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VIERTES KAPITEL

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Später kam John Kane in mein Zimmer geschlurft. Murrend schob er seinen Besen vor sich her, ein Mensch, den ich zu akzeptieren gelernt habe wie alle Dinge hier, die man, wenn man sie nicht ändern kann, ertragen muss.

Mit leisem Grauen bemerkte ich, dass sein Hosenstall offen stand. Seine Hose ist mit einer Reihe klobig aussehender Knöpfe verziert. Er ist ein kleiner Mann, zugleich aber ganz Muskeln und Manneskraft. Irgendetwas stimmt mit seiner Zunge nicht, weil er alle Augenblicke mit son der barer Mühsal schlucken muss. Sein Gesicht ist von einem Schleier dunkelblauer Äderchen überzogen, wie das Gesicht eines Soldaten, der beim Abfeuern einer Kanone zu dicht an die Mündung gekommen ist. In der Gerüchteküche der Anstalt genießt er einen schlechten Ruf.

»Ich verstehe nicht, wozu Sie all die Bücher brauchen, Missus, Sie haben doch gar keine Brille, um sie zu lesen.«

Dann schluckte er wieder, schluckte.

Ich kann auch ohne Brille sehr gut sehen, aber das verriet ich ihm nicht. Er bezog sich auf die drei Bände in meinem Besitz, die Ausgabe der Religio Medici meines Vaters, Der Jagdhund des Himmels und Mr Whitmans Grashalme.

Alle drei vergilbt und abgegriffen.

Doch ein Gespräch mit John Kane kann überallhin führen, wie die Gespräche mit Jungs, als ich noch ein Mädchen von zwölf oder dreizehn Jahren war, eine Schar von Jungs an unserer Straßenecke, die gleichmütig im Regen standen und mir mit leiser Stimme Dinge zuflüsterten – jedenfalls zu Anfang noch mit leiser Stimme. Hier, inmitten der Schatten und fernen Rufe, ist Schweigen die größte Tugend.

Die, die sie nähren, lieben sie nicht; die, die sie kleiden, fürchten nicht um sie.

Das ist irgendein Zitat, aber was oder woher, weiß ich nicht.

Selbst Geschwafel ist gefährlich, Schweigen ist besser.

Ich bin schon lange Zeit hier, und in dieser Zeit habe ich die Tugend des Schweigens ganz zweifellos erlernt.

Der alte Tom hat mich hier eingewiesen. Ich glaube, dass er’s war. Sich selbst zuliebe, denn er arbeitete als Schneider in der Irrenanstalt von Sligo. Ich glaube, er hat auch Geld dazugegeben, wegen dieses Zimmers. Oder zahlt Tom, mein Mann, für mich? Aber der kann doch gar nicht mehr am Leben sein. Es ist nicht die erste Anstalt, in die ich eingewiesen wurde, die erste war –

Aber mir geht’s nicht um Schuldzuweisungen. Dies ist ein anständiger Ort, wenn auch kein Zuhause. Wenn es mein Zuhause wäre, würde ich verrückt!

Oh, ich muss mich ermahnen, mich klar auszudrücken und sicher zu sein, dass ich weiß, was ich Ihnen da erzähle. Jetzt kommt es auf Richtigkeit und Genauigkeit an.

Dies ist ein guter Ort. Dies ist ein guter Ort.

Wie ich höre, gibt es hier in der Nähe eine Stadt. Die Stadt Roscommon. Ich weiß nicht, wie weit es bis dorthin ist, nur, dass ein Feuerwehrauto für die Strecke eine halbe Stunde braucht.

Das weiß ich deswegen, weil John Kane mich eines Nachts vor vielen Jahren aus dem Schlaf gerissen hat. Er führte mich hinaus auf den Flur und trieb mich zwei, drei Treppen hinunter. In einem der Gebäudeflügel war ein Feuer ausgebrochen, und er wollte mich in Sicherheit bringen.

Statt mich direkt ins Erdgeschoss zu geleiten, durchquerte er einen langen, dunklen Saal, in dem sich auch Ärzte und andere Mitarbeiter versammelt hatten. Von unten stieg Rauch auf, aber der Saal galt als sicher. Allmählich lichtete sich das Dunkel, oder meine Augen gewöhnten sich daran.

