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Trotz dessen ich leide, lasse ich mich nicht gehen. Ich möchte attraktiv aussehen. Mein Morgen beginnt damit, dass ich, nachdem ich bereits eine Ewigkeit ins Dunkel gestarrt habe, aus dem Bett aufstehe. Ich schlafe kaum mehr als zwei bis drei Stunden die Nacht, und in diesen Stunden träume ich nur von ihm. Die Wunde an meinem Oberschenkel pocht dumpf, als ich vor dem Waschbecken stehe und mir die Haare hochstecke. Ich habe schöne dicke, nussbraune Haare, die mir bis zu den Schultern reichen. Meistens habe ich sie als Pferdeschwanz gebunden, nur zu Hause trage ich sie offen, obwohl sofort, wenn ich die Türschwelle übertrete, alles auf mich einstürzt. Mein gesamtes ungestilltes Verlangen. Meine Wohnung steht unter Strom. Sie ist der Tempel meines Leidens.

Eingehüllt in einen dicken Bademantel aus reinem Bio-Baumwoll-Frottee, trage ich die 24H soin perfecteur hydratation continue Tagescreme von Annayake auf, dessen Formel einem japanischen Reiskleie-Ritual zu Grunde liegt. Ich tupfe Creme auf das Gesicht – Wange, Wange, Nase, Kinn und Stirn. Ich verreibe die einzelnen Flecken in sanft massierenden Kreisbewegungen von innen nach außen, grundiere danach meine Haut mit der SPF 15 Powder Foundation von bareMinerals, decke mit Radiant Perfecting Powder von Tom Ford alles ab. Für meine Augenbrauen habe ich mich in den letzten Jahren für einen natürlichen Look entschieden. Regelmäßig zupfe ich gezielt deren unteren Bereich, der obere Brauenbogen bleibt dabei in seiner angestammten Form. Augenbrauen sollten sich harmonisch in das Gesicht einfügen, nicht auffallen, sondern dezent das Gesamtkonzept abrunden. Aus diesem Grund muss auch das Make-up auf die Haarfarbe abgestimmt werden, da sonst beides disharmonisch zueinandersteht. Um meine Form der Brauen dezent hervorzuheben, eignet sich ein Eyebrow Pencil, der nicht zu deckend ist und natürlich und weich betont. Gern nehme ich dafür einen einfachen Stift von Isadora, ziehe mit ihm sanft eine schwache Linie über die Brauen und bürste die Farbe in die kleinen Härchen. Für meine Lider benutze ich einen Kajalstift von Sisley Paris, als Lidschatten heute Antique Bronze aus der Modern Renaissance Palette von Anastasia Beverly Hills. Zum Schluss der Lippenstift. Meine Wahl fällt hier auf Rouge Pur Couture von Yves Saint Laurent in der Farbgebung Corail Poétique. Und all die Jahre haben diese Arbeitsschritte zur Routine werden lassen, sodass ich mir nicht in die Augen schauen muss, um zu überprüfen, ob alles stimmig ist. Ich bin froh über diese Sicherheit und klebe mir noch ein großes Pflaster auf die frische Wunde an meinem Oberschenkel, da sie noch immer ein wenig blutet.

Eine halbe Stunde später in der S-Bahn bekomme ich heftige Magenkrämpfe. Ich habe seit zwei Tagen nichts gegessen, doch stehe die etwa zehn Minuten des Anfalls durch, indem ich mit aller Kraft meine Hände in die Oberschenkel kralle. Die Wunde spielt dadurch natürlich verrückt, pocht protestierend, aber ich achte nur darauf, dass sie nicht wieder aufreißt, denn einen Blutfleck auf meiner taubenblauen High Skinny Jeans von G-Star möchte ich dann doch nicht haben. Nachdem sich mein Magen wieder einigermaßen beruhigt hat, schaue ich aus dem Fenster auf die vorbeifliegenden Dörfer. Die Wunde pocht dabei ausdauernd und energisch weiter.

Irgendwann liefert mich die S-Bahn an meiner alltäglichen Station ab und ich laufe den kurzen Weg ins Büro. Ich versuche gerade und selbstbewusst zu gehen, was mir schwerfällt, da die Wunde an meinem Bein schmerzt und ich allgemein sehr geschwächt bin. Kurz überlege ich, heute Mittag vielleicht einen Apfel oder eine Banane zu essen, doch allein der Gedanke daran löst einen Würgereflex in mir aus. Ich komme am Haus, in dem unser Büro liegt, an. Christians Auto steht bereits auf dem Parkplatz und ich versuche einmal mehr, ihm und dem faden Alltag meinen Enthusiasmus entgegenzusetzen. Es ist wie ein Modus, in den ich umschalten kann, der mich schützt und der mir Kraft gibt. Selbstbewusst schwinge ich die Bürotür auf und bezirze die Welt mit einem „Guten Morgen!“

