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Am Nachmittag gehen wir beide zum monatlichen Treffen des Migrationstisches. Dieser ist ein unabhängiges Gremium und Zusammenschluss verschiedener Initiativen, freier Träger, Vereine, Wohlfahrtsverbände und Privatpersonen. Er existiert bereits seit einigen Jahren, hat jedoch durch die Ereignisse des diesjährigen Sommers massiv an Bedeutung gewonnen. Einstmals unpopuläre Themen, wie Alltagsrassismus, prekäre Lebenssituationen von Migranten, Behördenwillkür und Abschiebehaft, sind heute Gesprächsstoff, betreffen unterschiedlichste gesellschaftliche Schichten und sorgen für Spannungen und Gräben. Sinn und Zweck dieser Zusammenkunft ist, unter anderem über die Entscheidungen der Kommunal- und Bundespolitik in Bezug auf Migration und Asyl zu diskutieren. Aber auch das Protokollieren rassistischer Übergriffe ist dem Plenum ein wichtiges Anliegen, was ich durchaus verstehen kann. Heute geht es zum Beispiel eine Stunde darum, ob „Geflüchtete“ oder „geflüchtete Menschen“ auf dem neuen Flyer stehen soll. Auf keinen Fall Asylbewerber, Migranten, oder noch schlimmer Asylanten – da sind sich alle einig. Allein die Endung: -ant ist negativ konnotiert. Das haben Christian und ich bereits in einer der letzten Veranstaltungen gelernt. Genau wie Simulant, Ignorant, Querulant und Denunziant, ruft auch das Wort Asylant negative Assoziationen hervor. Ehrlich gesagt, habe ich das noch nie so empfunden, aber da alle dies so sehen, habe ich auch kein Problem damit. Christian könnte sich daran natürlich wieder herrlich hochfahren. „Als würde dieses Sprachpolizeigehabe irgendetwas an der Sache ändern“, kann ich ihn förmlich sagen hören, aber er bleibt stumm.

Wenn wir allein sind kann Christian sich richtig in alles reinsteigern, aber in Runden wie diesen sagt er nie etwas, sondern betrachtet oft nur stumm die Leute. Manchmal schreibt er zur Tarnung vermeintliche Notizen in seinen riesigen Timer, doch eigentlich kritzelt er nur krude Skizzen auf die linierten Blätter, schwarze Vögel, kahle Bäume, ab und zu einen Totenschädel. Ich kann Christians Impulse nicht wirklich nachvollziehen. Im Grunde ist er ein Idealist. So wie alle anderen in dieser Zusammenkunft. Sie alle eint mehr, als sie trennt. Doch dieser Erkenntnis können sie nicht nachgeben.

Am Abend. Ich stehe im Bad und betrachte mein Spiegelbild. Ein hässliches Etwas blickt mich an und ich finde es furchtbar, dass dieses Etwas tatsächlich ich bin. Kurz kann ich auch verstehen, warum M mich nicht will, vielleicht sogar verabscheut. Doch dann gewinnt die Kränkung in mir wieder Oberhand und ich kann nur in die Augen dieses Etwas blicken. Und aus diesen, meinen Augen, blitzen Hass, Schmerz und eine tiefe Wut mich an, umgeben von einer eingefallenen Maske, die einmal mein Gesicht war. Ich esse fast nichts mehr, übergebe mich dafür umso so öfter. Und jeder Würgereflex aus meiner Kehle, jeder Krampf, der mich zusammengesunken vor der Toilette schüttelt, ist eine verbitterte Anklage. Es ist meine Anklage an ihn. An ihn, meine Kostbarkeit.

Wenn ich die wenigen Stunden in der Nacht schlafe, dann träume ich nur von M. Ich träume davon, dass ich ihn besitzen darf. Dass seine blasse reine Haut mir gehört und ich für immer meine Lippen darauf pressen kann. Ich träume von seinem blauschwarzen Haar, welches der Wind berührt und in Strähnen aus der Stirn wirft. Träume von dem Geruch seines Nackens, den harten Schultern und seinem wellenmäßig gewundenen Rücken. Ich träume davon, dass er in mich eindringt und ich ihn stundenlang berühre. Davon, dass er meine Brüste küsst und die Hände auf mein Becken legt. Seine Zunge zwischen meinen Beinen, ich zucke rhythmisch und voll ergeben. Und dann ist er endlich in mir und ich kann ihn schmecken, verzehre mich nach ihm. Und alles ergibt auf einmal Sinn. Alles gleicht der Erfüllung eines Orakels.

