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Kapitel 2

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Julia war siebzehn Jahre alt, als sie den letzten gemeinsamen Urlaub mit ihren Eltern und ihrer vier Jahre jüngeren Schwester Claudia verbrachte. Sie war gerade in ihrer rebellischen Teenagerphase gewesen und hatte es gehasst, mit ihren Eltern gemeinsam nach Puerto Rico zu reisen. Sicher, sie war noch nie auf einer karibischen Insel gewesen, und es war sicherlich sehr schön dort, doch mit siebzehn hatte sie andere Dinge im Kopf. Sie wollte viel lieber zu Hause bleiben bei ihren Freundinnen, Partys feiern und mit ihrer Clique abhängen. Vor allem aber wollte sie nicht fort von Michael, auf den sie schon seit einer ganzen Weile ein Auge geworfen hatte. Michael war cool, witzig und überaus gut aussehend. Er ging eine Schulklasse höher als sie, und hatte in diesem Jahr sein Abitur gemacht. Schon das ganze letzte Jahr hatte Julia ihm hinterher geschaut, und nun endlich vor drei Wochen hatte er zum ersten Mal auf einer Party auch von ihr Notiz genommen. Sie hatten den ganzen Abend miteinander geflirtet und am Ende sogar miteinander geknutscht. Sie hatte sich mit ihm dann noch einmal getroffen, wo er ihr gestand, dass er sie sehr mögen würde und sie gerne öfter treffen würde. Nun waren jedoch Ferien und sie musste unbedingt mit auf diese beschissene Insel, während sich Michael und ihre Freundinnen zu Hause vergnügten. Sie machte sich nichts vor, er war ein gut aussehender und beliebter Junge, und viele Mädchen standen auf ihn, und sie zweifelte ernsthaft daran, ob er in drei Wochen nicht jemand anderes hätte. Jemand, der nicht die Ferien mit den Eltern und der jüngeren Schwester verbringen musste. Sie hatte ihre Eltern angefleht, zu Hause bleiben zu können, doch alles bitten und betteln hatte nichts genützt. So war sie mürrisch und enttäuscht in den Flieger gestiegen und saß nun im Bus, der sie vom Flughafen in das gebuchte Hotel bringen sollte. Sie sah zum Fenster hinaus und ließ die Landschaft vorbeiziehen. Gesprochen hatte sie mit ihren Eltern während der gesamten Reise noch kein Wort.

Als der Bus wenig später vor ihrem Hotel hielt, hatte sich ihre Laune nicht wirklich gebessert. Doch das angenehme milde Klima und die Sonne hatte ihre schlechte Stimmung etwas gemildert. Da konnte Hamburg, Julias Heimatstadt, nicht mithalten. Denn trotz Anfang Juli war in Hamburg das Wetter mal wieder seit Wochen sehr feucht mit ungemütlichen 16 Grad. Um Hamburg nicht komplett schlecht zu machen, es gab auch richtig schöne Tage im Norden, an denen die Sonne den ganzen Tag schien und man vor Hitze nicht wusste, wie man sich abkühlen sollte. Doch so ein Sommer schien es dieses Jahr wieder mal nicht zu werden. Wenn es in Hamburg einmal regnete, dann nicht bloß für eine Stunde, dann gab es eben oft mehrere Tage Dauerregen.

Da Julia die Sonne und die Wärme liebte, hob das ihre Stimmung doch ein wenig und sie machte ein nicht mehr ganz so grimmiges Gesicht, als sie aus den klimatisierten Bus stieg und von einer Hitzewelle überrascht wurde. Während der Busfahrer sich daran machte, ihr Gepäck auszuladen, zog Julia sich die Stöpsel ihres Walkmans aus den Ohren und ließ ihren Blick über das imposante Hotel mit den großen weißen Säulen und den großen Palmen davor wandern. Ein Hotelangestellter kam aus dem Hotel und begrüßte ihre Eltern freundlich, dann drehte er sich um und sagte etwas auf Spanisch zu einem Mann, der gerade die Blumenbeete vor dem Hotel pflegte. Der Mann sprang sofort auf, kam zu ihnen gelaufen und machte sich auf, ihr Gepäck auf die Schultern zu laden. Da erst sah sie ihn. Ein Junge, etwa in ihrem Alter, hatte hinter dem Mann im Beet gekniet. Es war nicht zu übersehen, dass das Vater und Sohn waren, denn er war das jüngere Ebenbild des älteren Mannes. Der Junge war ebenfalls aufgestanden, doch er half seinem Vater nicht sofort mit dem Gepäck sondern sah nur sie an, nein, er starrte sie beinahe an. Julia fühlte sich von seinem Blick wie magisch angezogen und konnte den Blick ebenfalls nicht von ihm nehmen. Dann lächelte er, und irgendetwas passierte mit ihr in diesem Augenblick. Sie konnte das Gefühl nicht genau beschreiben. In ihrem Magen begann es zu kribbeln und ihre Knie fühlten sich ganz zittrig und wie Pudding an. Es war ein merkwürdiger Augenblick. Doch sie vermochte den Augenblick nicht zu unterbrechen. Der Hotelportier riss sie schließlich aus ihrer Erstarrung, indem er den Jungen auf Spanisch böse anfuhr. Julia verstand kein Wort. Nur das Wort Marcos hatte sie herausfiltern können, das war offensichtlich sein Name. Der Junge erwiderte ebenfalls etwas auf Spanisch und machte sich dann daran, das restliche Gepäck ins Hotel zu bringen.

