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DRITTES KAPITEL

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Liebe Leserin, lieber Leser! Wenn Sie sanft- und gutmütig sind, wünschte ich, ich könnte Ihnen die Hand drücken. Ich wünsche mir – allerlei Unmögliches. Doch auch wenn ich Sie nicht um mich habe, so habe ich doch andere Dinge. Es gibt Augenblicke, da ich von einer unerklärlichen Freude durchdrungen bin, als besäße ich, indem ich gar nichts besitze, die ganze Welt. Als hätte ich, indem ich bis in diesen Raum vorgedrungen bin, das Vorzimmer zum Paradies gefunden, und bald wird es sich mir öffnen, und ich werde ins Paradies eingehen wie eine Frau, die für ihre Schmerzen entschädigt wird, eingehen in diese grünen Wiesen und hingeschmiegten Gehöfte. So grün, dass das Gras geradezu leuchtet!

Heute Morgen kam Dr. Grene herein, und hastig musste ich meine Blätter zusammenraffen und verstecken. Denn ich wollte nicht, dass er sie sieht oder mich ausfragt, denn dies hier enthält bereits Geheimnisse, und meine Geheimnisse sind mein Glück und mein Heil. Gottlob hörte ich ihn schon von weitem den Gang entlangkommen, denn er hat Eisenbeschläge unter den Absätzen. Gottlob leide ich auch kein bisschen an Rheumatismus oder sonst irgendeinem Gebrechen, das mit meinem Alter zu tun hat, zumindest nicht in den Beinen. Meine Hände, meine Hände sind leider nicht mehr, was sie mal waren, aber die Beine halten sich wacker. Die Mäuse, die hinter der Scheuerleiste entlanghuschen, sind zwar schneller, aber das waren sie schließlich schon immer. Eine Maus ist eine fantastische Athletin, wenn’s drauf ankommt, da gibt’s kein Vertun. Aber bei Dr. Grene war ich schnell genug.

Er klopfte an, was schon mal ein Fortschritt ist gegenüber dem armen Teufel, der mein Zimmer putzt, John Kane, falls sein Name so geschrieben wird – ich schreibe ihn zum ersten Mal auf –, und als er die Tür endlich öffnete, saß ich an einem leeren Tisch.

Da ich Dr. Grene nicht für einen schlechten Menschen halte, lächelte ich.

Es war ein Morgen von beträchtlicher Kälte, und auf alles im Zimmer hatte sich ein Frostschleier gelegt. Alles schimmerte. Ich selbst hatte mich in meine vier Kleider gemummt, und mir war mollig warm.

»Hmm, hmm«, sagte er. »Roseanne. Hmm. Wie geht es Ihnen denn so, Mrs McNulty?«

»Mir geht es sehr gut, Dr. Grene«, sagte ich. »Das ist aber freundlich von Ihnen, mich zu besuchen.«

»Es ist meine Pflicht, Sie zu besuchen«, entgegnete er. »Ist das Zimmer heute schon geputzt worden?«

»Nein«, antwortete ich. »Aber John wird bestimmt bald hier sein.«

»Das nehme ich auch an«, sagte Dr. Grene.

Dann durchquerte er das Zimmer und sah aus dem Fens ter.

»Heute ist der bislang kälteste Tag des Jahres«, sagte er.

»Bislang«, sagte ich.

»Und haben Sie alles, was Sie brauchen?«

»Im Großen und Ganzen ja«, antwortete ich.

Dann setzte er sich auf mein Bett, als sei es das reinlichste Bett der Christenheit, was ich zu bezweifeln wage, streckte die Beine aus und betrachtete seine Schuhe. Sein langer, ergrauender Bart war scharf wie eine Eisenaxt. Gestutzt wie eine Hecke. Der Bart eines Heiligen. Neben ihm auf dem Bett stand ein Teller, auf dem sich noch die verschmierten Überreste der Bohnen vom Vorabend befanden.

»Pythagoras«, sagte er, »glaubte an die Seelenwanderung und hat uns den Genuss von Bohnen untersagt, damit wir nicht die Seele unserer Großmutter verspeisen.«

»Oh«, machte ich.

