Читать книгу Das Mikrobiom-Komplott - Sarah Schwitalla - Страница 10
Zu viel und zu schnell
ОглавлениеIn diesem Moment hungern eine Milliarde Menschen, weil sie zu wenig zu essen haben. Gleichzeitig sind mehr als doppelt so viele übergewichtig, weil sie zu viel vom Falschen essen.26 Millionen verbringen viele Jahre ihres Lebens chronisch krank, weil sie zu wenig Gesundes zu essen haben.
In unserem aktuellen Lebensmittelsystem läuft also etwas gewaltig schief. Um zu verstehen, wer für diese Schieflage maßgeblich verantwortlich ist, ist die Frage zu klären: Wer regiert eigentlich das Lebensmittelsystem und wie kam er an die Macht?
Unser heutiges globales Lebensmittelsystem hatte seine Geburtsstunde zum Ende des Zweiten Weltkriegs.
Die Wohlstandsmentalität in der wachsenden Bevölkerung der Nachkriegszeit und die Urbanisierung gaben den Anstoß für eine aggressive globale Agenda zur Überproduktion von Lebensmitteln.
Alle wollten und sollten endlich Essen im Überfluss haben. Schnell, jederzeit und an jeder Ecke der Welt zugänglich. Es war die größte Ernährungsumstellung der Menschheit, eine Umstellung auf Lebensmittel, wie sie die Welt vorher nicht gekannt hatte. Dabei ging es nichtso sehr um Gesundheit, als vielmehr darum, alles schnell, günstig, reichhaltig und profitabel in rauen Mengen herzustellen.
Einer der Schirmherren und Urheber dieser in den USA gestarteten Massenproduktion war die einflussreiche Industriellen-Familie Rockefeller mit ihrer gleichnamigen Stiftung. Die Rockefellers erkannten Jahre später selbst den gesundheitlichen Kollateralschaden, den die Industrialisierung von Lebensmitteln verursacht hat. Sie gaben 2021 schriftlich zu, dass es ihnen damals maßgeblich um Profit ging: »Schlechte Ernährung – getrieben von vielen Faktoren, einschließlich der gezielten Vermarktung von ungesunden Lebensmitteln – ist heute die Hauptursache für die schlechte Gesundheit. Der Überfluss an billigen und leeren Kalorien in der amerikanischen Ernährung wurzelt in vielen, lange zurückliegenden Kampagnen, welche einst die Unterernährung in den USA und im Ausland bekämpfen sollten. Die daraus resultierende Etablierung des Nahrungsmittelsystems ermöglichte die Produktion großer Mengen bestimmter Nahrungsmittel mit enormer wirtschaftlicher Effizienz. Diese Konsolidierung war verbunden mit einer Betonung auf Kostensenkungen und kurzfristiger Gewinnmaximierung.«27
Wie schnell sich die Welt an den neuen Standard »schnell, viel, günstig, reichhaltig« gewöhnt hat, zeigt eine dänische Studie beispielhaft anhand eines beliebten dänischen Kochbuchs. Im Laufe der Jahre haben sich die Portionsgrößen und die Kalorienangaben der Gerichte um bis zu 77 Prozent erhöht.28
Eine Metaanalyse diverser Studien bestätigt diesen Supersize-Effekt der Portionen auch in anderen Ländern, wie beispielsweise in den USA, in den Niederlanden oder in England.29 Aber wer einmal in den USA war und bei Starbucks einen »Chocolate Coffee Crunch Caramel Frappuccino« in der Größe »trenta« (916 ml) bestellt oder eine Gallone Eistee (3,8 l) im Vorbeigehen für einen Dollar erworben hat, braucht für diese Erkenntnis keine Studie zu lesen. »Mit 916 ml ist die Trenta sogar größer als das durchschnittliche Fassungsvermögen des menschlichen Magens bei Erwachsenen (900 ml)«, schrieb die Huffington Post nach der Neueinführung der stolzen Getränkegröße, mit der Starbucks sich sogar selbst noch übertraf.30
Zu diesem Mehr auf dem Teller und im Magen gesellten sich zwei neue Trends hinzu: Essen sollte plötzlich schnell und überall verfügbar sein. Fast Food, To Go, Take Away und Tiefkühlkost begannen zu boomen.