Julia wusste nicht, was da gerade vor sich gegangen war und sie musste erst einmal tief durchatmen, um sich innerlich zu fangen, ehe sie ihrer Familie hinterher ins Hotelinnere folgte.

Julia betrat als letzte die imposante Lobby des Hotels und prallte prompt hinter der Tür mit ihrer Schwester zusammen, die sich ihr in den Weg gestellt hatte.

„Sag mal, was war denn das da eben, bitte schön?“, sagte Claudia kichernd.

„Äh, ich weiß nicht, was du meinst“, gab Julia bissig zurück.

„Ach komm schon, ich denke du weißt ganz genau, was ich meine. Wie der Typ dich eben angesehen hat, Wahnsinn.“

„Das ist doch Unsinn.“

„Nein, ist es nicht. Entweder fand er dich hübsch, oder du hast vielleicht irgendwo einen Fleck im Gesicht. Lass dich mal anschauen.“ Claudia riss ihre Schwester unsanft herum und inspizierte sie genauestens.

„Mhm, nein. Kein Fleck. Du siehst aus wie immer. Ich dachte zwar immer diese südländischen Typen stehen auf blonde Frauen, aber da du brünett bist, kann es daran wohl nicht liegen. Wohl eher an deinen langen Beinen in dieser kurzen Shorts, die du trägst. Und ich habe gedacht, ich hätte hier mit meinen blonden Haaren mehr Chancen als du, doch da habe ich mich wohl geirrt.“

„Könnte daran liegen, dass du noch ein Kind bist“, konnte sich Julia die bissige Antwort nicht verkneifen. Dieser Spruch wirkte meistens, da ihre Schwester ständig älter sein wollte, als sie war und andauernd versuchte, mit ihrer großen Schwester mitzuhalten und auch ständig dabei sein wollte, wenn sie mit ihren Freundinnen über Jungs sprach. Auch heute wirkte dieser Spruch ausgezeichnet und sie hatte die gewünschte Wirkung erreicht. Das ätzende, kindische Gekicher ihrer Schwester endete abrupt, und sie blickte Julia beleidigt an.

„Bin ich nicht. Du bist gemein.“

Im Vorbeigehen grinste sie Claudia von der Seite an, wenn es auch ein wenig gehässig war, wie sie sich selbst eingestehen musste. Doch manchmal hatte Claudia es nicht anders verdient. Dennoch tat es ihr schon ein bisschen leid, ihre Schwester so getroffen zu haben. Julia war im Allgemeinen nicht gehässig, und im Großen und Ganzen verstanden sich die Schwestern ganz gut und hatten ein sehr enges Verhältnis. Doch in den letzten Wochen und Monaten war ihre Beziehung ein wenig angespannt. Claudia fühlte sich oft zurückgestoßen und von ihr verletzt und war schnell beleidigt, wenn sie ihren eigenen Weg durchs Leben ging, und in dem ihre kleine Schwester im Augenblick keinen Platz hatte. Trotzdem lief Claudia ihr ständig hinterher, und das nervte ungeheuerlich. Julia war siebzehn Jahre alt und hatte keine Lust, mit ihrer nervigen dreizehnjährigen Schwester abzuhängen, die zudem ohnehin keine Ahnung von den Dingen hatte, die Julia beschäftigten, aber da war Claudia natürlich ganz anderer Meinung. Im Allgemeinen gesehen, war dies vermutlich eine ganz normale Entwicklung zwischen Schwestern, deren Alterunterschied fast vier Jahre betrug. Sie wurde eben langsam erwachsen, interessierte sich vorwiegend für Partys und Jungs und würde im nächsten Jahr ihr Abitur machen. Na ja, was das Letzte anging, war das leider noch nicht so sicher. Sie hatte der Schule in letzter Zeit nicht sehr viel Aufmerksamkeit und Interesse gewidmet, was sich auch in ihren Noten widerspiegelte. Nur mit Ach und Krach hatte sie in diesem Sommer überhaupt die Versetzung geschafft, ob sie da ihr Abitur im nächsten Jahr bestehen würde, stand somit in den Sternen. Doch was das Thema Schule und Noten anging, so hatte sich bei ihr eine Gleichgültigkeit eingeschlichen, die ihre Eltern schier um den Verstand brachte. Aber es gab einfach für Julia zurzeit wichtigere Dinge in ihrem Leben als die Schule, nämlich ihre Clique, Partys und eben Jungs.