»Das kann man bei Horaz nachlesen«, sagte er.

»Gebackene Bohnen von Batchelor?«

»Vermutlich nicht.«

Dr. Grene beantwortete meine Frage mit gewohnt ernster Miene. Das Schöne an Dr. Grene ist, dass er überhaupt keinen Sinn für Humor hat, was ihn fast schon wieder humorvoll wirken lässt. Glauben Sie mir, an einem Ort wie diesem ist das eine schätzenswerte Eigenschaft.

»Also«, sagte er, »Ihnen geht es so weit ganz gut?«

»Ja.«

»Wie alt sind Sie inzwischen, Roseanne?«

»Hundert, glaube ich.«

»Finden Sie es nicht bemerkenswert, dass es Ihnen mit hundert noch so gut geht?«, fragte er, als hätte er zu diesem Umstand irgendwie beigetragen, was er ja vielleicht auch hat. Immerhin bin ich schon seit rund dreißig Jahren, vielleicht noch länger, in seiner Obhut. Dabei ist er selbst alt geworden, wenn auch nicht so alt wie ich.

»Ich finde es äußerst bemerkenswert. Aber, Herr Doktor, ich finde so viele Dinge bemerkenswert. Ich finde Mäuse bemerkenswert, ich finde die seltsamen grünen Sonnenstrahlen bemerkenswert, die durchs Fenster herein klettern. Auch Ihren heutigen Besuch finde ich bemerkenswert.«

»Es tut mir leid zu hören, dass Sie noch immer Mäuse haben.«

»Hier wird es immer Mäuse geben.«

»Aber stellt John denn keine Fallen auf?«

»Das schon, aber er spannt die Sprungfedern nicht richtig, und die Mäuse können den Käse problemlos fressen und entwischen wie Jesse James und sein Bruder Frank.«

Jetzt nahm Dr. Grene seine Augenbrauen zwischen zwei Finger seiner rechten Hand und massierte sie eine Weile. Danach rieb er sich die Nase und stöhnte. Das Stöhnen enthielt all die Jahre, die er in dieser Anstalt verbracht hatte, all die Vormittage seines Lebens hier, all das sinnlose Geschwätz über Mäuse, Behandlungsmethoden und Alter.

»Wissen Sie, Roseanne«, sagte er, »da ich mich unlängst mit der rechtlichen Position aller unserer Insassen befassen musste, von der in der Öffentlichkeit so viel die Rede ist, habe ich mir noch einmal Ihre Aufnahmepapiere angeschaut, und ich muss gestehen –«

All dies sagte er in denkbar gelassenem Tonfall.

»Gestehen?«, fragte ich, um ihn zu ermuntern. Ich wusste, dass er dazu neigte, zu verstummen und privaten Gedanken nachzuhängen.

»O ja – entschuldigen Sie. Hmm, ja, ich wollte Sie fragen, Roseanne, ob Sie sich vielleicht noch an die näheren Umstände Ihrer Aufnahme hier erinnern können. Das wäre sehr hilfreich – wenn Sie es könnten. Den Grund nenne ich Ihnen gleich – wenn es denn sein muss.«

Dr. Grene lächelte, und ich hatte den Verdacht, dass die letzte Bemerkung scherzhaft gemeint war, auch wenn ich nicht verstand, was daran komisch sein sollte, zumal er sich normalerweise, wie gesagt, nie an Humor versuchte. Insofern vermutete ich, dass etwas Ungewöhnliches in ihm vorging.

Aber dann, fast so schlimm wie er, vergaß ich, ihm zu antworten.

»Können Sie sich an irgendetwas davon erinnern?«

»Sie meinen meine Ankunft, Dr. Grene?«

»Ja, ich glaube, die meine ich.«

»Nein«, sagte ich, denn eine entschiedene, eine unverfrorene Lüge war die beste Antwort.