Es standen an die fünfzig Betten darin, ein langer, schmaler Saal, dessen Vorhänge alle zugezogen waren. Dünne, zerschlissene Vorhänge. Alte, alte Gesichter, so alt wie meines jetzt. Ich war erstaunt. Sie hatten nicht allzu weit von mir entfernt gelegen, und ich hatte nichts davon gewusst. Alte, stumme Gesichter, die erstarrt dalagen, wie fünfzig russische Ikonen. Wer waren sie? Nun, es waren Ihre Angehörigen. Sprachlos, stumm schliefen sie dem Tod entgegen, krochen auf blutenden Knien unserem Herrn entgegen.

Ein Völkerstamm von Frauen, die einmal Mädchen gewesen waren. Ich flüsterte ein Gebet, um ihre Seelen rascher in den Himmel zu befördern. Denn ich glaube, sie krochen nur sehr langsam dorthin.

Vermutlich sind sie alle längst tot, zumindest ein Großteil von ihnen. Ich bin nie wieder dort gewesen. Nach einer halben Stunde traf das Löschfahrzeug ein. Daran kann ich mich noch erinnern, weil einer der Ärzte eine diesbezügliche Bemerkung machte.

Diese Orte, so ganz anders als die Welt da draußen, Orte ohne all die Dinge, derentwegen wir die Welt preisen. Wo Schwestern, Mütter, Großmütter, Jungfern liegen, allesamt vergessen.

Die Menschenstadt in der Nähe schläft und wacht, wacht und schläft und vergisst ihre verlorenen Frauen dort, in langen Reihen.

Eine halbe Stunde. Ein Brand brachte mich dazu, sie zu sehen. Nie wieder.

Die, die sie nähren, lieben sie nicht.

»Brauchen Sie das noch?«, fragt John Kane dicht an meinem Ohr.

»Was ist es?«

Es lag auf seinem Handteller. Die halbe Schale eines Vogeleis, blau wie die Äderchen in seinem Gesicht.

»O ja, danke«, sagte ich. Es war etwas, das ich vor vielen Jahren im Park aufgelesen hatte. Das Ei hatte in einer Fensternische gelegen, und bis dahin hatte er es nie erwähnt. Aber es hatte dort gelegen, blau, ohne jeden Makel und alterslos. Und doch ein altes Ding. Vor vielen, vielen Vogelgenerationen.

»Vielleicht ist es ein Rotkehlchenei«, meinte er.

»Vielleicht«, antwortete ich.

»Oder ein Lerchenei.«

»Ja.«

»Jedenfalls lege ich es zurück«, sagte er und schluckte erneut, als wäre seine Zunge an der Wurzel verhärtet. Einen Augenblick lang trat sein Adamsapfel hervor.

»Ich weiß nicht, wo all der Staub herkommt«, sagte er. »Jeden Tag fege ich das Zimmer aus, aber dauernd liegt da Staub, weiß Gott, uralter Staub. Nicht etwa neuer Staub, niemals neuer Staub.«

»Nein«, sagte ich. »Nein. Verzeihen Sie.«

Er richtete sich einen Moment auf und sah mich an.

»Wie heißen Sie?«, fragte er.

»Ich weiß nicht«, sagte ich in einem Anfall von Panik. Ich kenne ihn schon seit Jahrzehnten. Warum stellte er mir diese Frage?

»Sie wissen Ihren eigenen Namen nicht?«

»Ich weiß ihn. Ich vergesse ihn.«

»Warum klingen Sie so erschrocken?«

»Ich weiß nicht.«

»Dazu besteht keine Veranlassung«, sagte er, fegte den Staub sorgsam auf sein Kehrblech und schickte sich an, das Zimmer zu verlassen. »Wie auch immer, ich weiß Ihren Namen.«

Ich fing an zu weinen, nicht wie ein Kind, sondern wie die alte, alte Frau, die ich bin, langsame, leichte Tränen, die niemand sieht, die niemand trocknet.

Ehe mein Vater wusste, wie ihm geschah, brach der Bürgerkrieg über uns herein.

Ich schreibe dies nieder, um meine Tränen zu stillen. Ich stoße die Worte mit meinem Kugelschreiber in das Papier, als wollte ich mich selbst festheften.

Vor dem Bürgerkrieg gab es einen anderen Krieg, einen Krieg dagegen, dass das Land von England aus regiert wurde, aber in Sligo fanden keine größeren Kämpfe statt.