Claudia hingegen spielte zum Teil noch mit Barbies und ihren Puppen, wenn auch nur noch heimlich. Doch sie hatte Claudia schon des Öfteren dabei ertappt, hatte jedoch, sobald ihre Schwester ihren grinsenden Gesichtsausdruck gesehen hatte, aus Sicherheitsgründen schnell das Weite suchen müssen, ehe sie mit irgendwelchen Gegenständen bombardiert wurde. Im Grunde, fand Julia, war ja auch gar nichts dabei, dass ihre Schwester von Zeit zu Zeit noch mit ihren Puppen spielte. Sie selbst hatte auch lange mit ihren Sachen gespielt, und sie hatte sich erst im letzten Jahr stark verändert, wie eben leider auch ihre schulischen Leistungen, sehr zum Ärger und Verzweiflung ihrer Eltern, die mit ihrem Latein so langsam aber sicher am Ende waren. Vielleicht war das auch der Grund, warum sie unbedingt an dieser Reise, die in erster Linie für ihre Eltern gedacht war, teilnehmen musste. Ihre Eltern vertrauten ihr nicht mehr genug, um sie alleine zu Hause in dem trüben Norden Deutschlands zu lassen, und wenn Julia ganz ehrlich mit sich selbst war, auch nicht so ganz zu unrecht. Sie hatte die beiden in letzter Zeit zu oft enttäuscht, hatte gelogen, war häufig viel zu spät zu Hause erschienen, und sie hielt sich nur noch selten an Abmachungen. Es hatte in den letzten Monaten viele Streitereien zu Hause gegeben, kurzum sie befand sich in der rebellischen Teenagerphase eines heranwachsenden Mädchens. Zwar recht verspätet, dafür aber umso heftiger, wie ihr Vater immer sagte.

Am nächsten Tag hatte Julia die ungewöhnliche Begegnung mit dem schönen Puerto Ricaner beinahe vergessen, wenn auch nur beinahe. Sie hatte den ersten Urlaubstag mit ihrer Familie am wunderschönen Strand mit dem türkisfarbenen Meer verbracht. Sie hatte den ganzen Tag in der Sonne gelegen, ein Buch gelesen und war zum Abkühlen in den Ozean gesprungen, wobei man bei den warmen Temperaturen, die das Meer hier hatte, nicht wirklich von abkühlen reden konnte.

Sie legte ihr Buch beiseite, nahm ihre Sonnenbrille ab und ließ ihren Blick den Strand entlang wandern. Ihre Eltern hatten recht behalten, es war wunderschön in Puerto Rico und sie hätte es mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit eines Tages bereut, nicht mitgefahren zu sein. Doch das zuzugeben, davon war sie noch meilenweit entfernt. Ihre Stimmung hatte sich zwar ein wenig gebessert, doch sie war in ihrem Inneren noch immer sauer auf ihre Eltern, und das ließ sie ihnen auch immer noch deutlich spüren. Den ganzen Tag schon hatten sie nicht viel miteinander gesprochen, nur Claudia konnte den Mund nie lange halten. Sie hatte auch heute den ganzen Tag gequatscht, und im Augenblick war es endlich mal für einen Augenblick ruhig. Claudia hatte sich auf die Suche nach einem Eis gemacht und war nun schon seit einer Viertelstunde fort. Auch wenn Julia die Ruhe ein wenig genossen hatte, so hielt sie nun doch Ausschau nach ihrer Schwester, bevor ihre Eltern womöglich noch das Augenmerk auf sie lenkten. Sie sah sich nach allen Seiten um, und dann sah sie ihn plötzlich wieder. Er kämpfte sich mit den schweren Strandliegen ab und stapelte diese zusammen, die die Strandgäste nach ihrem Strandtag zurückgelassen hatten. Auch wenn Claudia sie damit aufgezogen hatte, wie er sie angesehen hatte, so war sie sich ziemlich sicher, dass sie ihn genauso angesehen haben musste, was ziemlich peinlich war, und im Nachhinein hatte es sie auch ziemlich erschreckt. In dem Augenblick war es ihr jedoch nicht bewusst gewesen. Aber, wo sie ihn jetzt wiedersah, wusste sie, warum sie ihn so angesehen hatte. Denn auch jetzt konnte sie die Augen nicht von ihm lösen, wie er so nur mit einem ausgewaschenen T-Shirt und kurzer Hose bekleidet seiner Arbeit nachging.