Ein Bericht der Unternehmensberatung McKinsey von Ende 2018 bestätigt den sich immer weiter verstärkenden Trend zum bequemen Essen: »Die Menschen sind weniger geneigt zu kochen. Fast die Hälfte der Millennials, der Generation ab Jahrgang 1980, in den USA gibt an, dass sie selten Mahlzeiten zu Hause zubereiten. Sowohl in Europa als auch in den USA wächst der Food-Service schneller als der Verzehr von Lebensmitteln zu Hause; auf dem US-Markt übersteigt der Food-Service-Umsatz bereits den Food-at-Home-Umsatz.«31
Diese Situation gilt längst nicht mehr nur in den USA, sondern hat auch in Europa Einzug gehalten. Doch so angenehm und bequem ein Stück Pizza hier, ein Döner dort, eine Box mit asiatischen Nudeln oder ein süßer Plunder für unterwegs sind, umso höher ist die Quittung danach. Die erste Anzahlung wird unmittelbar an der Kasse fällig, aber der Löwenanteil kommt erst einige Jahre später – mit der Arztrechnung.
Das Risiko, früher an chronischen Krankheiten wie Herz-Kreislauf- oder Krebserkrankungen zu sterben, ist bei Menschen, die täglich außer Haus essen, bis zu siebzig Prozent höher als bei jenen, die sich das höchstens einmal pro Woche gönnen. Das zeigt eine Studie, die Ernährungswissenschaftler Mitte 2021 veröffentlichten.32
Die Experten führen dies darauf zurück, dass Mahlzeiten außer Haus tendenziell mehr Kalorien, Fett und Salz enthalten, aber weniger Obst, Gemüse und Vollkornprodukte mit schützenden Nährstoffen wie Ballaststoffen und Antioxidantien. Deshalb plädieren sie dafür, dass Ernährungsrichtlinien dringend empfehlen sollten, den Konsum von außer Haus zubereiteten Mahlzeiten zu reduzieren.
»Die Botschaft lautet, dass der häufige Verzehr von außer Haus zubereiteten Mahlzeiten möglicherweise keine gesunde Gewohnheit ist. Stattdessen sollten die Menschen ermutigt werden, mehr Mahlzeiten zu Hause zuzubereiten«, so Dr. Bao, einer der Autoren der Studie.33
Höhere Einkommen und Wohlstand prägen einen neuen Lebensstil, ein neues Wertesystem und damit auch eine neue gesellschaftliche Definition dessen, was überhaupt als hochwertiges Lebensmittel gilt. Auf unseren Tellern haben schon lange Fleisch und Eier mehr Platz anstelle von Gemüse, Bohnen und Nüssen. Wir essen häufiger weißen Reis und Pommes anstatt Vollkorn-Naturreis oder Hirse. Es gibt mehr Croissants und Kaiserbrötchen als Brot aus vollem Korn. In den Gläsern sprudeln eher Eistee und Fruchtsaftkonzentrat als Wasser. Gesüßte Smoothies sind bequemer als frisches Obst. Und bei vielen gibt es lieber »was vom Chinesen« als selbst gekochtes Essen.
Vermeintlich minderwertigere Nahrungsmittel wie Wurzelgemüse, Kartoffeln, Kohl, Hülsenfrüchte oder volles Getreide wurden auf unserem Esstisch seit den 1960er-Jahren stark verdrängt von den vermeintlich »höherwertigen« Produkten wie Fleisch, Eier, Milchprodukte und Öl.34
Wir ersetzen vitamin- und ballaststoffreiche sowie kalorienärmere Lebensmittel auf unseren Tellern gegen Fett, industrielle Produkte und tierisches Eiweiß – frei von Ballaststoffen, Antioxidantien und pflanzlichen Strukturen. Ein Mehr an Kalorien, mit dem nicht einmal das Bevölkerungswachstum mithalten kann. Der Lebensmittelkonsum ist stärker gewachsen als die Weltbevölkerung, das zeigt ein Bericht der Europäischen Kommission von 2019.
Auch in den Schwellenländern essen die Menschen mehr Fleisch- und Milchprodukte. In der EU essen die Menschen zwar mittlerweile weniger rotes Fleisch, doch stattdessen haben sich die Europäer zu den größten Schweinefleischliebhabern gemausert und thronen gemeinsam mit den Amerikanern auf den ersten Plätzen im Hühnchen-Wettessen.35
Auch wenn viele Menschen gerade in Zeiten der Pandemie und der Klimaunsicherheit bewusster essen wollen, lieben die meisten nach wie vor ihr Fleisch. Man hat sich lediglich von einer Fleischsorte auf die nächste verlagert.
