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Im ersten Stock angekommen, gehe ich den langen dunklen Flur entlang. Vorbei an den Zimmern, in denen die Geflüchteten untergebracht sind. Hier, in diesem, wohnt eine albanische Familie. Die Tür ist nur angelehnt, sodass man darin Betten sehen kann. In einem liegt ein kleines Kind und schläft. Was mag dies wohl für eine Kindheit sein? Ständig auf der Suche, einen Monat hier, einen Monat dort. Keine Freunde, keine Sicherheit. Ich kenne die Familie, sie sind Roma. Diese Ethnie wird, wie fast überall in Europa, diskriminiert. Die meisten von ihnen leben in Ghettos unterhalb der Armutsgrenze. Es sind keine Kriegsflüchtlinge, ihre Flucht ist die andauernde Suche nach einem besseren Durchkommen und das Normalste der Welt. Die zweite Tür ist verschlossen, doch die dritte ist wie die erste nur angelehnt. Hier dudelt arabischer Hip-Hop aus dem Zimmer, drei junge Marokkaner sind hier einquartiert. Junge Typen, gestylt, aber abgezehrt und mit tief liegenden Augenhöhlen. Mir ist noch keiner von ihnen irgendwie schräg gekommen. Eher wirken sie auf mich schüchtern und verlegen, aber sicher, ich merke ihren Hunger. Ihr Verlangen nach den Knospen des Lebens, und ich kann sie verstehen. Ich wette, dass alle drei von ihnen noch Jungfrau sind und ihr Verlangen mit einer großen Unsicherheit einhergeht. Es ist ein Problem, wenn das Natürlichste im Menschen tabuisiert wird.

Heutzutage scheinen in fast allen muslimischen Gesellschaften zwischenmenschliche Zärtlichkeiten ein Problem zu sein. Das ist traurig und dramatisch. Die meisten Gläubigen wissen nicht mehr, dass bis zum Ende des 19. Jahrhunderts in der islamischen Welt eine lebendige erotische Kultur existierte, eine Kultur, die sich in Dichtung, Geschichten und Ratgebern niederschlug. Selbst im Koran werden Erotik und der sexuelle Genuss als etwas Positives angesehen. Prophet Mohammed verwies sogar auf die Bedeutung des Vorspiels und legte seinen damaligen Weggefährten nahe, den Geschlechtsakt erst zu beenden, wenn auch die Frau ihren Höhepunkt erlangte. Selbst Homoerotik war ein fester Bestandteil der klassischen Dichtung des arabischen und persischen Raumes. Doch wohin ist dies alles verschwunden?

Einige Historiker sind der Meinung, dass die durch die Kolonialmächte ausgelöste Industrialisierung in den besetzten muslimischen Gebieten eine große Schuld an dem Verschwinden der Freizügigkeit hat. Bildungsferne und konservative Landbevölkerungsteile strömten in relativ kurzer Zeit in die Städte, was eine demografische Umstrukturierung der gesellschaftlichen Schichten und die Kopplung der Religion mit dem Staat nach sich zog, sodass eine Institutionalisierung des Islams aufkeimte. Das Ergebnis erleben wir nun seit einigen Jahrzehnten. Frauen müssen sich verhüllen. Die Burka in Afghanistan ist sicherlich das krasseste dieser Beispiele, unter der die Frau aus dem öffentlichen Raum komplett verschwindet. Nun, kurzum, die Frauen, aber auch die drei marokkanischen Jungs tun mir leid. Sie sind Produkte ihrer Umwelt, die Summe der Prägungen, die ihnen zuteilwurden. Und nein – ich urteile nicht. Durch meine Beobachtungen versuche ich zu verstehen, was die drei sich erhoffen. Was ihre Träume sind, ihre Sehnsüchte. Und dann denke ich daran, dass wir ihnen nichts zu bieten haben, da wir selbst voller Zweifel sind. Es gibt keine Steigerung mehr. Das Ampelmännchen (und sein neuerdings weiblicher Gegenpart), Gewaltpornos und heuchlerische Biogütesiegel. Wir sind feist und satt. Ohne überhaupt auch nur im Ansatz zu verstehen, was es bedeutet.

