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Und das nennst Du Asyl?“, schreit Christian und hämmert mit der Faust auf das Armaturenbrett. Doch seine Frage ist ein Statement und rhetorischer Natur. Aber ist es nicht eine Tatsache, dass wir auch Klimaflüchtlingen gegenüber moralisch verpflichtet sind? Ich bin mir der Wahl meiner Worte, der Ernsthaftigkeit dieser Frage bewusst, und dennoch erschrecke ich darüber, dass mich Christians Wut so unvermittelt trifft. Die uns umgebende Einöde durchqueren wir mit einem blauen Skoda, der uns Tag für Tag durch diese Szenerie führt. Christian ist beileibe kein sicherer Fahrer und manchmal, wenn sich seine Fahrkünste mit seiner Wut einen Zweikampf liefern, bekomme ich einfach nur Angst.

Wir rasen auf das Flüchtlingsheim zu, welches wir betreuen, denn einmal mehr soll es dort Stress gegeben haben. Schnaufend berichtet Röhm (der Leiter dieser Einrichtung) von betrunkenen Tunesiern, was beileibe kein Einzelfall ist und mir beinahe ein Déjà-vu beschert. Und allein der Fakt, dass wir abermals wegen der Tunesier, die von Christian nur noch NAFRIS genannt werden, das Heim ansteuern, lässt ihn erneut überschäumen. Christian springt auf alles an, was ich oder andere ihm berichten und deutet es sofort in dem Kontext von Migration und Asyl. Bisweilen erzähle ich ihm deshalb das Blaue vom Himmel, denke mir die tollsten Geschichten aus, nur, um ihn aufzuziehen, denn er macht sich ständig Sorgen. Er sorgt sich um seine Gesundheit und sein Wohlbefinden, das Wetter, die Bettler auf den Straßen, die steigenden Preise im Supermarkt, arabischen Antisemitismus, sexuelle Übergriffe von Migranten, grundlose Gewalt in U-Bahnhöfen, den Schmutz im Treppenhaus des Heims und die zerfallende globale Situation. Was in seinem Potpourri aus Sorgen jedoch nicht vorkommt, sind: die Wahlerfolge populistischer Parteien, die Taten des NSU, Kameradschaften und Bürgerwehren, Flat-Earther, Prepper, Truther, der Anstieg rassistischer Übergriffe und die allgemeine Verrohung der deutschen Sprache.

Wir arbeiten seit nunmehr einem Jahr zusammen, verfügen beide über ein Diplom der Sozialen Arbeit, und sind trotz inhaltlicher Differenzen einander sehr vertraut. So gut es geht, kümmern wir uns in dem neu geschaffenen Feld der Flüchtlingssozialarbeit um Asylbewerber und fahren nahezu täglich in die uns vom Landkreis zugewiesene Gemeinschaftsunterkunft. Auf der Rückbank des Skodas kauert Rafik, unser schwuler marokkanischer Sprachmittler. Er ist ein stiller und schüchterner Typ, HIV-positiv, spricht Arabisch, Französisch und ziemlich gut Deutsch. Vor zwei Monaten gehörte Rafik noch zu unserem Klientenstamm, doch wir haben ihn erfolgreich aus dem Heim geholt und mit einem Ehrenamtsvertrag für vierzig Euro die Woche als Sprachmittler bei uns eingestellt. Da er nicht nur in seinem Heimatland, sondern auch im Heim von seinen Glaubensbrüdern drangsaliert wurde, hat ihm das Amt sogar eine Wohnung zugewiesen. Somit ist Rafik automatisch zu Christians Vorzeigemigrant geworden, denn Rafik bestätigt ihm alles, woran er so glaubt. Zum Beispiel daran, dass der Islam in seinen Grundströmungen faschistisch und menschenfeindlich ist und in Marokko Homosexuelle am Baukran aufgeknüpft werden. Oft habe ich Christian berichtigt, dass er eigentlich den Iran meint. Doch das wäre egal, sagt er. Ob nun Mullahs oder Muftis. Wo sei da der Unterschied?

Und trotz all seiner Sorgen weiß Christian nichts von meinem Schmerz. Er weiß nichts von den durchwachten Nächten und dem beißenden Verfall meiner selbst. Nichts von meiner Angst und der Anstrengung, dies alles zu verbergen. Doch vereinzelt ertappt er mich und spricht mich, trotz allem unwissend, auf meine Maskerade an. Dies passiert beispielsweise, wenn ich im Büro an meinem Schreibtisch sitze und eine Stunde schweigend auf das Poster an unserer Tür starre. Dort steht „Selam Deutschland“ und „Vielfalt leben“, aber ich starre nicht darauf, um eine Bedeutung darin zu erkennen, oder mir eine Meinung dazu zu bilden. Ich blicke auf das Poster, da es direkt in meinem zentralen Blickraum hängt. Es ist ganz einfach der visuell auffälligste Punkt, an dem meine Augen hängen bleiben und in den ich mich verkriechen kann. Ständig in der Angst, in Tränen ausbrechen, oder mir mit einem Hammer auf den Daumen schlagen zu müssen. Christian denkt, meine traurigen Aussetzer lägen an ihm. Er glaubt, dass seine Sorgen mich genauso fertig machen. Aber das stimmt nicht. Da liegt er falsch.