Ich zitiere Jack, den Bruder meines Mannes, wenn ich dies schreibe, oder zumindest höre ich aus meinen Sätzen Jacks Stimme heraus. Jacks verschwundene Stimme. Neutral. Wie meine Mutter war Jack ein Meister des neutralen Tonfalls, wenn auch nicht der Neutralität. Denn am Ende zog Jack sich eine englische Uniform an und kämpfte in jenem späteren Krieg – fast hätte ich gesagt, in jenem echten Krieg – gegen Hitler. Auch er war ein Bruder von Eneas McNulty.

Die drei Brüder Jack, Tom und Eneas. O ja.

Im Westen Irlands besteht der Name Eneas übrigens aus drei Silben: En-i-as. In Cork, fürchte ich, sind’s nur zwei, und es hört sich eher nach Anus an.

Aber der Bürgerkrieg wurde durchaus in Sligo und an der gesamten Westküste ausgefochten, mit grimmigem Eifer.

Die Freistaatler hatten den Vertrag mit England akzeptiert. Die sogenannten Irregulären hatten davor zurückgescheut wie Pferde vor einer zerstörten Brücke im Dunkeln. Denn der Norden des Landes war aus der ganzen Angelegenheit ausgespart worden, und ihnen kam es so vor, als sei ein Irland ohne Haupt akzeptiert worden, ein Torso, dem der Kopf abgeschlagen worden ist. Es war Carsons Bande im Norden, die sie weiterhin an England fesselte.

Es war mir stets ein Rätsel, weshalb Jack sich so stolz damit brüstete, ein Cousin von Carson zu sein. Aber das nur am Rande.

Damals herrschte in Irland viel Hass. Ich war vierzehn, ein Mädchen, das versuchte, in die Welt hinauszublühen. Überall Wut und Hass.

Lieber Father Gaunt. So darf ich Sie doch anreden? Nie zuvor hat ein so rechtschaffener und ehrlicher Mann einem jungen Mädchen so viel Schmerz zugefügt. Denn ich glaube nicht einen Moment lang, dass er aus böser Absicht gehandelt hat. Und doch hat er mich kujoniert, wie die Landbevölkerung es nennt. Und in der Zeit davor hatte er meinen Vater kujoniert.

Ich habe schon gesagt, dass er ein kleiner Mann war. Damit meine ich, dass sein Scheitel den meinen nicht überragte. Geschäftig, hager und gepflegt mit seinen schwarzen Kleidern und seinem kurz geschorenen Haar wie ein zum Tode Verurteilter.

In meine Gedanken drängt sich die Frage: Was meint Dr. Grene damit, dass er meinen Fall neu bewerten muss? Damit ich hinausgehen kann in die Welt? Wo ist diese Welt?

Er muss mich befragen, hat er gesagt. Hat er. Da bin ich mir sicher, und doch höre ich ihn so richtig erst jetzt, da er schon lange aus dem Zimmer ist.

Die Panik in mir ist schwärzer als abgestandener Tee.

Ich bin wie mein Vater auf seinem alten Motorrad, der, na klar, in rasendem Tempo dahinjagt, sich aber so am Lenker festklammert, dass er eine Art Sicherheit genießt.

Lösen Sie bloß nicht meine Finger vom Lenker, Dr. Grene, ich flehe Sie an.

Fort aus meinen Gedanken, guter Doktor.

Father Gaunt, eilen Sie herbei aus den Schlupfwinkeln des Todes, eilen Sie herbei und nehmen Sie seinen Platz ein.

Stellen Sie sich vor mich hin, während ich krickele und krakele.

Der folgende Bericht mag sich anhören wie eine der Geschichten meines Vaters aus seinem kleinen Evangelium, aber diese hat er nie so richtig zum Vortrag gebracht oder so ausgeschmückt, dass sie sich wie zu einem Lied rundet. Ich liefere Ihnen sozusagen die bloßen Knochen, mehr habe ich nicht zu bieten.

Im Lauf dieses Krieges gab es zweifellos viele Todesfälle, und viele Todesfälle, die eigentlich nichts anderes waren als Mord. Natürlich oblag es meinem Vater, einige von diesen Toten auf seinem schmucken Friedhof beizusetzen.

