Читать книгу Sarah (eBook) - Scott McClanahan - Страница 12
ОглавлениеAber wer war sie eigentlich? Ihr Name war Sarah Johnson und sie wurde 1976 in West Virginia geboren. Ihre Eltern hießen Elphonza und Corrie. Sie hatte einen Bruder namens Jack, den ich nie mochte, aber von dem ich immer sagte, dass ich ihn mochte. In Wirklichkeit mochte ich ihn aber wirklich nicht, und ich lasse ihn auch nicht in meinem Buch vorkommen.
Aber wenn ich wirklich von Sarah erzählen wollte, würde ich vermutlich von ihrer frühesten Erinnerung erzählen. Sarah war damals vier und sie stand in der Dusche mit ihrer Tante Sherry. Sarah war so klein, sie reichte Sherry nur bis zur Hüfte. Sie waren gerade vom Strand zurück, und Sand war überall, in Sarahs Kleinmädchenhaar und in den Falten ihrer Kleinmädchenhaut und an den Rändern ihres Kleinmädchenbadeanzugs. Und Sarah war so jung, dass ihr Duschen mit ihrer Tante Sherry nicht peinlich war. Sherry zog Sarahs Badeanzug aus und Sherry zog ihren eigenen Bikini aus und so standen die zwei nackt nebeneinander unter dem Wasser, das aus dem Duschkopf brauste. Sherry schrubbte Sarah ab, dann seifte sie sie ein und wusch den Sand von ihr. Dann wechselten sie den Platz, und Sarah stand da und sah Sherry beim Duschen zu. Da bemerkte Sarah etwas zwischen den Beinen ihrer Tante. Eine weiße Schnur. Sherry stand zurückgelehnt und spülte sich die Haare, und Sarah hatte nur noch einen Gedanken. Sie wollte an der weißen Schnur ziehen, die da aus ihrer Tante baumelte. In ihrem Kopf wiederholte sie: »Ich will an der Schnur ziehen, ich will an der Schnur ziehen.«
Sherry bemerkte ihren Blick und lachte über Sarah, weil die nicht wusste, was ein Tampon war. Nach dem Duschen sprach Sherry mit Sarah über die Zukunft und erklärte ihr, dass einige von uns nur innerlich bluten, aber Frauen seien so lebendig, dass sie auch nach außen hin bluten und neues Leben erzeugen können. Wie Götter. Sarah lächelte und sagte, sie wolle unbedingt ein Gott werden. Irgendwann später begriff sie, wie dämlich das alles war und dass ihre Tante ein verlogenes Biest war. Es war Folter. Nach der Dusche ging Sarah zu ihrem Vater und saß neben ihm. Sie liebte ihn mehr als alles auf der Welt.
Sein Name war Elphonza. Eines Morgens, viele Jahre später, erwachte er in Sarahs Haus. Sarah war bereits erwachsen, und am letzten Tag seines Besuchs bei seiner Tochter begann Elphonza im Gästezimmer seine Sachen in den Koffer zu packen, da er bald abreisen würde. Ein paar Tage zuvor war er nachts aufgestanden und hatte einige kleine Eisbecher aus Sarahs Kühlfach gegessen. Am nächsten Morgen ließ er Sarah wissen, dass sie die Eisbecher besser wegwerfen sollte, denn die hätten Gefrierbrand. Sarah sagte: »Nein, Dad, du hast die Eisbecher für Hunde gegessen. Frosty Paws.« Aber daran dachte er jetzt nicht, auch nicht daran, dass Sarah oft über ihn lachte. Er war dabei, sich zu rasieren und seine Koffer zu packen. Dann nahm er eine Dusche. Sieben Tage war er bei seiner Tochter gewesen. Dann verließ er ihr Haus. Später am selben Nachmittag ging Sarah ins Gästezimmer, um die Bettbezüge zu wechseln. Sie zog sie von der Decke und den Polstern und warf sie auf den Boden. Als sie das Leintuch von der Matratze zog, fiel etwas heraus. Was zum … Es war ein riesiges Stück Cheddarkäse mit Zahnabdrücken an den Rändern.
