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ERSTES KAPITEL
ОглавлениеRoseannes Selbstzeugnis
(Patientin, Roscommon Regional Mental Hospital, 1957–)
Die Welt beginnt mit jeder Geburt von Neuem, sagte mein Vater immer. Er vergaß hinzuzufügen, dass sie mit jedem Tod endet. Oder hielt es nicht für nötig. Denn ein Gutteil seines Lebens hatte er auf einem Friedhof gearbeitet.
Der Ort, an dem ich geboren wurde, war eine kalte Stadt. Selbst die Berge hielten sich abseits. Sie wussten nicht, was sie von jenem düsteren Flecken halten sollten, diese Berge, so wenig wie ich.
Es gab da einen schwarzen Fluss, der sich durch die Stadt wälzte, und besaß er auch keinen Liebreiz für Menschen wie Sie und mich, so doch für die Schwäne; viele Schwäne suchten dort Zuflucht, und bei Hochwasser ritten sie den Fluss wie dahinjagende Bestien.
Der Fluss beförderte auch den Unrat zum Meer und Dinge, die früher einmal Leuten gehört hatten und von den Ufern weggerissen worden waren, und, selten zwar, Leichen und, ach, mitunter arme Babys, für die man sich schämte. Schnelligkeit und Tiefe des Flusses leisteten gewiss so mancher Heimlichkeit Vorschub.
Ich meine die Stadt Sligo.
Sligo hat mich erschaffen, und Sligo hat mich zugrunde gerichtet, ich hätte eben auch viel früher darauf verzichten sollen, mich von Menschenstädten erschaffen oder zugrunde richten zu lassen, und mich lieber an mir selbst orientieren sollen. Meine Geschichte ist nur deshalb voller Schrecken und Schmerz, weil ich, als ich jung war, andere für die Urheber meines Glücks oder Unglücks hielt; ich wusste nicht, dass ein Mensch gegen die Gräuel, gegen die bösen, grausamen Tücken der Zeit, die auf uns einstürmen, eine Mauer aus imaginärem Mörtel und imaginären Ziegeln errichten und so Schöpfer seiner selbst sein kann.
Jetzt bin ich aber nicht dort, jetzt bin ich in Roscommon. Es ist ein altes Gebäude, früher einmal eine Villa, heute dagegen nichts als cremefarbene Tünche, metallene Betten und Schlösser an den Türen. Das alles ist Dr. Grenes Reich. Dr. Grene ist ein Mann, den ich zwar nicht verstehe, vor dem ich aber auch keine Angst habe. Ich weiß nicht, welcher Konfession er angehört, doch mit seinem Bart und seinem kahl werdenden Schädel ähnelt er sehr dem heiligen Thomas.
Ich bin vollkommen allein, in der weiten Welt außerhalb dieser Mauern gibt es niemanden, der mich noch kennt; meine ganze Familie, diese wenigen verlorenen Gestalten, vor allem mein kleiner Zaunkönig von einer Mutter, sie alle sind nicht mehr. Und auch meine Peiniger, denke ich, sind größtenteils dahin, und der Grund dafür ist, dass ich längst eine alte, alte Frau bin, vielleicht schon an die Hundert, genau weiß das weder ich noch sonst jemand. Ich bin nur ein Überbleibsel, das Relikt einer Frau, und sehe auch gar nicht mehr aus wie ein menschliches Wesen, sondern wie ein dürres Gestell aus Haut und Knochen in unscheinbarem Rock und unscheinbarer Bluse und einer Segeltuchjacke. Ich sitze hier in meiner Ecke wie ein sangloses Rotkehlchen – nein, wie eine Maus, die unter der Kaminplatte verendet ist, wo’s warm war, und die jetzt daliegt wie eine Mumie in einer Pyramide.
Niemand ahnt auch nur, dass ich eine Geschichte habe. Nächstes Jahr, nächste Woche, morgen schon werde ich zweifellos verschwunden sein, und man wird nur einen schmalen Sarg und eine kleine Grube für mich benötigen. Einen Grabstein zu meinen Häupten wird es nicht geben, wozu auch?
Aber vielleicht sind ja alle Menschendinge schmal und klein.
Ringsum herrscht Stille. Meine Hand ist kräftig, und ich habe einen wunderschönen Kugelschreiber voll blauer Tinte, den mir mein Freund, der Doktor – der in Wahrheit kein schlechter Kerl ist, vielleicht sogar ein Philosoph –, den mir also der Doktor geschenkt hat, weil ich gesagt hatte, mir gefiele die Farbe; ich habe einen Stoß Papier, den ich in einer Vorratskammer zwischen anderen unerwünschten Dingen entdeckt habe, und ich habe ein loses Dielenbrett, unter dem ich diese Schätze verstecke. Ich schreibe mein Leben nieder auf unerwünschtem, auf überschüssigem Papier. Ich beginne mit einem leeren Blatt – mit vielen leeren Blättern. Denn ich würde liebend gern einen Rechenschaftsbericht hinterlassen, eine Art brüchiger, aber aufrichtiger Geschichte meiner selbst, und wenn Gott mir die Kraft dazu schenkt, werde ich diese Geschichte erzählen und sie unter dem Dielenbrett verbergen, und dann werde ich mich unter dem Rasen von Roscommon freudig zur letzten Ruhe betten.