Mit vierzehn war ich noch halb Kind und schon halb Frau. Ich besuchte eine kleine Klosterschule und war durchaus nicht gleichgültig gegenüber den Jungs, die nach dem Unterricht am Schultor vorüberschlurften, ja, ich scheine mich sogar daran zu erinnern, dass ich glaubte, von ihnen steige eine Art Musik auf, eine Art menschlichen Gesumms, das ich nicht begriff. Wie ich darauf kam, von so rohen Gestalten Musik aufsteigen zu hören, weiß ich aus dem Abstand dieser Jahre nicht mehr. Aber das ist nun mal die Zauberkunst der Mädchen: Sie verwandeln bloßen Lehm in große, klassische Ideen.

So schenkte ich also meinem Vater und seiner Welt nur halbe Aufmerksamkeit. Ich war mehr mit meinen eigenen Mysterien befasst, etwa mit der Frage, wie ich meinen grässlichen Haaren Locken einbrennen konnte. Viele, viele Stunden mühte ich mich mit dem Krageneisen meiner Mutter ab, mit dem sie immer das Sonntagshemd meines Vaters bügelte. Es war ein schlankes, schmales Gerät, das sich auf der Kaminplatte rasch erhitzte, und wenn ich meine glatten gelben Strähnen auf dem Tisch ausbreitete, hoffte ich, durch Alchimie Locken in sie hineinzaubern zu können. So war ich von den Ängsten und Ambitionen meines Alters völlig in Anspruch genommen.

Dennoch hielt ich mich oft im Tempel meines Vaters auf, erledigte meine Hausaufgaben und genoss das kleine Kohlenfeuer, das er dank seiner Brennstoffbeihilfe dort unterhalten konnte. Ich lernte meinen Unterrichtsstoff und hörte ihm zu, wie er »Im Traume sah ich mich im Marmorsaal« oder dergleichen sang. Und sorgte mich um mein Haar.

Was würde ich heute für ein paar Strähnen dieses glatten gelben Haares geben!

Mein Vater beerdigte jeden, der ihm zur Beerdigung übergeben wurde. In Friedenszeiten beerdigte er meist die Alten und die Siechen, doch in Zeiten des Krieges wurde ihm häufig der Leichnam eines jungen Burschen oder eines nur unwesentlich Älteren gebracht.

Dies bereitete ihm einen Kummer, den er sich bei den Alten und Schwachen nie anmerken ließ. Deren Tod, so dachte er, war unkompliziert und hatte seine Richtigkeit, und ob die Familienangehörigen und die Trauergäste am Grab nun weinten oder stumm blieben, er wusste, dass alle das Gefühl angemessener Lebensdauer und Gerechtigkeit hatten. Oft hatte er die alte Seele, die beigesetzt werden sollte, persönlich gekannt und teilte Erinnerungen und Anekdoten, wenn es ihm tröstlich und angemessen erschien. In diesen Fällen war er eine Art Diplomat des Leides.

Doch die Leichen der im Krieg Gefallenen betrübten ihn sehr, und zwar auf andere Weise. Man könnte meinen, als Presbyterianer sei ihm in der irischen Geschichte kein Platz vergönnt gewesen. Doch Rebellion, das verstand er. In einer Schublade in seinem Schlafzimmer verwahrte er ein Gedenkbuch an den Osteraufstand 1916 mit Fotos der wichtigsten Teilnehmer und einem Kalender der Kämpfe und Kümmernisse. Das einzig Schlimme, das der Aufstand für ihn beinhaltete, war dessen eigentümlich katholisches Ethos, von dem er sich natürlich ausgeschlossen fühlte.

Es war der Tod der jungen Männer, der ihn betrübte. Immerhin waren seit dem Gemetzel des Ersten Weltkriegs nur wenige Jahre vergangen. Von Sligo aus waren in den Jahren vor und nach dem Aufstand Hunderte von Männern losgezogen, um in Flandern zu kämpfen, und da die in diesem Krieg Gefallenen nicht zu Hause begraben werden konnten, waren diese Dutzende Männer gewissermaßen in meinem Vater begraben, im geheimen Friedhof seiner Gedanken. Jetzt, im Bürgerkrieg, noch mehr Tote, und immer die Jungen. Jedenfalls gab es in Sligo keinen Fünfzigjährigen, der im Bürgerkrieg gekämpft hatte.