Sarah rief ihren Vater an.
»Dad, hast du die ganze Zeit auf einem riesigen Stück Cheddar geschlafen?«
Elphonza sagte: »Oh ja. Hab mich schon gefragt, wohin das Stück verschwunden ist.«
Als Sarah klein war, saß Elphonza am Abend mit seinem Scotch da und hörte sich Willie Nelsons Version von Always on my Mind an.
Die Luft im Zimmer wurde immer verrauchter und der Fernseher lief. Elphonza schaute sich Autorennen und andere Sendungen an. Bei einer Sendung erfuhr er, dass so etwas wie »neues Wasser« nicht existierte. Er erfuhr, dass das ganze Wasser auf der Erde ursprünglich aus der Milchstraße gekommen war, vor vielen Millionen Jahren. Es war auf dem Rücken eines riesigen Meteors zu uns gekommen, der in die Erde gerast war. So hatte das Leben begonnen.
Deshalb bestehen wir heute alle aus Wasser. Wir bestehen aus dem, was vor langer Zeit auf uns zugerast und mit uns kollidiert ist. Es ermöglichte, dass Lebewesen geboren wurden, und nichts an ihnen ist neu. Elphonza erfuhr außerdem, dass der Preis all der chemischen Bestandteile, aus denen wir bestehen, ungefähr der eines Schokoriegels ist. Aus mehr bestehen wir nicht. Schokoriegel und Sterne.
Sarah wusste natürlich, dass Elphonza eines mehr als alles andere auf der Welt liebte: Sarahs Mutter.
Ihr Name war Corrie. Eines Tages begleitete Sarah sie zur Pediküre, und sie saßen nebeneinander in den riesigen Sesseln, zuerst die Füße im warmen Wasser, dann auf der Fußablage, sodass die Pediküre beginnen konnte. Die Frau, die sich um ihre Füße kümmerte, begann damit, die lose Haut von den Fersen und Fußballen zu reiben. Dann wischte sie zwischen Corries Zehen herum.
Auf einmal schrie die Frau und sprang auf.
Was zum Teufel?
Sarahs Mutter hatte eine Zecke zwischen den Zehen. Und es war nicht einfach nur eine Zecke, sie war nicht erst seit einer Viertelstunde da. Sondern eine, die hier schon seit Tagen wohnte. So groß wie eine Flipperkugel, kompakt und fett und voller Blut. Sie pulsierte und schwoll und vibrierte und wuchs und glühte immer fetter und heller in glänzenden Rosafarben.
»Da ist eine Zecke!«, kreischte die Frau und lief zeternd davon.
Sarahs Mutter sagte: »Was hat sie für ein Problem?«
Sie blickte auf ihren Fuß, als könnte sie gar nicht begreifen, was die Frau gemeint hatte.
Sarah fühlte Brechreiz. »Mom, da ist eine Zecke zwischen deinen Zehen.«
Sarahs Mutter betrachtete ihren Fuß und untersuchte das kastaniengroße Ding zwischen ihren Zehen.
Dann sagte sie: »Oh, die ist mir gar nicht aufgefallen.« Das war Sarahs Mutter.
Aber dann, eines Tages, änderte sich Sarahs Leben plötzlich. Sarah und ihre Mutter kamen auf die Idee, in dem Musical South Pacific mitzuspielen. I’m going to wash that man right out of my hair.
