und ich lausche einer gedämpften Diskussion durch die Leitung. Protest, etwas, das sich anhört wie ein lang gezogener Seufzer, und dann ist mein Dad am Hörer. Seine Stimme ist so scharf, dass sie mich fast durchs Telefon hindurch schneidet.
»Peyton«, bellt er. »Das ist vollkommen lächerlich. Du kannst deine Ausbildung nicht abbrechen. Das steht nicht zur Debatte.«
»Zu spät, ich habe sie bereits abgebrochen.« Früher hätte mich Dads Tonfall in Panik versetzt, aber im Augenblick bin ich gefasst. Was soll er denn vom anderen Ende der Welt aus unternehmen?
»Es ist überhaupt nicht zu spät. Ich werde in der Schule anrufen und die Sache regeln.«
»Das kannst du ruhig tun«, sage ich. »Aber ich komme trotzdem nicht nach Hause. Und dann hast du dir umsonst nur noch mehr Stress damit gemacht. Außerdem werden die Eltern für den Verstoß gegen die Schulpflicht belangt, nicht die Kinder. Falls du dir also ein Bußgeld einfangen willst, wenn du mich wieder anmeldest und ich nicht komme, nur zu. Aber sag nicht, ich hätte dich nicht gewarnt.«
»Peyton!«
»Ich bin siebzehn. Und die Ausbildung auf dem Wirtschaftscollege ist nicht das, was ich will. Ich bin so unglücklich. So scheißeunglücklich.« Ich merke, wie meine Stimme bricht, spüre die Tränen in mir aufsteigen. »Und ihr wusstet das, jahrelang, und habt nichts unternommen. Stattdessen habt ihr mich gezwungen, auf diese Schule zu gehen, obwohl völlig klar war, dass das nichts für mich ist. Wirtschaftsrecht interessiert mich einfach nicht. Ich will Illustratorin werden!«
»Also darum geht es hier?« In seinen Ton mischen sich Ungläubigkeit und Gereiztheit. »Wir haben dich nie davon abgehalten zu zeichnen. Du malst ständig. Du probst hier diesen lächerlichen – und gefährlichen – Aufstand, nur weil wir dir geholfen haben, die richtige Entscheidung für deine Zukunft zu treffen?«
»Nein, Dad!« Auch ich werde jetzt lauter, übermannt von meinen Gefühlen, so wie er. »Ich mache das, weil ich muss. Wo warst du die letzten sechs Jahre? Siehst du nicht, was los ist? Ich habe keine Freunde. Niemanden. Ich bin ein Niemand. Und ich will kein Niemand sein, Daddy.« Das »Daddy« rutscht mir so raus und verrät mich. Aber er soll wissen, wie ich mich fühle, wie mein Leben aussieht. Es steht so viel auf dem Spiel.
Leise sagt er: »Du bist kein Niemand.«
»So fühlt es sich aber an.«
»Peyton. Wenn das eine Art Zusammenbruch ist, dann –«
»Ist es nicht.« (Oder? Vielleicht ja doch.) »Es ist einfach das, was ich gerade tun muss.«
»Ganz abgesehen davon«, fährt er fort, als wäre ein Zusammenbruch etwas, wovon man mal eben absehen könnte, »kannst du nicht so mir nichts, dir nichts wegfliegen. Wir müssen wissen, wo du bist.«
»Ihr wisst genau, wo ich bin. Ich bin hier.«
»Mit meiner Kreditkarte, nehme ich an?«
Ich schlucke. »Nur für Notfälle. Ich habe meine Ersparnisse.« Endlich zahlen sich all die Jahre aus, in denen ich keine Freunde hatte, mit denen ich Geld hätte ausgeben können. Ich habe eine ordentliche Summe gespart. Natürlich wird es nicht ewig reichen, vermutlich nicht einmal besonders lange, aber für den Moment ist es genug. Für das hier.
»Ich lasse die Karte sperren. Ich buche einen Flug für dich und dann lasse ich sie sperren, damit du sie nicht mehr für diesen Unfug benutzen kannst.«
»Wie du meinst. Ich werde zwar nicht in dieses Flugzeug steigen, aber okay.«
Es herrscht Stille, diesmal länger. Ich kann Dads Atem hören, regelmäßige Schnaufer durch die Nase. Und mich überkommt eine Erkenntnis: Wenn man etwas so Extremes und Abwegiges tut, etwas, das alle Grenzen des Akzeptablen sprengt, dann nimmt man den anderen den Wind aus den Segeln. Ich habe meine Eltern so dermaßen überrumpelt, dass sie nicht mehr weiterwissen.