Nicht, dass er dagegen gewettert hätte, er wusste ja, dass es in jeder Generation Kriege gab; er widmete sich diesen Dingen vielmehr auf eine eigentümlich professionelle Art, denn schließlich war er zum Hüter der Toten berufen, ein König des Nicht-mehr.

Father Gaunt selbst war noch jung, und man hätte erwartet, dass er sich den Gefallenen auf besondere Weise verbunden fühlte. Doch Father Gaunt war so glatt und gepflegt, dass menschliches Leid zu ihm gar nicht durchdrang. Er war wie ein Sänger, der zwar die Worte kennt und die Töne halten kann, aber unfähig ist, das Lied so zu singen, wie es im Herzen des Komponisten erdacht wurde. Meistens blieb er unberührt. Über Junge und Alte sprach er mit derselben trockenen Musik hinweg.

Aber ich will nichts gegen ihn sagen. In Ausübung seines Amtes ging er in Sligo überallhin, in der Stadt trat er in düstere Zimmer, in denen verarmte Junggesellen sich an Bohnen aus Dosen mästeten, und am Fluss in verlauste Hütten, die selbst wie alte, verhungernde Männer aussahen, mit verrottendem Stroh als Haar und kleinen, stieren, trüben, schwarzen Fenstern als Augen. Dort ging er hinein, bekanntlich ohne je einen Floh oder eine Laus wieder mit hinauszunehmen. Denn er war reiner als der Tagmond.

Und wenn man ihm in die Quere kam, war ein so kleiner, reiner Mann wie ein Sensenblatt; Gras, Dornengestrüpp und die Halme menschlicher Natur mähte er einfach nieder, wie mein Vater herausfinden sollte.

Es geschah folgendermaßen.

Eines Abends, als mein Vater und ich uns im Tempel die Zeit vertrieben, bis wir zum Abendessen nach Hause zurück kehren sollten, hörten wir draußen vor der alten Eisentür ein Schlurfen und Murmeln. Mein Vater sah mich an, wachsam wie ein Hund, bevor er anschlägt.

»Was ist denn das?«, fragte er, mehr sich selbst als mich.

Drei Männer kamen herein, die einen vierten trugen, und als würden sie von einer unsichtbaren Kraft vorangetrieben, fegten sie mich vom Tisch weg, und bevor ich wusste, wie mir geschah, streifte der Rücken meiner Schuluniform den feuchten Kalk der Wand. Die Männer waren wie ein kleiner Wirbelsturm an Betriebsamkeit. Sie waren alle jung, und der Mann, den sie trugen, war bestimmt nicht älter als siebzehn. Ein recht hübscher Kerl, hochgewachsen und in grober Kleidung, mit viel Schlamm und Grasflecken vom Torfmoor, und viel Blut. Sehr viel dünn aussehendes Blut auf seinem Hemd. Und offensichtlich war er mausetot.

Die anderen drei Burschen kläfften und winselten fast hysterisch, was wiederum Hysterie in mir aufkeimen ließ. Mein Vater jedoch stand düster vor seinem Kamin, wie ein Mann, der sich anstrengt, geheimnisvoll zu wirken, das Gesicht so ausdruckslos wie möglich, aber wie ich fand, doch bereit, einem Gedanken nachzugehen und, falls erforderlich, dementsprechend zu handeln. Denn die drei Jungen waren mit alten Gewehren behängt, und ihre Taschen beulten sich von anderen Waffen, die sie vielleicht nach einem Scharmützel wahllos aufgelesen hatten. Ich wusste, Waffen waren die knappste Kriegswährung.

»Was habt ihr vor, Jungs?«, fragte mein Vater. »Es gibt bestimmte Regeln dafür, wie Leichen hier hereingebracht werden, wisst ihr, und ihr könnt nicht einfach aus heiterem Himmel einen Jungen hier abladen. Habt Erbarmen.«

»Mr Clear, Mr Clear«, sagte einer der Männer, ein Bursche mit ernstem Gesicht und mit der Läuse wegen kurz geschorenen Haaren, »wir konnten ihn nirgendwo anders hinbringen.«

»Sie kennen mich?«, fragte mein Vater.

