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Es gibt keinen zweiten Regenwald: Eine Bestandsaufnahme zwanzig Jahre nach der Erstveröffentlichung
ОглавлениеVon allen Büchern, die ich bis heute geschrieben habe – selbst zwanzig Jahren nach der Erstveröffentlichung –, liebe ich dieses Buch am meisten.
Ich hatte immer davon geträumt, den Amazonas zu erforschen. Als mir die Recherche zu diesem Buch schließlich die Gelegenheit gab, war die Erfahrung noch reicher, vielschichtiger, überraschender und glorreicher, als ich es mir erträumt hatte.
Manchmal wird das Schreiben eines Buches, das beim Forschen noch Spaß gemacht hatte, zur endlosen Qual. Nicht jedoch bei diesem Buch. Jeden Tag erwachte ich hungrig, um noch einmal das seidige Gefühl der Streicheleinheiten des schwarzen Wassers auf meiner Haut zu spüren, den Vanilleduft von Baumwipfel-Orchideen erneut zu riechen und das sinnliche Auf und Ab einer niedrigen, rosafarbenen Flosse, das Kribbeln in meinen Zähnen und Knochen, wenn ein rosafarbener Delfin mit Schallimpulsen wie Ultraschall in meinen Körper hineinsah, für meine Leser*innen neu zu erschaffen.
Trotz der vielen schönen Momente hat es mir jedoch auch das Herz gebrochen. Ich schrieb diese Seiten als Loblied auf ein unvergleichliches Paradies und als Bitte, es zu schützen. Zu meinem unermesslichen Leid ist das Amazonasgebiet heute, in den zwanzig Jahren seit der Veröffentlichung dieses Buches, noch schlimmer bedroht als zuvor.
Vor zwei Jahrzehnten stellte ich mit Bestürzung fest, dass der Amazonas brennt. Als ich 1987 zum ersten Mal einen Fuß in den geheiligten Dschungel setzte, überlebten 87,2 Prozent des Regenwaldes aus der Zeit von vor 1970. Und noch ehe ich meine Forschungen abgeschlossen hatte, waren ganze 34.188 Quadrathektar verbrannt – meist durch Brände, die von Bauern, Landspekulanten und Viehzüchtern gelegt wurden. In der Bibel heißt es, als Gott wollte, dass Moses die Israeliten aus Ägypten herausführte, brauchte es nur einen brennenden Busch, um seine Aufmerksamkeit zu erregen. Nun stand der größte Wald der Welt in Flammen! Wie konnten die Menschen da nicht aufhorchen?
Mittlerweile brennt der Amazonas nicht bloß. Er stirbt vielleicht.
Knapp achtzig Prozent des Amazonas-Regenwaldes sind noch erhalten. Jedes Jahr wird dem Dschungel durch Bergbau, Landwirtschaft und Viehzucht mehr Land gestohlen. Und das Tempo der Abholzung nimmt zu.
Im vergangenen Jahr, im Jahr 2019, stieg die Zerstörungsrate auf den höchsten Stand seit elf Jahren. In den zwölf Monaten bis Juli 2019 wurde ein Verlust von 9.762 Quadratkilometern verzeichnet. Es werden immer mehr Brände. Erstaunliche 74.000 Einzelbrände – ein Anstieg um 84 Prozent gegenüber dem Vorjahr – brannten allein im Monat August auf 125.000 Hektar. Satellitenanalysen zeigen, dass der größte Teil dieses Landes Anfang des Jahres absichtlich gerodet wurde, und zwar als direkte Folge der Politik des brasilianischen Präsidenten Jair Bolsonaro, der sich für das Vorhaben einsetzte, den größten Regenwald der Welt für das Agrobusiness umzuwandeln. Die beispiellosen Feuersbrünste schwärzten den Himmel in São Paulo, fast dreitausend Meilen vom Regenwald entfernt. Sie zwangen den an Peru grenzenden Bundesstaat Acre, Umweltalarm und die Stadt Manaus, die Hauptstadt des Amazonas, den Ausnahmezustand auszurufen.