Christian sitzt an seinem Schreibtisch, ausnahmsweise nicht in seinem Laptop, sondern in die regionale Tageszeitung vertieft und ohne mich zu begrüßen, oder gar eines Blickes zu würdigen, startet er seine alltägliche Aufregungstirade: „Das musst du dir anhören, Svea! In einer einzigen Zeitung haben wir so ziemlich alles Abgefuckte dieser Welt vereint. Und das Allerschlimmste ist, all das passiert hier. Hier in unserem Land!“

Ich streife den navyfarbenen Mantel von Filippa K aus einem Wolle-Kaschmir Gemisch von meinen Schultern, hänge ihn an die Garderobe, will Christian seinen Spaß nicht verderben und fordere ihn deshalb auf: „Na, dann schieß’ mal los.“

„Willst du das echt hören? Sehr gut!“ Christian ist begeistert von meinem Interesse und sprudelt sofort los. „Hier! Sexueller Übergriff in einem Schwimmbad auf eine Zwölfjährige. Zwölf Jahre! Das musst du dir mal vorstellen. Tatverdächtige? Eine Gruppe minderjähriger Afghanen. Minderjährig? Dass ich nicht lache. Die Burschen sind mindestens zweiunddreißig! Weiter. Iraner tötet ungeborenes Kind seiner Ex. Sticht im Krankenhaus mit einem Brotmesser vierzig Mal auf sie ein. Ist das zu fassen?“ Aus Christians Gesicht spricht Ekel und Abscheu. „Tschetschenen organisieren muslimische Bürgerwehr. DITIB fordert mehr Mitspracherecht, und … es gibt eine neue salafistische Lies! – Kampagne. Ist das nicht toll?“ Christian blättert hektisch die Seite um. Ich spare mir meine Einwände, höre nur mit halbem Ohr zu, fahre meinen Laptop hoch. „Zwei Kinder in Berlin vom Balkon geworfen. Maoisten überfallen in Düsseldorf jüdisches Geschäft. Arabischer Clan-Boss wird mit einem Kopfschuss hingerichtet. Tagsüber. Vor einem Kindergarten!“ Christian schüttelt den Kopf, sagt zu sich: „Die Leute haben einfach … sie haben einfach keine Skrupel mehr.“ Seine Aufzählungen gehen weiter. „Nazis, die sich als schwul outen. Influenzer auf Instagram infiziert sich live mit Aids. Obdachloser von einer Gruppe Jugendlicher angezündet. Transsexuelle berichten von neuer Seuche. Grundschüler jagen Katze mit Blitzknallern in die Luft. Filmen alles! Schon wieder Obdachlose. Metrosexuelle, Pansexuelle, Intersexuelle, Asexuelle. Junge schneidet sich Zunge mit einer Papierschere ab. Er meint, sie spräche … jetzt hör zu … babylonisch. BABYLONISCH!“, das Wort kreischt Christian jetzt fast. „Ist das zu fassen? Diese Sprache gibt es doch überhaupt nicht!“ Er lässt die Zeitung sinken, blickt über die Seiten hinweg ins Leere, mindestens eine Minute lang, dann sagt er: „Eigentlich ist alles zu spät. Diese gesamte Scheißerde ist einfach so was von durch. Fertig, kaputt. Mir sollte das alles völlig egal sein.“

„Großartig“, mehr kommt nicht über meine Lippen, automatisch, wie ein Reflex, denn ich starre auf meinen Monitor, dort leuchtet ein neues Bild von M auf. Er hat es heute Morgen in seine Facebook-Timeline gepostet. Gemeinsam mit ihr steht er dort und blickt grinsend in die Kamera – hält in den Armen seine Frau. Schmutzigblond, zu große Nase, teigiger Teint. In mir zieht sich alles zusammen, meine Hände zittern.

„Hey, alles okay bei dir?“, fragt Christian besorgt. „Du siehst ja aus wie der Tod.“

„Ja … Ja, alles okay“, flüstere ich abwesend und klicke hektisch die Seite weg. Ich fasse es einfach nicht, dass M keinerlei Hemmungen zu haben scheint. Während ich mich nach ihm verzehre, während ich leide, lebt er ein Leben, sein Leben. In mir fluten Bilder hoch. Bilder, in denen ich seiner Frau die Finger mit einer stumpfen Schere abschneide. Doch ich muss mich zusammenreißen, muss mich ablenken. „Und … Was liegt heute an?“, frage ich in Christians Richtung.

„Weißt du doch. Allgemeine Beratung im Heim. Ich hoffe einfach, es kommen nicht zu viele. Ach ja, und eine Schulanmeldung müssen wir noch machen. Ein zehnjähriger syrischer Junge. Grundschule also.“

Grundschule? Ich fahre wie vom Blitz getroffen zusammen.

Clausnitz

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