»Ich kenne Sie gut genug. Jedenfalls weiß ich, wes Gottes Kind Sie sind, und die, die es wissen müssen, haben mir gesagt, dass Sie nicht gegen uns sind, anders als so mancher Narr hier in Sligo.«

»Das mag schon sein«, sagte mein Vater, »aber wer seid ihr? Seid ihr Freistaatler, oder gehört ihr zu den andern?«

»Sehen wir etwa aus wie Freistaatler, mit dem halben Bergmoor in den Haaren?«

»Nein, das nicht. Also, Jungs, was wollt ihr von mir? Wer ist der Kerl da?«

»Der arme Mann da«, antwortete derselbe Redner, »ist Willie Lavelle, und er war siebzehn Jahre alt und ist oben auf dem Berg umgebracht worden, von einem Haufen gemeiner, gedankenloser, schändlicher Schweinehunde, die sich Soldaten schimpfen, aber keine sind, und uns schlimmer behandeln als wie irgendein Black and Tan aus dem letzten Krieg. Jedenfalls genauso bös und übel. Denn wir waren so hoch oben auf dem Berg, dass uns bitterkalt war und wir Hunger hatten, und der Junge da hat sich ihnen ergeben, und wir haben uns im Heidekraut versteckt, aber die mussten ihn natürlich schlagen und treten und ihm Fragen stellen. Und gelacht haben sie, und einer hat dem Jungen die Pistole ins Gesicht gehalten, und er war der Tapferste von uns allen, aber bei allem gebotenen Respekt, Mädchen«, sagte er zu mir, »er hatte solchen Schiss, dass er sich in die Hosen gepinkelt hat, denn er wusste es genau, man weiß das immer, sagen die Leute, wenn jemand einen erschießen wird, Sir, und weil die meinten, niemand ist in der Nähe, niemand schaut zu, und niemand sieht ihre Schandtat, haben sie ihm drei Kugeln in den Bauch gejagt. Und sind fröhlich davongezogen, den Berg hinab. Bei Gott, wenn Willie beerdigt ist, nehmen wir ihre Spur auf, stimmt’s, Jungs? – und wenn wir sie finden, machen wir sie fertig.«

Dann tat der Mann etwas Unerwartetes, er brach in heftige Tränen aus, warf sich über den Leichnam seines gefallenen Kameraden und stieß einen leisen Schmerzensschrei aus, wie man ihn weder davor noch danach je gehört hat, obwohl es doch ein kleiner Tempel des Schmerzes war.

»Sachte, John«, sagte einer der anderen. »Wir sind in der Stadt, auch wenn der Leichenacker hier dunkel und still ist.«

Aber der Erste fuhr fort zu jammern und lag auf der Brust des Toten wie – ich wollte schon sagen, wie ein Mädchen, aber so nun auch wieder nicht.

Auf jeden Fall war ich bis zum Kragen meiner Schulbluse von Entsetzen erfüllt, natürlich war ich das. Mein Vater hatte seine Gelassenheit verloren und ging zwischen dem Kamin und seinem Sessel mit den wenigen flachgedrückten alten Kissen aus ehemals rotem Stoff rasch auf und ab.

»Mister, Mister«, sagte der Dritte, ein aufgeschossener, magerer Bursche, der mir noch nie begegnet war und der mit seiner Hose, die ihm nicht einmal bis zu den Knöcheln reichte, aussah, als sei er geradewegs einem Berghof entsprungen. »Sie müssen ihn sofort beerdigen.«

»Ich kann einen Mann nicht ohne Priester beerdigen, ganz zu schweigen davon, dass ihr bestimmt keine Grabstelle gekauft habt.«

»Wie sollen wir Grabstellen kaufen, wenn wir für die Irische Republik kämpfen?«, fragte der erste Mann, der seine Tränen hinunterschluckte. »Ganz Irland ist unsere Grabstelle. Uns kann man überall verbuddeln. Denn wir sind Iren. Vielleicht verstehen Sie davon nichts.«

»Ich hoffe doch, dass auch ich Ire bin«, sagte mein Vater, und ich wusste, dass die Bemerkung ihn gekränkt hatte. In Wahrheit waren Presbyterianer in Sligo nicht sonderlich gelitten, ich weiß nicht recht den Grund dafür. Es sei denn, es war darauf zurückzuführen, dass in der Vergangenheit eine Menge Bekehrungsarbeit geleistet wurde, im Westen gab es eine presbyterianische Mission und dergleichen, die, selbst wenn ihr kein durchschlagender Erfolg beschieden war, der Gemeinde in Zeiten schrecklicher Hungersnot doch eine Anzahl Katholiken beschert und so unter den Leuten Angst gesät und Misstrauen geschürt hatte.