Aus der Gemeinschaftsküche, die auf jedem der Flure zu finden ist, strömt ein Gemisch aus gebackenem Brot, Olivenöl und gekochtem Gemüse. Und diese Melange steht wie eine Wand vor mir und wird durch das olfaktorische System meiner Nase aufgenommen, um als elektrisches Signal durch die Axonen an mein Gehirn weitergeleitet zu werden. Dort bricht augenblicklich ein Kampf aus, ein Ringen um die Vorherrschaft. Die eine Partei fordert unbedingte Nahrungsaufnahme, sämtliche Alarmglocken meines Organismus schrillen. „Iss endlich was! Beende diese selbst auferlegte Folter.“ Dem gegenüber steht der Dämon, der flüstert: „Essen macht dich unattraktiv. Wie willst du ihm so jemals gefallen?“ Und unter der Macht dieses Pendels, dieser unausgegorenen Entscheidungsfindung, taumele ich der Tür von Aminas Zimmer entgegen. Auf einmal scheint alle Kraft, die mich in den letzten Tagen noch zusammenhielt, verschwunden. Jeder Schritt lässt meine Contenance mehr und mehr zerbröseln, und als ich an Aminas Tür klopfe, muss ich mich an deren Rahmen festhalten, so schwindlig ist mir. Die Tür öffnet sich einen Spaltbreit, Aminas Augen blicken mich an, nun schwingt die Tür ganz auf und ich falle vornüber in Aminas Arme, verliere das Bewusstsein.

Ich erwache wie aus einem Traum. Es ist dunkel um mich herum. Ich liege auf Aminas Bett und mein Kopf auf ihrem Schoß. Ihre Hände umschließen mein Gesicht, sanft streichelt sie mir die Stirn. Und obwohl es dunkel in ihrem Zimmer ist, kann ich ihr blasses Gesicht, was von einem Tschador umschlossen wird, erkennen, und durch diese muslimische Umrahmung sieht sie aus wie die Jungfrau Maria. Ein Paradoxon, aber so nehme ich es wahr. Ich atme schwer, beginne etwas zu weinen und Amina sagt in ihrem gebrochenen Deutsch: „Alles gut. Du in Sicherheit.“ Der Klang ihrer Stimme ist wie ein Balsam für meinen Schmerz, Medizin für meine Trauer und Schwäche.

„Ich machen Tee, ja? Du müssen auch essen. Siehst nicht gut aus.“

„Aber … ich kann nichts essen“, bringe ich gequält hervor.

„Nicht viel. Nur bisschen“, erwidert Amina darauf.

Sie steht auf und geht in eine der Ecken ihres Zimmers, knipst eine kleine Lampe an, um den Wasserkocher zu betätigen. Amina kniet sich wirklich mächtig in die deutsche Sprache rein, lernt diszipliniert wie ein eifriges Schulkind, und ich bin stolz auf sie. Komplexere Gespräche führen wir auf Englisch, das können wir beide ziemlich gut. Dadurch wissen wir beide bereits ziemlich viel voneinander, obwohl wir uns erst einige Wochen kennen. Ich richte mich jetzt auf und lehne mich mit dem Rücken an die Wand. Meine braunen Chelsea Stiefeletten von Antony van Diyck hat Amina mir von den Füßen gestreift und sorgsam nebeneinander vor das Bett gestellt. Ich ziehe die Beine an meinen Körper, schließe die Augen. Christian muss jetzt alleine klarkommen. Ich brauche einfach eine halbe Stunde für mich.

Amina hat die Hölle auf Erden erlebt. Nein, sie wurde nicht vom Islamischen Staat entführt und vergewaltigt. Amina kommt aus Inguschetien, einer kleinen islamisch geprägten Republik im Kaukasus, in der sogenannte Traditionen wie Zwangsverheiratung, Kopftuch und Ehrenmorde in den letzten fünfzehn Jahren eine grausame Renaissance erfahren haben. Amina ereilte das Schicksal der Zwangsheirat und damit verbunden, Erniedrigung, Vergewaltigung und brutalste Gewalt. Ihr zukünftiger ‚Mann‘ zwang Amina, als sie sechzehn war, in sein Auto. Sie wusste überhaupt nicht wie ihr geschah, dachte, dass dieser Spuk nach ein paar Stunden ein Ende nehmen würde, doch weit gefehlt. Amina wurde im Haus der Familie ihres Kidnappers festgehalten, denn, hätte sie in den nächsten zwei Tagen zurück zu ihren Eltern fliehen können, wäre die avisierte Heirat null und nichtig gewesen. Aus diesem Grund werden junge Mädchen aus Inguschetien, Dagestan und Tschetschenien entführt und gefangen gehalten, sodass am nächsten Tag die Ehe vollzogen werden kann. Diese kriminellen und menschenverachtenden Handlungen werden oft von lokalen Amtsträgern und den ansässigen Imamen gedeckt, wenn nicht sogar initiiert. Frauen, Schwule oder Oppositionelle haben unter der harten Hand Ramsan Kadyrows in Tschetschenien nichts zu lachen und dem Clanregime unliebe Personen werden verhaftet und oft mit konstruierten Deliktvorwürfen zu mehrjährigen Haftstrafen verurteilt. Durch Folter und Todesdrohungen werden fabrizierte Geständnisse erzwungen. Frauen sind dazu auch noch von brutalster häuslicher Gewalt betroffen. Eine Entführung mit darauffolgender Zwangsheirat ist oft der Anfang eines unvorstellbaren Martyriums, was mit dem sexuellen Missbrauch der oft nicht älter als fünfzehnjährigen ‚Braut‘ beginnt und immer häufiger in sogenannten Ehrenmorden endet.