Das Heim, oder politisch korrekt ausgedrückt die Gemeinschaftsunterkunft, kurz GU, liegt am Rande unserer kreisfreien Stadt und war früher eine Berufsschule. In einem beispiellosen Kraftakt richtete die Kommune innerhalb eines Monats das Gebäude bezugsfertig her. Sie überzog die Wände mit einer dünnen Schicht Farbe und stellte Spinde und Feldbetten in die großen Räume. Gemeinschaftsküchen und Toiletten, nebst einigen Duschräumen, befinden sich auf jedem Flur. Das Haus ist umgeben von brachliegenden Feldern und einer mit Schlaglöchern übersäten Straße, auf der Christian und ich jetzt mit dem Skoda um die Ecke fahren, um dann, im Zickzackkurs, den Schlaglöchern auszuweichen. Nun sehen wir auch den Streifenwagen vor dem Tor, aus dem gerade zwei Polizeibeamte steigen.

Mit quietschenden Reifen hält Christian neben dem Polizeiauto, und wir bleiben noch eine Weile in unserem Fahrzeug sitzen, warten in diesem uns vertrauten Gefährt, das uns so oft vom Heim weg und zu diesem hinbringt. Um uns herum ist es mit einem Mal ganz ruhig und als Christian den Motor abstellt, höre ich angespannt auf dessen Knistern, als dieser abkühlt. Und während wir da so sitzen und Trostlosigkeit uns umgibt, wünsche ich, dass eine Euphorie mich erfassen und wenigstens ein Stück weit tragen möge. Doch ich werde enttäuscht. „Gut, es nützt ja nichts“, motiviert sich Christian, öffnet die Fahrertür und hievt sich aus dem Auto. Auch ich steige kurz danach aus, schiebe meinen Sitz nach vorn, damit Rafik sich ebenfalls hinausbequemen kann. Nicht selten gelingt es mir, den Alltag im Heim geradezu besessen anzugehen. Das Gefühl, die Hoffnung, Dinge von Grund auf zu verändern und zum Guten bewegen zu können, lassen mich geradezu manisch werden. Doch das ist nicht immer so, ich bewege mich zwischen extremen Polen und ein Doppelleben ist die Folge.

Die beiden Polizisten vor der GU blicken finster. Das Aussehen des untersetzten Beamten lässt vermuten, dass er kurz vor der Pensionierung steht. Vielleicht zählt er die Tage, die er bis dahin in gewohnter Routine bewältigen muss, wartet, wann der erhoffte Ruhestand eintreten möge. Der andere, jung und mit blonden kurzen Haaren, mustert mich eingehend. Seine Beweggründe sind mir ein Rätsel, seine Blicke erscheinen mir anzüglich, doch ich versuche, darüber hinwegzusehen. Wir alle begrüßen uns mit einem trockenen „Hallo“. Aus der Tür der Gemeinschaftsunterkunft sehe ich Röhm kommen, der sich mit schnellen Schritten auf unsere Gruppe zubewegt. Wie so oft sieht er besorgt aus und als er vor uns steht, scheint er Christian, Rafik und mich gar nicht wahrzunehmen. Umso herzlicher begrüßt er die beiden Polizisten, deren Ankunft er scheinbar sehnlichst erwartet hat.

Die Gesprächsfetzen, die ich aufschnappen kann, lassen den Schluss zu, dass vier junge tunesische Männer sturzbetrunken heute Morgen in die GU zurückkehrten, um auf den Fluren der Unterkunft zu randalieren. Auch haben sie versucht, eine albanische Mutter in der Gemeinschaftsküche zu begrapschen, was kurzerhand zu einer Prügelei führte. Röhm und zwei Securitymitarbeiter schritten schließlich ein, um Schlimmeres zu verhindern. Die Folge: körperliche Blessuren auf allen Seiten. Die Abschürfungen am Ellenbogen und ein dicker werdendes blaues Auge sind bei Röhm deutlich zu erkennen, und als sei dies bereits ein erster Beweis, veranlassen sie ihn, dringend Anzeige bei den beiden Polizisten zu erstatten. Und auch wenn er weiß, dass dies völlig sinnlos ist, berichtet er mit Genugtuung und eindringlicher Körpersprache über das Handgemenge. Die Tunesier sind über alle Berge, werden aber spätestens, so seine Hoffnung, zum Zahltag Ende des Monats wieder im Heim aufkreuzen, denn die Asylregelleistung vom Ausländeramt wird monatlich in Röhms Büro bar ausgezahlt.

Christian geht zurück zum Auto, um sich eine Zigarette anzustecken, Rafik, den das alles nicht interessiert, steht in der Gegend rum. Er kennt die Geschehnisse und die Menschen hier im Heim. Auch Christian reagiert gleichgültig, und diese Lethargie, diese Inkonsequenz stört mich. Ich schaue mir das, also Christian am Auto rauchend, Rafik, die zwei Polizisten, daneben Röhm, und alle gemeinsam diskutierend, noch eine Weile an, dann gehe ich hinein ins Heim, um nach Amina und ihren Kindern zu sehen.

Clausnitz

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