Doch in diesem Moment wache ich immer wieder schweißgebadet auf. Mein Körper bebt und ich weiß, dass nichts davon wahr ist. Ich weiß, dass er mich für immer vernichtet hat. Spüre, dass er glücklich ist, doch ich ohne ihn keinen Lichtstrahl sehen kann. Dann denke ich daran, ihn zu verletzen und zu quälen. Denke daran, wie es wäre, ganz langsam mit der Spitze eines Messers in seine Haut einzudringen und fasziniert zuzuschauen, wie das Blut seine blasse Haut in kleinen Rinnsalen hinunterläuft. Ich möchte dann davon kosten, möchte die metallene Nuance seines frischen Blutes schmecken. Oft sehe ich ihn auch vor mir, in einem offenen Grab. Umgeben von schwarzer, feuchter Erde liegt M dort in einem deckellosen Sarg. Sein Gesicht ist bleich und bläulich, die Hände gefaltet auf dem Bauch – seine schönen, lieben Hände. Ich möchte mich zu ihm legen, um für immer in seiner Nähe zu sein. Jemand muss uns zuschaufeln. Und jede Schippe der nassen Erde, die auf mein Gesicht und meinen Körper klatscht, lässt mich mehr mit ihm verschmelzen. Umschlungen, begraben, verdorren, vergehen. Ja, ich bin verliebt. Ja, ich begehre. Aber in meinem Herzen wächst ein tiefer Schmerz. Und mit jedem Tag wird dieser stärker, und das ist alles seine Schuld.

Ich erinnere mich an den Moment, da M Teil meines Lebens wurde. Dieser Moment, der nur wenige Augenblicke andauerte, aber so intensiv war, dass ich seitdem an nichts anderes als an ihn denken kann. Fürsorglich, liebevoll, half er auf dem Schulhof der Grundschule einem gestürzten Jungen auf. Und die Art, wie er sich um den Kleinen kümmerte, sich zu ihm hinab beugte und tröstete, wirkte auf mich so stark, so einfühlend, so ergreifend, dass etwas in mir erwachte. Etwas Unbekanntes mit großer Macht nahm mich allumfänglich ein, besetzte mein Herz und schlug an meine Seele. Als ich M dann wenige Minuten später direkt gegenübersaß, in sein Gesicht und seine Augen blicken konnte, fühlte ich mich wie von einem Strudel ergriffen. Alles in mir schien sich zu drehen und obwohl ich fest auf meinem Stuhl saß, hatte ich das Gefühl, zu taumeln. Christian und ich führten eine der ersten Anmeldungen in der Grundschule durch, dies war der eigentliche Grund unseres Besuches.

Neben uns waren der Direktor der Schule, seine Sekretärin und M als DaZ-Lehrer anwesend. DaZ, so lernten wir bei dem Treffen, steht als Abkürzung für Deutsch als Zweitsprache und die Akteure dieses Unterrichtsfaches, also auch M, versuchen den Migrantenkindern unsere Muttersprache näher zu bringen. Und dieser nunmehr direkte Kontakt, diese Anhäufung gewaltiger Emotionen, hat genau in diesem Moment meine Liebe zu M endgültig manifestiert. Unsere Blicke meinten dasselbe, wir kommunizierten ohne Worte. Ich spürte sein Begehren auf der Haut und versuchte in derselben Intensität mein Verlangen zurückzusenden, in der ich seine Signale empfand. Wir verstanden uns, wir begehrten uns – in diesem Gespräch, bei dieser ersten Begegnung. Heute, wenige Tage später, kann ich mich nicht mehr daran erinnern, welches Kind wir anmeldeten. War es ein Syrer, ein Afghane? Ich weiß es wirklich nicht mehr. Es ist auch völlig unwichtig. Ich weiß nur, dass ich bis heute nicht den Mut gefunden habe, einen weiteren Schritt auf M zuzugehen. Ich habe große Angst, denn wenn sein Beziehungsstatus auf Facebook wirklich stimmen sollte, habe ich mich in einen verheirateten Mann verliebt.