»Nun«, sagte er, »leider ist ein Großteil unseres Archivs im Keller von Generationen von Mäusen als Bettstatt benutzt worden, ist ja auch kein Wunder, und nun ist alles ziemlich ruiniert und unlesbar. Über Ihre ohnehin schon schmale Akte sind sie auf höchst bemerkenswerte Weise hergefallen. Sie würde einem ägyptischen Grabmal alle Ehre machen. Bei der leisesten Berührung droht sie zu zerfallen.«

Danach herrschte langes Schweigen. Ich lächelte und lächelte. Ich versuchte mir vorzustellen, wie ich in seinen Augen wohl aussah. Ein Gesicht, so zerknittert und alt, so altersversunken.

»Natürlich kenne ich Sie sehr gut. Im Lauf der Jahre haben wir uns ja oft genug unterhalten. Ich wünschte, ich hätte mir mehr Notizen gemacht. Es sind nur wenige Seiten, was Sie nicht überraschen dürfte. Etwas in mir sträubt sich dagegen, mir viele Notizen zu machen, was in meinem Metier vielleicht nicht eben nachahmenswert ist. Manchmal heißt es, wir bewirken nichts, für niemanden. Aber ich hoffe doch, dass wir unser Bestes für Sie getan haben, trotz meines sträflichen Mangels an Notizen. Ich hoffe es wirklich. Ich freue mich, dass Sie sagen, es gehe Ihnen gut. Mir würde der Gedanke gefallen, dass Sie hier glücklich sind.«

Ich beschenkte ihn mit meinem ältesten Altfrauenlächeln, als verstünde ich nicht recht.

»Weiß Gott«, sagte er dann mit einer gewissen geistigen Eleganz, »niemand könnte hier glücklich sein.«

»Ich bin glücklich«, erwiderte ich.

»Wissen Sie«, sagte er, »ich glaube Ihnen. Ich glaube, Sie sind der glücklichste Mensch, den ich kenne. Aber ich fürchte, ich werde Ihren Fall neu bewerten müssen, Roseanne, da es in den Zeitungen einen Aufschrei der Entrüstung gegeben hat über – darüber, dass Leute, die eher aus sozialen als aus medizinischen Gründen eingesperrt wurden, weiterhin, weiterhin –«

»Festgehalten werden?«

»Ja, ja, festgehalten werden. Und zwar bis auf den heutigen Tag festgehalten werden. Natürlich sind Sie seit vielen, vielen Jahren hier, ich vermute fast, es sind vielleicht schon fünfzig?«

»Ich weiß es nicht mehr, Dr. Grene. Mag wohl sein.«

»Möglicherweise betrachten Sie diese Anstalt ja auch als Ihr Zuhause.«

»Nein.«

»Nun, wie jeder andere haben Sie das Recht, frei zu sein, wenn Sie für … für die Freiheit taugen. Ich vermute, selbst mit einhundert Jahren möchten Sie vielleicht … möchten Sie vielleicht umherspazieren und im Sommer im Meer baden und die Rosen riechen –«

»Nein!«

Eigentlich wollte ich gar nicht schreien, aber wie Sie merken werden, ist der bloße Gedanke an derlei kleine Aktivitäten, die die meisten Menschen mit Behagen und Lebensglück verbinden, noch immer ein Messer in meinem Herzen.

»Verzeihung?«

»Nein, nein, bitte fahren Sie fort.«

»Wie auch immer, falls ich feststellen sollte, dass Sie ohne wirklichen Grund, sozusagen ohne medizinische Grundlage hier sind, müsste ich mich um eine andere Regelung bemühen. Ich möchte Sie nicht beunruhigen. Und ich habe nicht die Absicht, meine liebe Roseanne, Sie in die Kälte hinauszuschicken. Nein, nein, dies wäre eine sorgfältig abgestimmte Maßnahme und bedarf, wie gesagt, meiner vorherigen Neubewertung. Fragen, ich würde Sie befragen müssen – bis zu einem gewissen Grad.«

Ich war mir ihres Ursprungs nicht ganz sicher, aber in mir breitete sich ein Gefühl der Angst aus, so wie ich mir vorstelle, dass sich das Gift gespaltener Atome in den Menschen der Außenbezirke von Hiroshima ausgebreitet und sie ebenso sicher getötet hat wie die Explosion selbst. Angst wie eine Krankheit, die Erinnerung an eine Krankheit, zum ersten Mal seit vielen Jahren verspürte ich sie.