»Sie müssen ihn beerdigen«, sagte der dritte Mann. »Das da drüben auf dem Tisch ist Johns kleiner Bruder.«

»Das ist Ihr Bruder?«, fragte mein Vater.

Plötzlich war der Mann vollkommen reglos und still.

»Ja«, antwortete er.

»Das ist sehr traurig«, sagte mein Vater. »Das ist wirklich sehr traurig.«

»Und er hat keinen Priester gehabt, der ihn losspricht. Wäre es möglich, einen Priester für ihn zu rufen?«

»Der Priester hier ist Father Gaunt«, sagte mein Vater. »Ein guter Mann. Wenn ihr möchtet, kann ich Roseanne zu ihm schicken.«

»Aber sie darf ihm nichts verraten, nur dass er herkommen soll, und auf dem Weg darf sie mit niemandem reden, schon gar nicht mit irgendeinem Soldaten des Freistaats, denn wenn sie es tut, werden wir hier alle umgebracht. Sie werden uns ohne viel Federlesens umbringen, genauso wie Willie auf dem Berg, das steht fest. Ich würde Ihnen ja sagen, dass wir Sie umbringen, wenn sie redet, aber ich bin mir nicht sicher, ob wir das wirklich fertigbrächten.«

Mein Vater sah ihn erstaunt an. Und es schien eine so ehrliche und höfliche Bemerkung, dass ich mir vornahm, mich an die Anweisung zu halten und mit niemandem zu reden.

»Außerdem haben wir gar keine Kugeln, weswegen wir uns wie die Hasen im Heidekraut versteckt und uns nicht gerührt haben. Ich wünschte, wir hätten uns gerührt, Jungs,« sagte der Bruder des Toten, »und hätten uns aufgerappelt und uns auf sie gestürzt, denn das ist keine Art, in der Welt zu sein: Willie tot und wir am Leben.«

Und er brach wieder zusammen und weinte erbarmungswürdig.

»Lasst man gut sein«, sagte mein Vater. »Ich werde Roseanne zu Father Gaunt schicken. Geh nur, Roseanne, tu, was ich dir sage, lauf zum Pfarrhaus und hol Father Gaunt, sei ein braves Mädchen.«

Also rannte ich hinaus auf den windigen, winterlichen Friedhof und durch die Alleen der Toten und hinaus auf die Kuppe der hügeligen Straße, die nach Sligo hin abfällt, eilte hinab und erreichte schließlich das Haus des Priesters, lief durch sein kleines Eisentor und den Kiesweg entlang und warf mich gegen seine massive Tür, die dunkelgrün gestrichen war wie das Blatt einer Schusterpalme. Nun, da ich mich von meinem Vater entfernt hatte, dachte ich nicht mehr an Brennscheren und Haare, sondern an sein Leben, denn ich wusste, dass die drei Überlebenden Gräuel erfahren hatten, und wer Gräuel erfahren hat, der mag sie mit ebensolchen vergelten, das ist das Gesetz des Lebens und des Krieges.

Gott sei Dank zeigte Father Gaunt schon bald sein hageres Gesicht an der Tür, und ich schnatterte drauflos und flehte ihn an, mitzukommen zu meinem Vater, er werde dort dringend gebraucht, und würde er kommen, würde er kommen?

»Ich werde kommen«, sagte Father Gaunt, denn er war keiner von denen, die vor einem zurückscheuen, wenn man sie braucht, wie so viele seiner Amtsbrüder, die zu stolz sind, um den Regen in ihrem Mund zu schmecken. Und tatsächlich, als wir den Hügel hinaufgingen, schlug uns der Regen ins Gesicht, und bald glänzte die Vorderseite seines langen schwarzen Mantels vor Nässe, und ich auch, denn was mich betrifft, so hatte ich keinen Mantel an gezogen, sondern zeigte der Welt nur meine nassen Beine.

»Welcher Mensch braucht mich denn?«, fragte der Priester misstrauisch, als ich ihn durch das Friedhofstor führte.

»Der Mensch, der Sie braucht, ist tot«, antwortete ich.