Mein Vater war der reinlichste Mann der ganzen Christenheit, zumindest der von Sligo. Mir kam er in seiner Uniform wie festgezurrt vor – sie passte nicht einfach nur irgendwie, sondern saß akkurat wie ein Rechnungsbuch. Er war Aufseher des Friedhofs, und für diese Arbeit hatte man ihn mit einer ziemlich prächtigen Uniform ausgestattet, jedenfalls kam sie mir als Kind so vor.
Im Hof hatte er ein Fass stehen, in dem sich das Regenwasser sammelte, und damit wusch er sich an jedem Tag des Jahres. Mein Gesicht und das meiner Mutter drehte er zur Mauer der Küche hin, und dann stand er ohne Angst, gesehen zu werden, splitternackt zwischen den Moosen und Flechten des Hofes und schrubbte sich bei Wind und Wetter schonungslos ab, und wenn es mitten im Winter geschah, schnaubte er dabei wie ein Stier.
Karbolseife, mit der man einen schmierigen Fußboden hätte säubern können, schlug er zu einem gut sitzenden Anzug aus Schaum, und dann schabte er mit einem grauen Bimsstein an sich herum, den er, wenn er fertig war, in eine bestimmte Mauernische steckte – aus der ragte er wie eine Nase hervor. All das sah ich mit raschen Kopfbewegungen und Blicken aus den Augenwinkeln, denn in dieser Hinsicht war ich eine durchtriebene Tochter und konnte nicht gehorchen.
Keine Zirkusnummer hätte mir größeres Vergnügen bereiten können.
Mein Vater war ein Sänger, der sich nicht zum Schweigen bringen ließ, er sang sämtliche Arien aus den Operetten jener Zeit. Und er liebte es, in den Predigten längst verstorbener Prediger zu lesen, denn dann konnte er sich, wie er sagte, ausmalen, dass die Predigten eines längst entschwundenen Sonntags eben erst gehalten würden und die Worte im Mund der Prediger sich eben erst formten. Sein eigener Vater war Prediger gewesen. Mein Vater war ein leidenschaftlicher, fast möchte ich sagen: ein himmlisch gestimmter Presbyterianer, was in Sligo nicht gerade Mode war. Die Predigten John Donnes schätzte er vor allen anderen, doch sein wahres Evangelium war Religio Medici von Sir Thomas Browne, ein Buch, das sich noch immer in meinem Besitz befindet, ein kleiner zerlesener Band inmitten all dem Klimbim und Krimskrams meines Lebens. Ich habe ihn hier auf meinem Bett vor mir liegen, auf dem Vorsatzblatt steht in schwarzer Tinte sein Name, Joe Clear, das Jahr 1888 und die Stadt Southampton, denn in frühester Jugend war er Matrose gewesen und, noch bevor er siebzehn wurde, in jeden Hafen der Christenheit gesegelt.
In Southampton trug sich eines der wahrhaft majestätischen oder doch eines der wichtigsten Ereignisse seines Lebens zu, insofern er nämlich meine Mutter Cissy kennenlernte, die Zimmermädchen in dem Seemannsheim war, in dem er bevorzugt übernachtete.
Er pflegte eine seltsame Geschichte über Southampton zu erzählen, und als Kind nahm ich sie jedes Mal für bare Münze. Und sie mochte auch durchaus wahr sein.
Als er einmal in den Hafen einlief, fand er in seinem Lieblingsheim kein freies Bett vor und musste die windige Ödnis der Häuserzeilen und Schilder durchstreifen, bis er auf ein einsames Haus stieß, das mit dem Schild »Zimmer frei« Gäste anlockte.
Er ging hinein und wurde von einer graugesichtigen Frau mittleren Alters empfangen, die ihm ein Bett im Keller ihres Hauses anwies.
Mitten in der Nacht wachte er auf, denn er meinte, im Zimmer jemanden atmen gehört zu haben. Erschrocken und in jenem hellwachen Zustand, der eine solche Panik begleitet, vernahm er ein Stöhnen, und neben ihm im Dunkeln lag jemand auf dem Bett.