»Fehlt Ihnen etwas, Roseanne? Bitte regen Sie sich nicht auf.«

»Natürlich will ich meine Freiheit, Dr. Grene. Aber sie ängstigt mich auch.«

»Der Gewinn der Freiheit«, sagte Dr. Grene freundlich, »vollzieht sich stets in einer Atmosphäre der Ungewissheit. Wenigstens in diesem Land. Vielleicht in allen Ländern.«

»Mord«, sagte ich.

»Ja, manchmal«, sagte er sanft.

Dann schwiegen wir, und ich betrachtete das solide Rechteck aus Sonnenlicht im Zimmer. Dort hatte sich uralter Staub abgesetzt.

»Freiheit, Freiheit«, sagte er.

Irgendwo in seiner staubigen Stimme tönte undeutlich die Glocke der Sehnsucht. Ich weiß nichts von seinem Leben draußen, von seiner Familie. Hat er Frau und Kinder? Irgendeine Mrs Grene? Ich weiß es nicht. Oder doch? Er ist ein kluger Mann. Sieht aus wie ein Frettchen, aber das macht nichts. Jemand, der von den alten Griechen und Römern zu erzählen weiß, ist ein Mann ganz nach dem Herzen meines Vaters. Ich mag Dr. Grene, trotz seiner staubigen Verzweiflung, denn jedes Mal liefert er mir ein Echo der Redeweise meines Vaters, die sich aus Sir Thomas Browne und John Donne zusammensetzte.

»Nun, heute fangen wir nicht damit an. Nein, nein«, sagte er und erhob sich. »Ganz bestimmt nicht. Aber es ist meine Pflicht, Ihnen die Fakten vorzutragen.«

Und wieder durchquerte er mit einer Art unendlicher ärztlicher Geduld den Raum und ging zur Tür.

»Sie verdienen nichts anderes, Mrs McNulty.«

Ich nickte.

Mrs McNulty.

Immer wenn ich diesen Namen höre, muss ich an Toms Mutter denken. Auch ich war einmal eine Mrs McNulty, allerdings nie auf so überlegene Weise wie sie. Nie. Wie sie mir hundertfach deutlich machte. Außerdem, wieso habe ich meinen Namen seither immer als McNulty angegeben, wenn sich doch jedermann größte Mühe gab, mir den Namen wegzunehmen? Ich weiß es nicht.

»Vorige Woche war ich im Zoo«, sagte er plötzlich, »zusammen mit einem Freund und dessen Sohn. Ich war in Dublin, um ein paar Bücher für meine Frau abzuholen. Über Rosen. Der Sohn meines Freundes heißt William, was ja, wie Sie wissen, auch mein Name ist.«

Das wusste ich nicht!

»Wir kamen zum Giraffenhaus. William hatte große Freude an ihnen, zwei riesige, langhalsige Giraffendamen waren es, mit weichen, langen Beinen, sehr, sehr schöne Tiere. Ich glaube, ich habe noch nie so schöne Tiere gesehen.«

Dann bildete ich mir ein, in dem schimmernden Zimmer etwas Merkwürdiges zu sehen, eine Träne, die ihm in den Augenwinkel trat, über die Wange lief und rasch herabfiel, eine Art verborgenen, ganz intimen Weinens.

»So schöne Tiere, so schöne Tiere« sagte er.

Sein Gerede hatte mich in Schweigen gehüllt, ich weiß nicht, warum. Es war eben doch nicht das offene, unbeschwerte, frohe Gerede meines Vaters. Ich wollte ihm zuhören, ihm aber jetzt nicht antworten. Diese eigenartige Verantwortung, die wir anderen gegenüber verspüren, wenn sie reden: ihnen den Trost einer Antwort zu bieten. Wir armen Menschen! Außerdem hatte er mir gar keine Frage gestellt. Er schwebte lediglich dort im Zimmer, substanzlos, ein Mann mitten im Leben, der, noch auf den Beinen, unmerklich dahinstarb, wie wir alle.

Ein verborgenes Leben (Steidl Pocket)

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