»Peyton«, sagt Dad schließlich, als könnte er mich irgendwie über die Tausenden von Meilen Distanz erreichen, indem er meinen Namen wiederholt. »Nimm einen Flug und komm nach Hause. Sofort.«
Ist das alles? Mehr hat er nicht zu bieten? Ich bin überrascht und vielleicht sogar ein bisschen enttäuscht. Das ist also sein letzter Schachzug? Mein ganzes bisheriges Leben habe ich, wie wohl die meisten Kinder, in dem Glauben verbracht, dass meine Eltern die ultimative Macht über mich haben, dass ich mich niemals auf langfristige, wirkungsvolle Weise gegen sie behaupten könnte. Und jetzt sitze ich hier, die Füße auf dem Boden eines völlig fremden Landes am anderen Ende der Welt, und was können sie dagegen unternehmen? Nichts. Sie können mich weder mit reiner Willenskraft zurückwünschen noch sich herbeamen und mich persönlich in ein Flugzeug zerren. Selbst die Drohung, dass Dad seine Karte sperren lässt, wird er nicht wahr machen. Das wird mir in diesem Moment klar. Denn wenn er das täte und ich trotzdem nicht heimkäme, würde das bedeuten, dass ich mich ohne Geld in der Weltgeschichte zurechtfinden müsste, was mich in gefährliche Situationen bringen könnte. Und egal, wie wütend mein Vater ist, egal, wie sehr ich seinen Stolz verletzt haben mag, weiß ich doch, dass ihm nichts wichtiger ist als meine Sicherheit. Er würde niemals ein solches Risiko eingehen.
Das heißt, ich bin frei.
»Ich hab euch lieb«, sage ich. »Euch beide. Ich werde euch jeden Tag schreiben, wenn ihr wollt. Aber ich werde nicht nach Hause kommen, jedenfalls erst mal nicht.«
Unser Gespräch dreht sich noch eine Weile im Kreis – Dad wird wütender, ich bleibe ruhig – bis Mum wieder übernimmt. Ihr schriller Tonfall ist verschwunden und ihre praktische Seite hat die Oberhand gewonnen. Sie fragt mich, wo genau ich übernachten werde, verlangt Adresse und Telefonnummer und will alle meine Pläne wissen.
»Ich passe schon auf mich auf«, versichere ich ihr, als ihr keine Fragen mehr einfallen. »Du kannst mir vertrauen.«
»Nein, das kann ich ganz offensichtlich nicht.«
Nachdem wir aufgelegt haben, fange ich an zu weinen. Fast mehr aus körperlichen Gründen als aus emotionalen. Der ganze Stress der letzten vierundzwanzig Stunden – vielleicht sogar länger – fließt aus mir hinaus. Wäre das hier England, würden mich die Leute höflich ignorieren, aber wir sind in Kanada und deshalb fragen mich vier verschiedene Menschen taktvoll und leise, ob alles in Ordnung sei und ob sie irgendetwas tun könnten. Allen erkläre ich stammelnd, ja, alles in Ordnung, nein, ich brauche nichts, und nein, sie müssen niemanden anrufen, ja, es geht mir wirklich gut, danke. Ich glaube, bisher habe ich dieses »Kanadier-sind-superfreundlich«-Ding für ein Klischee gehalten. Aber wie sich herausstellt, ist es wahr. Zumindest hier am Flughafen in Vancouver.
Ich sollte mich auf den Weg machen, ein Uber mieten und mich zum Hostel bringen lassen, aber allein beim Gedanken daran werden meine Knie weich. Mein ganzes Selbstbewusstsein hat sich in Luft aufgelöst und mir wird schlagartig bewusst, wie weit ich von zu Hause weg bin, wie unenglisch dieses Land ist – und dabei habe ich noch nicht mal den Flughafen verlassen. Ich schätze, ich habe mir Kanada irgendwie vorgestellt wie England, nur woanders, und bin jetzt schon völlig erschlagen davon, dass ich damit so danebenlag. O Gott, ich bin in Kanada! Ich sitze auf einer Bank am anderen Ende der Welt. Dem falschen Ende. Was zur Hölle habe ich mir dabei gedacht?