In Deutschland werden pro Kopf durchschnittlich siebzig Kilogramm Fleisch im Jahr gegessen, täglich durchschnittlich fast 200 Gramm.36 Die Empfehlung der Deutschen Gesellschaft für Ernährung (DGE) liegt bei 300 Gramm für einen Erwachsenen. Pro Woche.
Die Deutschen scheinen »wöchentlich« und »täglich« jedoch nicht nur beim Fleisch zu verwechseln. Sie essen auch lieber täglich Eier als Obst und Gemüse.37
Die offizielle Empfehlung der DGE, sowie auch der wissenschaftliche Konsens weltweit, lautet: umgekehrt. Damit liegen die deutschen Bundesbürger im Trend. In der gesamten EU erreichen nur 14 Prozent aller Menschen die empfohlenen »fünf am Tag« Portionen Obst und Gemüse. Mehr als jeder dritte von uns schafft nicht einmal eine Portion täglich.38
Es ist eine verkehrte Welt. Das nährstofftechnisch Höherwertige ist heutzutage minderwertig und umgekehrt. Wissenschaftler und die UN sehen diesen Mentalitätswandel mit Besorgnis: »Wenn Menschen von der einfachen Ernährung ländlicher Kulturen zur komplexen Ernährung städtischer Kulturen übergehen, also von einer fett- und eiweißarmen zu einer fett- und eiweißreichen Ernährung, steigen die Raten von Herzerkrankungen, Diabetes, Fettleibigkeit und Krebs.«39,40
Die Nachfrage nach der neuen Form von Kalorien und nach tierischen Nahrungsmitteln wächst unverhältnismäßig schneller als der tatsächliche Bedarf der Menschen. Die Folgen sind bereits seit den 1970er-Jahren weltweit sichtbar und werden jedes Jahr offensichtlicher: Immer mehr Menschen leiden an chronischen Krankheiten. Wir sind auch dicker geworden. Der globale durchschnittliche Body-Mass-Index (BMI), der bisher als einziger Standard zur Messung eines gesunden Körpergewichts gilt, ist seit den 1960er-Jahren in nahezu allen westlichen Ländern um drei Punkte gestiegen.
Um ungefähr 15 bis zwanzig Jahre zeitversetzt lässt sich das Phänomen des wachsenden Bauchumfangs auch in China und Afrika beobachten. Die größeren Kleidergrößen stehen in einem Zusammenhang mit dem Anteil an industriell produzierten Lebensmitteln in der täglichen Ernährung, wie Wissenschaftler in Bevölkerungsstudien analysiert haben.41,42
Der neue weltweite BMI-Durchschnitt liegt derzeit bei 24, ab einem BMI von 25 gilt ein Mensch als übergewichtig.42,43
In den USA sind aktuell bereits 71 Prozent der jungen Erwachsenen zwischen 19 und 24 Jahren zu dick für den Militärdienst.27 Eine Studie des deutschen Robert Koch Instituts aus dem Jahr 2017 gibt an, dass fast jede dritte Frau und jeder zweite Mann in Deutschland übergewichtig bis fettleibig ist.44 Und jedes siebte Kind.
Übergewicht ist nicht nur eine sehr sichtbare Konsequenz der seit sechzig Jahren voranschreitenden Ernährungsumstellung, es ist leider auch ein Risikofaktor für chronische Krankheiten wie Typ-2-Diabetes, Herz-Kreislauf-Erkrankungen oder Darmkrebs.
Englischsprachige Wissenschaftler nennen die Epidemie an Übergewicht und chronischer Krankheit »Globesity«, es ist die Globalisierung von Obesity, von starkem Übergewicht.
Die Wissenschaftler kritisieren, dass dafür neue Essgewohnheiten und minderwertige Nahrung verantwortlich sind, die von der Industrie angeleitet und von der Politik begleitet wurden. Schuld seien unreguliertes Marketing, Lebensmittelsubventionen und ein Lebensmittelindustriekomplex, der dickmachende Lebensmittel produziert, die süchtig machen können.45
Der gesellschaftliche Sinnes- und Lebensstilwandel geht heute weiter, und seit kurzer Zeit stehen wir an der Schwelle zu einer nächsten Stufe der globalen Ernährungsumstellung angesichts von Umweltproblemen und einer weiterhin wachsenden Weltbevölkerung. Viele Menschen wollen bewusster und nachhaltiger konsumieren.
