Читать книгу Der Ruf der rosa Delfine - Сай Монтгомери - Страница 8

Оглавление

Die Tage sind voller Wasser. Die Regenzeit hat die Fußballplätze, die Bananenhaine und die Maniokfelder überflutet, ja sogar ein paar Pfahlhäuser, die zu nahe am Ufer des Flusses stehen. Junge Bäume ragen kaum noch aus dem Wasser und Fische fliegen wie Vögel durch ihre Zweige. Auch bei den großen Bäumen reicht die Flut so hoch hinauf, dass man die Orchideen, die auf ihnen wachsen, und die Nester, die Papageien und Bambusratten sich in den Höhlen des Stammes eingerichtet haben, in Augenhöhe hat, wenn man im Kanu steht. Die Tank-Bromelien auf den weit gebreiteten Ästen sind kleine Seen für sich. Ihre Blätter formen Schalen, die das Wasser halten. Über fünfhundert verschiedene Arten von Lebewesen hat man in einer einzigen Bromelie gezählt. Sie sind eigene kleine Wasserwelten.

Jeder Tag bringt neue, überraschende Formen von Regen. Manchmal wütet ein Unwetter mit Blitz und Donner, bricht Äste, schleudert Tiere aus den Bäumen und verzieht sich dann wieder. »Das ist ein männlicher Regen«, sagt Moises, unser einheimischer Guide. Ein Regen, der stundenlang anhält, an- und abschwillt und kein Ende nehmen will, so erklärt er, ist dagegen ein weiblicher Regen, »denn eine Frau kann einen ganzen Tag lang weinen«.

Und so, wie die Tage voller Wasser sind, sind die Nächte voller Geräusche. Es ist, als ob alles, was man am Tag sehen kann – Bäume, die mit Lianen verschleiert sind wie Bräute, Blätter von der Größe eines Paddels, Vogelnester, Ameisen- und Termitenbauten, die wie Geschwüre, wie Kröpfe oder wie Brüste an den Stämmen hängen –, nachts in Geräusche verwandelt würde. Aus den Bäumen, aus dem Boden, aus dem Wasser dringen Stimmen wie Glöckchen oder kleine Flöten: Triller, Schreie, Warnlaute, Klagetöne. Sie sprechen die Sprache des Wassers. In der Regenzeit klingt der Nachtruf des Sonnentauchers wie Wassertropfen, die in eine Blechtasse fallen. Eine Nachtschwalbe schreit den Namen des Flusses: »Ta-hua-yo! Ta-hua-yo!« Die Stimmen der Baumfrösche klingen wie Blasen, die im Wasser aufsteigen und durch die Oberfläche stoßen.

Der Fluss ist der Spiegel, der in eine andere Welt führt. Er ist glatt wie Glas und spiegelt am Tage Wald und Himmel in vollkommener Ruhe wider – und doch fließt er so schnell, dass die Strömung jeden, der sich ohne Schwimmweste hineinwagt, sofort auf den Grund zieht. Die Leute am Fluss erzählen von Encante, einer verzauberten Stadt unter Wasser, deren Bewohner und Bewohnerinnen sie encantados, die Verzauberten, nennen. Wer einmal dorthin kommt, will nicht wieder zurück. So schön ist Encante.

Nachts scheinen die Sterne im Wasser sogar noch heller als am Himmel. Oben leuchten die Sternbilder, unten ihre funkelnden Spiegelbilder und in den Bäumen die glühenden Augen von Wolfsspinnen, Schlangen und Baumfröschen. Im Kanu hat man das Gefühl, durch die zeitlose Sternenlandschaft des Weltraums zu gleiten.

Aber wenn man stehen bleibt und wartet, kommen die Encantados. Zuerst fühlt man nur kleine Blasen unter dem Boot aufsteigen wie Perlen an einem Zaubernetz, das von unten her ausgeworfen wurde. In mondlosen Nächten hört man nur den Atem. Aber bei Mondschein kann man sehen, wie sich etwas aus dem Wasser erhebt und die Gestalt eines Delfins annimmt. Vielleicht bricht direkt neben dem Kanu ein Gesicht aus dem Fluss, das einer anderen Welt angehört und trotzdem auf eine unheimliche Weise vertraut wirkt. Die Stirn ist klar umrissen, wie bei einem Menschen. Der lange Schnabel ragt heraus wie eine Nase. Die Haut ist zart wie unsere eigene. Manchmal ist sie weiß oder grau – und manchmal, erstaunlicherweise, auch rosa. Er wendet sich dir zu, schaut dich an und keucht: »Tschaaaaah!«

In Brasilien nennt man den rosa Delfin boto. Man erzählt sich, der Boto könne sich in einen Menschen verwandeln. Bei den dörflichen Festen verführe er Männer und Frauen. Man müsse vorsichtig sein, sonst werde man für immer nach Encante entführt, in die Märchenstadt unter Wasser. Die Schamanen sagen, schon allein sein Atem hätte Zauberkraft und könne vergiftete Pfeile abschießen. Sein wissenschaftlicher Name ist Inia geoffrensis. Er gilt als Vertreter einer sehr alten Art der Zahnwale – er ist ein Süßwasserdelfin, der in einer Zeitkapsel aus dem Miozän überlebt hat, aus einer Zeit, als riesenhafte Alligatoren, größer als der Tyrannosaurus Rex, im flachen Wasser lauerten, und mannsgroße, flugunfähige Raubvögel mit messerscharfen Klauen ihre Beute rissen.

Jeder, der einem Encantado begegnet, wird von seinem Zauber berührt. Sein Bewusstsein verändert sich, es hat Geisterstimmen und fremde Träume in sich aufgenommen und den heißen, wispernden Atem des Regens auf dem Fluss. Hier im Amazonasgebiet, wo die Begierden verzehrender und die Tragödien düsterer sind als anderswo, kann auch das Unmöglichste wahr werden.


Der Zusammenfluss

Der Ruf der rosa Delfine

Подняться наверх