Ich versuche, tief durchzuatmen. Alles okay, ich schaff das. Ich entsperre mein Handy und starre auf die Uhrzeit, die falsche Uhrzeit – die britische. In den Einstellungen ändere ich die Zeitzone, damit ich mich nun auch offiziell in der Pacific Standard Time, UTC-8, bewege. Siehst du, rede ich mir gut zu, du bist hier. Du kriegst das hin. Ich stehe auf, schwinge mir den Rucksack über die Schulter. Immer schön einen Schritt nach dem anderen.
Das Hostel habe ich mir unter anderem deshalb ausgesucht, weil es das einzige war, das so spontan noch einen Platz im Mehrbettzimmer frei hatte und gleichzeitig gemütlich aussah. Vor allem aber lassen sie hier auch Minderjährige übernachten. Es gehört zu einer nordamerikanischen Kette namens Sunshine-Hostels, oder Sun-Ho. In Vancouver wird es »Sun-Ho-Van« genannt und wirkt selbst in der Dunkelheit hell und freundlich, als ich ankomme.
Das Mädchen an der Rezeption trägt einen Sidecut und hat zahlreiche Piercings in Ohren und Nase. Auf ihrem Namensschild steht: AMELIA – NEUSEELAND. Sie begrüßt mich fröhlich, prüft meine Unterlagen und checkt mich ein. Dabei rattert sie die Hausregeln und Angebote des Hostels so schnell herunter, dass ich kaum etwas mitbekomme. Bei dem Wort »Gruppenaktivitäten« horche ich auf, aber da ist sie schon beim Frühstück, was wichtiger zu sein scheint, also hake ich nicht nach.
Auf dem Tresen steht ein großer Bilderrahmen mit dem Foto einer Schildpattkatze darin. Eine Papp-Sprechblase verkündet: Ich bin Teapot. Herzlich willkommen in Vancouver! Und ja, ich wurde schon gefüttert, danke! Ich muss grinsen.
»Das ist unsere Hostelkatze.« Amelia deutet mit dem Kopf auf das Bild und schiebt mir die Papiere und meinen Schlüssel über die Theke. »Meistens streift sie im Aufenthaltsraum oder hier im Empfangsbereich umher. Da, wo sie die meiste Aufmerksamkeit bekommt. Du kannst sie gern knuddeln, wenn dich das Heimweh packt. Oder wenn du einfach Katzenfan bist. Wir würden dich nur bitten, sie nicht zu füttern. Sie ist ziemlich gut genährt, vertrau mir.«
Das Zimmer ist größer als gedacht, mit zwei Stockbetten an jeder Seite und vier Schließfächern an der Wand. Als ich es betrete, ist niemand sonst darin, drei der Betten sind allerdings erkennbar belegt. Das links oben ist frei, also klettere ich hoch, nehme meinen Rucksack ab und schaue mich um. Zum bestimmt fünfzigsten Mal, seit ich gelandet bin, denke ich: Ich habe es geschafft. Aber es fühlt sich noch immer unwirklich an.
Eine Weile sitze ich einfach nur da und starre vor mich hin. Es ist nach zehn Uhr an einem Montagabend, was bedeutet, ich werde das Zimmer wahrscheinlich nicht mehr sehr lang für mich allein haben. Aber ich bringe es heute Abend nicht mehr fertig, mich mit jemandem zu unterhalten. Wie kann es immer noch Montag sein? Das hier ist vermutlich der längste Tag meines Lebens. Heute Morgen bin ich in meinem eigenen Bett aufgewacht. Und jetzt hocke ich auf der anderen Seite der Welt auf einem fremden Hochbett in einem kanadischen Hostel.
Ich ziehe mein Smartphone hervor und schreibe Mum auf WhatsApp.
Ich:
Bin gut im Hostel angekommen und gehe jetzt direkt schlafen. Ich hab dich lieb!
Sie antwortet sofort, obwohl es zu Hause gerade – ich rechne schnell nach – kurz nach sechs Uhr morgens ist.
Mum:
Ich hab dich auch lieb. Meld dich noch mal, wenn du wach bist.
Ich:
Alles klar! Und mach dir keine Sorgen.
Mum:
Ich bin deine Mutter, natürlich mache ich mir Sorgen.
Ich:
Bitte jagt mir nicht die Polizei auf den Hals, okay?