Ein paar Minuten später sitze ich mit Amina an ihrem kleinen Tisch, trinke Tee und zwinge mich, einige Kekse zu essen. Wir reden dabei nicht und das ist völlig okay so. Ich kenne ihre Geschichte und sie die meine. Vor zwei Monaten ist Amina ins Heim gekommen und hat sich aus Angst und Scheu vor den Männern mit einer Art Tschador verhüllt. Von Anfang an habe ich gespürt, dass uns beide etwas verbindet, und sei es nur der gemeinsame Schmerz. Ich half Amina, zwei Plätze im Kindergarten zu bekommen, damit ihre Kinder, Sinaida und Baschir, Zwillinge, beide fünf Jahre alt, sich eingewöhnen können und sie etwas Zeit für sich hat. Amina ist vor ihrem Ehemann aus Inguschetien geflohen und bekommt seitdem von ihm via Whatsapp Todesdrohungen. Auch hat sie von Bekannten gehört, dass er auf dem Weg nach Deutschland ist, um die Ehre seiner Familie wiederherzustellen. Was das bedeutet, wissen wir beide.

Dass sie kaum Chancen auf Asyl hat, da Inguschetien als ‚sicher‘ gilt und sie einen Pass besitzt (also problemlos abgeschoben werden kann), sage ich ihr nicht und habe es auch nicht vor. Wir retten uns beide von Tag zu Tag. Wir wissen das. Irgendwann habe ich Amina auch von ihm erzählt, von M. Und obwohl ihr diese Welt der selbst auferlegten Liebe fremd ist, hat sie mich verstanden. Unser Schmerz ist von derselben Intensität, obwohl dessen Herkunft sich unterscheidet. Amina gibt mir das Gefühl, nicht komplett allein zu sein und irgendwie tröstet mich dieser Umstand etwas. Die Kekse erzeugen in mir einen richtigen Energieschub, auch wird es Zeit, wieder nach unten zu Christian und Rafik zu gehen. Ich frage Amina, ob ich noch etwas für sie tun kann, doch sie verneint, lächelt, möchte mir keine Umstände machen. Sie wird bald ihre Kinder abholen, gerne kann ich morgen wieder vorbeikommen. Ich schließe sie in die Arme. Der kurze Besuch hat mir gutgetan. Jetzt bin ich bereit für den Besuch in der Grundschule, fühle mich gefestigt, ihn zu sehen. Ich verabschiede mich von Amina und laufe den dunklen Flur entlang bis zur Treppe, steige langsam die Stufen hinab.

Vor dem Büro steht niemand, was mich etwas verwundert. Christian scheint die Fälle megaschnell abgearbeitet zu haben, und als ich in das Zimmer trete, packen er und Rafik bereits die Laptops in die Kiste.

„Hey, was ist los?“, frage ich verwundert. „Seid ihr schon fertig?“

„Ja, eigentlich hatten alle nur die gleichen Briefe vom Ausländeramt. Ging schnell“, sagt Christian und zuckt mit den Schultern.

„Okay. Na umso besser.“ Ich warte einen Augenblick. „Dann können wir ja jetzt zur Grundschule fahren.“

„Nee, das wird nichts. Die Mutter des Jungen war gerade hier. Er ist krank, liegt im Bett. Hat wohl Fieber oder so. Wir haben die Anmeldung auf nächste Woche Montag verschoben.“

„Oh“, ist alles was ich sagen kann, meine Knie beginnen zu zittern.

„Ja, ist doch cool. Dann machen wir jetzt Feierabend“, sagt Christian beschwingt. „Ich habe eh die Schnauze voll.“

Ganz in einem Zustand geistiger Verwirrung gefangen, helfe ich Christian die Kisten zum Auto zu tragen und frage mich, ob eine höhere Kraft dies alles so entschieden hat. Ich meine den Fakt, heute nicht mehr die Grundschule zu besuchen, die Gewissheit, M heute nicht mehr sehen zu können. Und während der Fahrt zurück ins Büro erscheinen mir die vorbeifliegenden Häuser wie riesige Felsen, die immer näher rücken und versuchen, uns zu zerquetschen. Die Straße ist ein schwarzer wabernder Fluss, die Wolken angeordnet zu einer irren, sich ständig bewegenden Szenerie. Ich starre durch die Frontscheibe auf das dahinrasende Band der Mittelstreifen. So, als stünde dort eine Antwort auf meine Fragen. So, als könnte ich irgendeine Bedeutung darin erkennen. Doch nichts erschließt sich. Alles bleibt ungewiss und vage. Ich tappe weiter durch das Labyrinth meines Lebens.

Clausnitz

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