Mit Hilfe der Zunderbüchse entzündete er seine Kerze. Es war niemand zu sehen. Dann aber sah er, dass die Bettwäsche und die Matratze eingedellt waren, als hätte eine schwere Person darauf gelegen. Er sprang aus dem Bett und rief, bekam aber keine Antwort. Da erst verspürte er in den Tiefen seiner Eingeweide ein grässliches Hungergefühl, wie es seit der Großen Hungersnot noch keinen Iren befallen hatte. Er stürzte zur Tür, die zu seiner Verblüffung jedoch abgeschlossen war. Jetzt war er vollends empört. »Lassen Sie mich raus, lassen Sie mich raus!«, rief er ebenso entsetzt wie entrüstet. Wie konnte die alte Vettel es wagen, ihn einzusperren! Immer wieder hämmerte er gegen die Tür, und schließlich kam die Wirtin und schloss sie in aller Ruhe auf. Sie entschuldigte sich und gab an, sie müsse sie wohl versehentlich gegen Diebe verriegelt haben. Er berichtete ihr von der Störung seiner Nachtruhe, doch sie lächelte ihn nur an, erwiderte nichts und ging wieder zurück in ihre Wohnung. Er hatte den Eindruck, einen eigenartigen Geruch nach Laub, Gestrüpp und Unterholz von ihr aufgefangen zu haben, als wäre sie durch einen Wald gekrochen. Dann trat wieder Stille ein, und er löschte seine Kerze und versuchte zu schlafen.
Kurze Zeit später wiederholte sich der Vorfall. Wieder sprang er auf, entzündete seine Kerze und ging zur Tür. Wieder war sie abgeschlossen! Und wieder dieser tiefe, nagende Hunger in seinem Bauch. Aus irgendeinem Grund, vielleicht wegen ihrer auffallenden Absonderlichkeit, konnte er sich nicht dazu durchringen, die Wirtin herbeizurufen, und schwitzend verbrachte er eine beschwerliche Nacht im Sessel.
Als der Morgen graute, wachte er auf, kleidete sich an und ging zur Tür. Sie war unverschlossen. Er nahm seinen Seesack und ging nach oben. Da erst fiel ihm der heruntergekommene Zustand des Hauses auf, der ihm im freundlicheren Dunkel der Nacht nicht so deutlich gewesen war. Er konnte die Wirtin nicht aus dem Bett holen, und da sein Schiff segelfertig war, musste er das Haus verlassen, ohne sie noch einmal gesehen zu haben. Beim Hinausgehen warf er ein paar Shilling-Münzen auf den Garderobentisch.
Als er draußen auf der Straße noch einmal zum Haus zurückblickte, war er sehr beunruhigt, weil so viele Fensterscheiben zerbrochen waren und auf dem eingesackten Dach Schieferplatten fehlten.
Um im Gespräch mit einem anderen Menschen die Fassung wiederzugewinnen, ging er in den Laden an der Ecke und erkundigte sich bei dem Besitzer nach dem Haus. In dem Haus, sagte dieser, würden bereits seit etlichen Jahren keine Zimmer mehr vermietet, es stünde leer. Eigentlich gehöre es abgerissen, aber es sei eben Bestandteil der Häuserzeile. Er könne die Nacht gar nicht dort zugebracht haben, sagte der Ladenbesitzer. Niemand wohne darin, und niemand würde auch nur im Traum daran denken, es zu kaufen, aus dem einfachen Grund, dass eine Frau dort ihren Ehemann umgebracht hatte, indem sie ihn in einen Kellerraum sperrte und verhungern ließ. Die Frau selbst sei vor Gericht gestellt und wegen Mordes gehenkt worden.
Mein Vater erzählte mir und meiner Mutter diese Geschichte mit der heftigen Gemütsbewegung eines Menschen, der sie beim Erzählen erneut durchlebt. Vor seinem inneren Auge zogen das düstere Haus, die graue Frau, der stöhnende Geist vorüber.
»Nur gut, Joe, dass wir Platz hatten, als du das nächste Mal im Hafen warst«, sagte meine Mutter in ihrem nüchternsten Tonfall.
»Bei Gott, bei Gott, ja«, erwiderte mein Vater.
Eine kleine Geschichte aus dem Leben, eine Matrosengeschichte, die die damit kontrastierende Schönheit meiner Mutter einbezog und die ungeheure Verlockung, die sie damals und auf Dauer für ihn darstellte.
Denn ihre Schönheit war die Schönheit der dunkelhaarigen, dunkelhäutigen Spanierin, mit grünen Augen wie amerikanische Smaragde, gegen die kein Mann gefeit ist.
Und er heiratete sie und nahm sie mit nach Sligo, und fortan verbrachte sie ihr Leben dort. Sie war in diesem Dunkel nicht aufgewachsen, sondern wirkte wie ein verlorener Shilling auf einem Lehmboden, ein Shilling, der verzweifelt glänzt. Ein schöneres Mädchen hatte Sligo nie gesehen, sie hatte federweiche Haut und warme, üppige Brüste wie köstliches, frisch gebackenes Brot.