Wenn die Rodungen morgen aufhören würden, wenn man jetzt eingreifen würde, um dem globalen Klimawandel zu begegnen, würden Wissenschaftler*innen uns sagen, dass es Jahrhunderte dauert, bis sich der Regenwald vollständig erholt. Am beängstigendsten ist jedoch die Warnung der Forscher*innen, dass der Amazonas bald einen Kipppunkt erreichen könnte, von dem er sich überhaupt nicht mehr erholen kann. Wenn zu viel lebensspendender Wald verbrennt, wird der Wasserkreislauf irreversibel unterbrochen. Und der mächtigste Regenwald der Erde verkommt zu unfruchtbarem Gestrüpp.
Sollte es dazu kommen, sagen Expert*innen neben der offensichtlichen Tragödie des Verlustes der prächtigen Geschöpfe des Amazonas, darunter auch der rosa Delfin, eine weltweite Katastrophe voraus. Anstatt der Atmosphäre Kohlenstoff zu entziehen, würde der größte Regenwald verschwinden, der globale Klimawandel würde sich dramatisch beschleunigen, was wiederum zu massiven Dürren, Überschwemmungen und Waldbränden auf der ganzen Welt führen würde.
Ich schreibe diese Worte von zu Hause in New Hampshire, während unsere Welt eine weitere Krise durchlebt. Wie es scheint, wird die gesamte menschliche Bevölkerung durch den Griff eines neuartigen Coronavirus gelähmt. Führende Politiker*innen der Welt tun überrascht, dabei warnen Wissenschaftler*innen, Schriftsteller*innen und Filmemacher*innen seit Jahren vor einer bevorstehenden Pandemie, die durch ein auf den Menschen überspringendes Tiervirus verursacht wird. Eine neue Studie der Universität Stanford zeigt, dass die Zerstörung der Wälder in fragmentierte Flecken sehr wahrscheinlich dazu beigetragen hat, dass der Virus übergreifen konnte. Das ergibt Sinn. Schließlich dringen die Menschen zunehmend in die Lebensräume der Wildtiere ein. Tiere, die man ihrer natürlichen Heimat beraubt, werden in die Nähe des Menschen gezwungen. In Gebieten, in denen die Wälder fragmentiert sind, halten Menschen oft Wildtiere gefangen und essen ihre geschlachteten Kadaver. Die Zerstörung der Wälder lädt Krankheiten – wie Covid-19 und SARS, AIDS, Ebola und viele andere – dazu ein, über die Artengrenzen zu springen und Menschen zu infizieren.
Wenn wir die Zerstörung fortsetzen, ist unsere Zukunft Feuer, Flut und Pest. Ganz richtig: Das klingt wie eine Geschichte aus der Bibel – ein Buch, das wie diese Geschichte im Garten Eden beginnt.
Die rosa Delfine des belagerten Amazonas geben mir trotz allem noch immer Hoffnung. Geschichten von Delfinen, die Menschen helfen, werden seit Jahrtausenden überliefert. Sie haben Menschen vor dem Ertrinken gerettet und sie so einiges über das Leben gelehrt. Ich weiß, dass diese Geschichten wahr sind, denn ich habe es selbst erlebt: Wie eine Jüngerin folgte ich den rosa Delfinen und fand den Garten Eden, den ich suchte. Ich folgte ihnen durch die Zeit: rückwärts, in die Vergangenheit, in der ich eine erstaunliche Evolutionsgeschichte sah; und vorwärts, um einen Blick auf mögliche Zukünfte zu werfen – Zukünfte, die wir wählen oder ablehnen können.
Die rosa Delfine führten mich zu heiligen Geschichten, die die Einheimischen bis heute für wahr halten. Sie sagen, dass rosa Delfine Magie in sich bergen. Sie sagen, dass sie genau wie Menschen der Liebe fähig sind. Sie sagen uns, dass Delfine und Menschen tief miteinander verbunden sind. Und sie sagen, dass der Wandel real ist. Auch diese Geschichten sind wahr – genau wie das Versprechen, das sie uns geben: dass wir die Ganzheit unserer süßen, grünen Welt aufrechterhalten können, wenn wir die Verbindungen zwischen uns ehren.
Sy Montgomery
April 2020
Hancock, NH