Mum:
Solange du dich regelmäßig meldest und mir deine Reisepläne schickst und ich sicher sein kann, dass es dir gut geht.
Ich:
Wie kommt Dad damit klar?
Mum:
Er wird sich schon beruhigen. So, und jetzt ab ins Bett mit dir und ruh dich aus, mein Spatz.
Ich:
Auch wenn ich gern so tun würde, als wäre ich weniger emotional, heule ich sofort wieder los, weil ich einfach so müde und überwältigt bin. Und dann, als ich mich endlich so weit zusammengerissen habe, dass ich mein Zeug für den Waschraum zusammensuchen kann, stelle ich fest, dass ich vergessen habe, einen Schlafanzug einzupacken. Anfängerfehler, Peyton. Richtiger Anfängerfehler. Ich werde also heute Nacht in meinen Klamotten schlafen müssen. Und an ein Handtuch habe ich auch nicht gedacht. Ich muss wohl oder übel zurück zur Rezeption und mir für einen kanadischen Dollar eins leihen.
Amelia hat immer noch Dienst und mustert mich. Vor allem meine roten, verquollenen Augen. »Alles okay?«, fragt sie und reicht mir ein etwas verschlissenes orangefarbenes Frottiertuch.
Ich nehme es entgegen. »Ja, danke.« Dann drehe ich mich um und stapfe schnell davon, ehe sie mit ihrer mitfühlenden Kiwi-Stimme weitere Fragen stellen kann.
»Die Rezeption ist vierundzwanzig Stunden besetzt«, ruft sie mir hinterher. »Es ist immer jemand da, falls du irgendetwas brauchst.«
Ich werfe nur einen Blick über die Schulter, lächele und nicke. Zu riskant, den Mund aufzumachen, denn wahrscheinlich würde ich direkt losflennen. Ich flitze die Treppe hoch, finde die Waschräume und schließe mich in einer der etwa kleiderschrankgroßen Kabinen ein, in der sich eine Dusche, eine Toilette und ein Waschbecken befinden.
Unter dem Wasserstrahl – zwar heiß, aber eher tröpfelnd – wiederhole ich meine neuen Minimantras: Unabhängigkeit statt Einsamkeit. Ich habe es mir ausgesucht, hier zu sein. Ich will hier sein. Und ich erinnere mich daran, dass ich jederzeit nach Hause fliegen kann, wenn ich möchte. Ich habe mich und mein Leben unter Kontrolle.
Als ich endlich unter die Decke schlüpfe, bin ich zu müde, um noch irgendetwas zu empfinden. Ich rolle mich zusammen, schmiege das Gesicht in die Armbeuge und warte darauf, dass mich der Schlaf übermannt. Bloß tut er das nicht. Da liege ich nun mit klopfendem Herzen in der Dunkelheit und spüre die Kanadahaftigkeit Kanadas überall um mich herum. Noch immer fühlt sich alles so unwirklich an, selbst die raschelnde Bettwäsche und die Matratze, die unter meinem Gewicht nachgibt. Ich bin hier, das passiert wirklich. Morgen geht das Abenteuer richtig los. Ich werde auf Erkundungstour gehen, ganz die unerschrockene Entdeckerin, die ich zu sein beschlossen habe. Morgen beginnt etwas Neues. Und diesmal werde ich finden, wonach ich suche.
Das hast du letztes Mal auch schon gedacht.
Halt. Stopp. Nicht. Das hier ist was völlig anderes. Ich kann aus den Fehlern lernen, die ich damals gemacht habe, und werde sie nicht wiederholen. Vielleicht muss ich sogar nur einen einzigen Fehler vermeiden. Und zwar: Freundschaften schließen um jeden Preis. So ein offensichtlich bescheuerter Gedanke, aber ich habe ihn damals nicht nur gedacht, ich habe an ihn geglaubt. Und alles darangesetzt, um mein Ziel zu erreichen.
Wie gern würde ich in die Vergangenheit reisen, mich selbst an den Schultern packen und ordentlich schütteln. Ich will mir sagen: Nein, so nicht. Du machst alles falsch. Nicht er. Nicht die. Ich sehe den Weg, den ich gegangen bin, so klar vor mir. Ein Weg, der mich irgendwie hierhergeführt hat, in dieses dunkle Zimmer, auf dieses Hochbett, eine halbe Weltreise weit weg.