Ich wende mich vom Spiegel ab, ziehe die gepunktete Bluse von BODYFLIRT und den schwarzen Amourette Charm BH von Triumph aus, streife die Bootcut Jeans von Diesel und dann den schwarzen Neo-Goth String von La Perla nach unten, werfe alles auf die Fliesen, streife zum Schluss die schwarzen Söckchen von Falke von meinen Füßen. Viele könnten meinen, ich lebe über meine Verhältnisse, denn ich gebe wirklich fast die Hälfte meines Lohns für Klamotten und Pflegeprodukte aus. Doch in Wahrheit lebe ich sparsam. Ich habe kein Auto, esse so gut wie nichts, gehe nicht aus. Der Konsum von hochwertigen Produkten ist die letzte Bastion, die nur mir gehört, einem Kokon gleicht, und mir kurze Endorphinausstöße beschert. Sicher, es ist eine materielle Oberfläche, die ich mir erschaffen habe, in der Hoffnung, dass die Welt da draußen von mir abprallt. Und dieser Drang, vielleicht sogar Zwang, existierte bereits vor meiner Liebe zu M, doch durch sein Erscheinen intensivierte sich diese Eigenart zusehends. Heute kann ich, wie von Vielem, nicht mehr von ihm lassen. M ist Teil meiner Identität, Teil meines Untergangs geworden.

Ich gehe zum Badezimmerschrank, vermeide es, mich nackt in seinem Spiegel zu erblicken, öffne die kleine Tür und nehme die in einem Zellstofftaschentuch eingewickelte Rasierklinge aus dem obersten Fach. Ich schließe die Schranktür, blicke zu Boden, drehe mich um und gehe zur Wanne. Dort setze ich mich mit den Füßen nach innen auf deren weißen kalten Rand, stelle das heiße Wasser an, welches gleichmäßig und dampfend aus dem Hahn strömt. Fest und entschlossen drücke ich nun die Rasierklinge in das Fleisch meines linken Innenschenkels und schneide eine tiefe streichholzlange Wunde hinein. Der Schmerz kommt beißend und befreiend. Ich seufze laut auf, zittere. Sein Gesicht erscheint vor mir. Ich schreie, kurz und unterdrückt. Jetzt brechen, wie in einem Anfall, Tränen aus mir heraus. Ich schluchze verzweifelt, doch sammle mich schnell wieder, streiche mir die Haare aus dem Gesicht, wische mir die Tränen von den Wangen. Fasziniert blicke ich auf die frische Wunde, wie sie dort aufklafft. Ich sitze auf dem Wannenrand und beobachte das Blut, welches an mir hinab läuft und auf den Emailleboden tropft. Dort vermischt es sich mit dem Wasser zu kleinen nervösen Strudeln, die kurz darauf in blassrote Fäden aufgelöst werden, um schlierend dem Abfluss entgegenzustreben. Wird er begreifen, dass ich diesen Schnitt nur für ihn gesetzt habe? Dass diese Wunde auf meinem Körper eine Kerbe ist, durch ihn geschlagen?

Dinge, an die ich glaube: Ich glaube an die Vergänglichkeit. Ich glaube an die Seele. An das Herz, was in meiner Brust schlägt, aber zerschnitten ist. An die Erinnerungen in meinem Kopf, diese kleine Summe meiner Prägungen. Ich glaube daran, jetzt in diesem Augenblick. An einem Novemberabend, während der nasskalte Wind um das Haus pfeift. Ich glaube, dass wir alle Schuld tragen an dem Entsetzlichen was uns umgibt und wir nichts dagegen tun können. Ich glaube daran, dass ich M liebe und meine Liebe so groß und hingebungsvoll ist, dass sie mich erdrückt. Ich wurde von ihr ausgewählt, bin in ihr gefangen. Und all das gebe ich jetzt preis und lege es in deine Hände. Was kann es Ehrlicheres geben als bedingungslose Liebe? Denke daran, wenn eine Hand dich zärtlich berührt. Denke daran, beim Lachen eines Kindes.

Clausnitz

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