Er hatte dunkles Haar, was ihm leicht über die Augen fiel und ein markantes Gesicht. Seine Haut war braungebrannt und seine Arme waren muskulös. Wenn er lächelte, bildeten sich kleine Grübchen in den Wangen. Er war der schönste Junge, den sie je gesehen hatte. Vor allem aber waren es seine Augen, die es ihr angetan hatten, auch wenn sie diese wegen der Entfernung nicht genau ausmachen konnte. Sie waren ihr jedoch vom Vortag noch genauestens im Gedächtnis. Die Augenfarbe hatte sie bisher nicht erkennen können, doch sie vermutete, dass sie braun waren.

Julia war völlig in Gedanken versunken, doch dann sah er plötzlich, als hätte er ihren Blick gespürt, zu ihr hinüber, und ihre Blicke trafen sich. Sein Gesicht verzog sich augenblicklich zu einem Lächeln. Sie zuckte unwillkürlich zusammen und sah schnell in eine andere Richtung. Sie fühlte sich beschämt und ertappt, und sie war sich außerdem ziemlich sicher, dass sie rot geworden war. Ruckartig stand sie von ihrer Liege auf, murmelte ein paar zusammenhanglose Worte zu ihren Eltern, so ziemlich die ersten an diesem Tag, und flüchtete zum Hotel und hinauf in ihr Zimmer, welches sie sich mit ihrer Schwester teilte.

Am nächsten Tag sah sie ihn bereits früh am Morgen als sie auf den Weg zum Essenssaal an dem Hotelpool vorbeilief. Sie hatte ihn leider zu spät gesehen, um noch einen anderen Weg einzuschlagen. Nun gab es kein Entkommen mehr, und deshalb versuchte sie möglichst unbemerkt an ihm vorbeizuschleichen. Sie wusste, dass sie sich dämlich aufführte, aber sie konnte schwer aus ihrer Haut. Sie war eben von Natur aus eher feige und zurückhaltend. Sie senkte den Kopf und beschleunigte ein wenig ihren Schritt, um schnell an ihm vorbei zu huschen, doch es war zu spät. Er hatte sie bereits gesehen und als sie ihren Blick kurz hob, sah sie, wie er sie anlächelte. Sie lächelte schüchtern zurück, setzte ihren Weg dennoch fort. Als sie fast neben ihm stand, vernahm sie mit einem Mal plötzlich seine Stimme.

„Hallo.“ Julia blieb kurz stehen und sah ihn an und blickte direkt in seine, wie sie richtig vermutet hatte, wunderschönen braunen Augen.

„Oh, äh… hallo“, bekam sie gerade noch mit Mühe und Not heraus, ehe ihre Stimme versagte. Er lächelte sie noch immer an und sie stand ebenfalls ziemlich dämlich grinsend vor ihm. Doch dann machte er ein Zeichen mit Hand und gab ihr zu verstehen, dass er arbeiten musste. Er ging an ihr vorbei und Julia war sich ziemlich sicher, dass sie knallrot angelaufen war. Sie musste erst einmal tief durchatmen, bevor sie im Speisesaal ihrer Familie gegenübertrat. Gott, war das peinlich. Er hatte nur höflich hallo gesagt, und sie hatte bloß dagestanden und ihn dämlich angegrinst.

Am Abend sah sie ihn noch einmal aber nur von Weiten. Dennoch hatte auch er sie erblickt und ihr zugewinkt. Sie hatte zaghaft die Hand zu Gruß gehoben, und war sich nicht einmal sicher, ob sie überhaupt gemeint war. Am Tag darauf hatte sie ihn überhaupt nicht gesehen, und sie musste zugeben, dass sie ein wenig enttäuscht war. Auch wenn die bisherigen kurzen Begegnungen eher von der peinlichen Sorte gewesen waren, und Julia zudem auch noch Stichelleichen von ihrer Schwester einbrachten. Dennoch ertappte sie sich dabei, wie sie heimlich und möglichst unauffällig nach ihm Ausschau hielt.

Verlorene Liebe

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