»Wenn er tot ist, wozu dann die große Eile, Roseanne?«

»Der andere Mensch, der Sie braucht, lebt noch. Es ist sein Bruder, Hochwürden.«

»Verstehe.«

Auch die Grabsteine auf dem Friedhof glänzten vor Nässe, und auf den Wegen tanzte der Wind, sodass man nicht wusste, wo der Regen einen erwischen würde.

Als wir zu dem kleinen Tempel gelangten und eintraten, hatte sich die Szene kaum verändert: als wären die vier Lebenden und ganz gewiss der Tote, als ich hinausging, eingefroren und hätten sich nicht von der Stelle gerührt. Als Father Gaunt eintrat, wandten ihm die irregulären Soldaten ihre jungen Gesichter zu.

»Father Gaunt«, sagte mein Vater. »Es tut mir leid, dass Sie herkommen mussten. Die Burschen hier haben mich gebeten, Sie rufen zu lassen.«

»Halten sie Sie etwa gefangen?«, erkundigte sich der Priester, erzürnt über den Anblick von Gewehren.

»Nein, nein.«

»Ich hoffe, Sie werden mich nicht erschießen«, sagte Father Gaunt.

»In diesem Krieg ist noch kein Priester nich’ erschossen worden«, antwortete der Mann, den ich bei mir den dritten Mann nannte. »So schlimm es auch ist. Nur der arme Kerl hier ist erschossen worden, Johns Bruder Willie. Er ist mausetot.«

»Ist er schon lange tot?«, fragte Father Gaunt. »Hat jemand ihm den letzten Atemzug genommen?«

»Ich«, antwortete der Bruder.

»Dann schenken Sie ihm seinen Atemzug jetzt wieder«, sagte Father Gaunt, »und ich werde ihn segnen. Und seine arme Seele zum Himmel auffahren lassen.«

Also küsste der Bruder seinen Bruder auf den leblosen Mund und schenkte ihm den letzten Atemzug wieder, den er im Augenblick seines Todes eingeatmet hatte. Und Father Gaunt segnete ihn, beugte sich zu ihm und schlug das Zeichen des Kreuzes über ihm.

»Können Sie ihn lossprechen, Hochwürden, damit er geläutert in den Himmel kommt?«

»Hat er einen Mord begangen, hat er in diesem Krieg einen anderen Mann getötet?«

»Im Krieg einen Mann zu töten ist kein Mord. Es ist nur der Krieg selbst.«

»Mein Freund, Sie wissen sehr wohl, dass die Bischöfe uns verboten haben, euch loszusprechen, denn sie haben entschieden, dass euer Krieg unrecht ist. Aber ich will ihn lossprechen, wenn ihr mir versichert, dass er, soweit ihr wisst, keinen Mord begangen hat. Das will ich tun.«

Da blickten die drei einander an. Auf ihren Gesichtern stand eine seltsam dunkle Furcht. Es waren junge Katholiken, und sie fürchteten sich vor diesem Priester, sie fürchteten sich davor, ihm eine Lüge aufzutischen, und sie fürchteten sich davor, in ihrer Pflicht zu versagen, ihrem Kameraden zum Himmel zu verhelfen, und ich bin sicher, dass sich jeder von ihnen auf der Suche nach einer wahrheitsgetreuen Antwort das Hirn zermartete, denn nur die Wahrheit würde den Toten ins Paradies befördern.

»Nur die Wahrheit wird euch dienlich sein«, sagte der Priester, und ich zuckte zusammen, da seine Worte ein Echo meiner eigenen Gedanken waren. Es waren die schlichten Gedanken eines schlichten Mädchens, aber vielleicht ist der katholische Glaube in seinen Grundannahmen ja selbst schlicht.

»Keiner von uns hat ihn irgendetwas Derartiges tun sehen«, sagte der Bruder schließlich. »Sonst würden wir’s sagen.«

»Dann ist es ja gut«, sagte der Priester. »Und Sie haben mein aufrichtiges Beileid. Und es tut mir leid, dass ich fragen musste. Sehr leid.«

Er trat dicht an den Toten heran und berührte ihn mit äußerster Behutsamkeit.

»Ich spreche dich los von deinen Sünden im Namen des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes.«

Und alle Anwesenden, mein Vater und ich eingeschlossen, sagten Amen dazu.

Ein verborgenes Leben (Steidl Pocket)

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