Begleitet werden sie dabei mehr denn je von den mächtigen Lebensmittelindustrien, die nun einmal mehr die Strippen hinter den Kulissen ziehen können, wie wir im Laufe des Buches erfahren werden. Die kommende Agenda lautet: Nahrungsmittel 4.0. Auf der Speisekarte der Industrieküche stehen vegane Würste, Fleischersatz-Burger mit dreißig Zusatzstoffen, Zellkulturfleisch oder genetisch modifizierte, klimaresiliente Ernten.
Die neue Ära der weltweiten Ernährungsumstellung verspricht für die Industrien profitabler denn je zu werden. Ob diese neue Stufe der Industrieprodukte die größte gesundheitliche Bedrohung der Menschen, die Epidemie chronischer Krankheiten, lösen wird?
Wie gesund und wie nachhaltig sind diese Lebensmittel wirklich? Auch mit diesen Fragen beschäftigen wir uns intensiver im zweiten Teil meines Buches.
Unsere heutige Art der Ernährung bringt derzeit mehr Menschen früher ins Grab als alles andere auf der Welt. Es geht jedoch nicht nur darum, dass wir zu viel essen oder uns heute deutlich weniger bewegen als noch vor sechzig Jahren. Schuld ist vor allem das, was wir essen. Und was wir nicht essen. Es ist die Verlagerung des Schwerpunkts der Zusammensetzung unserer täglichen Mahlzeiten vom Natürlichen zum Unnatürlichen, vom Pflanzlichen zum Tierischen, was unsere heutige Ernährung zum Pulverfass macht.
Diese Kombination macht uns krank und die Industrien reich. Chronische Krankheiten wie Krebs oder Herz-Kreislauf-Erkrankungen beginnen unsichtbar für unser Auge auf der molekularen, biochemischen Ebene. Sie beginnen viele Jahre, bevor wir die ersten Anzeichen spüren.
Das Gute ist, dass wir mit ganz einfachen Mitteln vorbeugen können. Wir können uns jeden Tag erneut für unsere Gesundheit entscheiden.
Doch die ersten Opfer der industriellen Ernährung sind nicht nur unsere menschlichen Zellen. Die meisten Zellen in unserem Körper sind tatsächlich gar nicht menschlich. Mehr als die Hälfte unseres Körpers besteht aus Mikroben: Bakterien, Viren, Pilzen und ein paar anderen. Lange Zeit blieben sie in der Wissenschaft unbeachtet. Lange Zeit haben wir selbst eine unserer Körperhälften ignoriert oder sogar missachtet. Dabei spielen Mikroben eine Schlüsselposition in unserem Spiel des Lebens. Diese Erkenntnis der letzten Jahre hat eingeschlagen. In der Forschung genießen unsere kleinen Mitbewohner derzeit höchste Aufmerksamkeit. So unsichtbar sie für unser menschliches Auge auch sind, umso bedeutender sind sie für uns – in Gesundheit wie in Krankheit.
Unser Mikrobiom war bisher ein stilles Opfer der globalen Ernährungsumstellung, bis die Wissenschaft erkannte, dass das Mikrobiom selbst zum Mittäter geworden ist.
Selbst wenn wir uns im Spiegel über Bauchspeck ärgern: Unsere mikrobielle Körperhälfte ist dabei geradezu ausgemergelt. Global und bei den meisten von uns.
Denn Mikroben sind hungrig. Sie wollen immer essen. Aber ihre Lieblingsspeise ist weder argentinisches Steak noch Eiscreme, ist weder Tiefkühlpizza noch Toastbrot mit Nutella. Sie haben Hunger auf etwas ganz anderes. Wenn sie nichts zu essen bekommen, verhungern sie und werden krank. Manche sind bereits ausgestorben. Wenn eine Körperhälfte schwach und krank wird, wird auch die andere irgendwann schwach und krank. Ernährungsbedingte chronische Krankheiten beginnen bereits viele Jahre, bevor wir sie bemerken, unsichtbar auf der molekularen Zellebene: auf der menschlichen und auf der mikrobiellen.