Sarahs Mutter spielte die Hauptrolle. Sie wollte niemals in den Bergen leben. Sie wollte nicht dort gefangen sein, aber wusste zugleich, dass alles, was sich in die Berge verirrt, dort hängen bleibt. Sarah sah ihrer Mutter zu, sie spielte ihre Rolle im Musical, und sie sang die Lieder im Musical, und dann traf sie einen fremden Mann bei den Proben fürs Musical. Sarah sah, wie sich die Augen ihrer Mutter belebten. Sie funkelten und leuchteten, leuchteten und funkelten. Dann, eines Tages, stellte sich Sarah vor, der fremde Mann aus dem Musical wäre bei ihr zu Hause, als ihr Vater gerade nicht da war. Sag deinem Vater nichts davon.
Ihre Eltern ließen sich scheiden. Ihre Mutter zog aus. Ihre Mutter war weg. Und Elphonza wurde alt. Er hatte Probleme mit seinem Herz, und Sarah hatte Angst. Sie war zehn und dachte, ihr Vater würde sterben. Nachts schlich sie sich in sein Schlafzimmer, hockte sich am Ende des Bettes auf den Boden und achtete auf seinen Atem. Eines Nachts hörte sie ihm beim Atmen und Schnarchen zu, immer so dahin, Atmen und Schnarchen, und Sarah wurde schläfrig und schlief ein und passte nicht auf ihn auf.
Als sie einige Stunden später erwachte, hörte sie kein Geräusch. Sie bekam Panik. Sie sprang auf, rannte zu ihm und schüttelte ihn. »Bitte nicht sterben, Dad! Nicht sterben!« Ihr Vater erwachte und sagte: »Sarah?« Und Sarah lächelte erleichtert, weil ihr Vater noch am Leben war.
Sie lächelte. Er war nicht tot. Bloß geschlafen hatte er.
Und Sarah wurde älter. Sie ging einkaufen und rauchte Gras und ging einkaufen und traf sich mit Freundinnen. Lauter Mädchen, die sich noch nicht im Geringsten über die Welt sorgten und die man mit einem einzigen Wort beschreiben konnte: hinreißend.
Sie gingen auf Partys und probierten Mushrooms aus und vögelten mit Jungen, die schon Autos oder Jobs hatten, und sie schauten sich gemeinsam den Nachthimmel an und redeten über die prächtigen Schwänze ihrer Freunde, ihre großen prächtigen Schwänze, und Sarah griff nach oben und pflückte ein paar Sterne und steckte sie sich in die Tasche, immer noch high von den Pilzen.
Mit sechzehn nahm Sarah einen Job im Süßigkeitenladen im Einkaufszentrum an. Eines Nachmittags kam ein kleiner Junge mit seiner Mutter in den Laden. Die Mutter war klein und dick und sie sprach die ganze Zeit für ihren Sohn, der dürr war und große Zähne und eine Brille hatte. Sarah beobachtete den Jungen, wie er sie anstarrte.
Er trug ein Tüte aus dem Buchladen, und darin war ein Buch, das so begann: Ob ich mich in diesem Buche zum Helden meiner Leidensgeschichte entwickeln werde oder ob jemand anders diese Stelle ausfüllen soll, wird sich zeigen. Der kleine Junge wirkte ängstlich und Sarah wusste noch nicht, dass er die ganze Zeit ängstlich war. Er dachte manchmal ans Sterben und ans Davonlaufen. Die Mutter des Jungen fragte ihn, was er gern haben wolle. Er flüsterte ihr seine Antwort zu. Er wollte Himbeer-Fruchtgummis und einen mittleren Blue-Raspberry-Slushie. Die Mutter des Jungen gab die Bestellung weiter.
Himbeer-Fruchtgummis.
Brombeer-Fruchtgummis.
Blue-Raspberry-Slushie. Sarah erledigte die Bestellung, und die Mutter bezahlte, und der Junge und die Mutter gingen davon. Und Sarah dachte nie wieder an die beiden. Es war nichts Besonderes daran. Sie vergaß die Episode, so wie wir alles Mögliche auf der Welt vergessen, aber der kleine Junge wurde später erwachsen und schrieb dieses Buch.