Die größte Freude meines jungen Lebens bestand darin, bei Einbruch der Dunkelheit mit meiner Mutter auf die Straßen Sligos hinauszulaufen, denn sie ging meinem Vater auf seinem Heimweg von der Arbeit im Friedhof gern entgegen. Erst viele Jahre später, als ich schon größer war, wurde mir im Rückblick klar, dass diesen Gängen eine gewisse Ängstlichkeit innewohnte, als vertraue sie nicht darauf, dass die Zeit und der gewöhnliche Verlauf der Dinge ihn wieder nach Hause führten. Denn ich glaube, eigenartigerweise litt meine Mutter unter dem Nimbus ihrer Schönheit.
Wie ich bereits sagte, war er dort Aufseher, er trug eine blaue Uniform und eine Dienstmütze mit einem Schirm, schwarz wie das Gefieder einer Amsel.
Das war zu der Zeit, als der Erste Weltkrieg tobte und die Stadt so voller Soldaten war, als wäre Sligo selbst ein Schlachtfeld, was natürlich nicht der Fall war. Es waren lediglich Männer auf Heimaturlaub, die wir dort sahen. Aber in ihren Uniformen ähnelten sie durchaus meinem Vater – sodass er, wenn meine Mutter und ich des Wegs kamen und ich ebenso begierig nach ihm Ausschau hielt wie sie, überall in den Straßen aufzutauchen schien. Meine Freude war erst vollkommen, wenn am Ende tatsächlich er es war, der da, etwa an dunklen Winterabenden, vom Friedhof nach Hause geschlittert kam. Und wenn er mich erblickte, spielte er immer mit mir und kasperte herum wie ein Kind. Da erntete er so manchen schiefen Blick, und vielleicht ließ sich sein Verhalten ja auch wirklich nicht mit seiner Würde als Aufseher der Toten von Sligo vereinbaren. Aber er besaß jene seltene Fähigkeit, in Gesellschaft eines Kindes alle Sorgen abzustreifen und in dem fahlen Licht fröhlich und albern zu sein.
Er war Grabwächter, aber er war auch dort er selbst. Mit seiner Schirmmütze und seiner blauen Uniform konnte er jemanden mit hinreichend feierlicher Würde zu der Grabstelle geleiten, in der ein Verwandter oder Freund lag. War er jedoch allein in seinem Friedhofswärterhaus, einem kleinen Tempel aus Beton, so konnte man ihn mit schöner Stimme die Romanze »Im Traume sah ich mich im Marmorsaal« aus Michael Balfes Die Zigeunerin, einer seiner Lieblingsoperetten, singen hören.
Und an freien Tagen schwang er sich auf sein Matchless-Motorrad, um die tückischen Straßen Irlands entlangzurasen. Wenn die Eroberung meiner Mutter als majestätisches Ereignis gelten kann, so war die Tatsache, dass er in einem wirklichen Glücksjahr, etwa um die Zeit meiner Geburt, auf seinem schönen Motorrad die kurze Rennstrecke auf der Isle of Man zurückgelegt hatte, dabei am Leben geblieben, ja sogar auf einem beachtlichen Platz im Mittelfeld gelandet war, eine Quelle unaufhörlicher Erinnerung und Freude und tröstete ihn, da bin ich mir sicher, in seinem von all den schlummernden Seelen umgebenen Betontempel über die trüben Zeiten des irischen Winters hinweg.
Die andere »berühmte« Geschichte meines Vaters – berühmt meint: in unserem winzigen Haushalt – ereignete sich während seiner Junggesellentage, als er noch häufiger an den wenigen Motorradrennen jener Zeit teilnehmen konnte. Sie trug sich in Tullamore zu und ist eine höchst sonderbare Geschichte.
Er fuhr mit Karacho, und vor ihm lag ein lang gestreckter, breiter Hügel, der zu einer scharfen Kurve führte, wo die Straße auf eine Gutsmauer stieß, eine jener hohen, dicken Steinmauern, die während der Großen Hungersnot erbaut worden waren, eine überflüssige Arbeit, um Tagelöhner am Leben zu erhalten. Wie auch immer, der Rennfahrer vor ihm brauste den Hügel hinab und gewann ungeheuer an Fahrt, doch statt vor der gegenüberliegenden Mauer abzubremsen, schien er sogar noch Gas zu geben und zerschellte schließlich gnadenlos in einem schrecklichen Wirrwarr aus Rauch, Metall und einem Donner wie von Kanonen. Mein Vater, der durch seine schmutzige Schutzbrille spähte, hätte beinahe die Kontrolle über seine eigene Maschine verloren, so sehr war ihm der Schreck in die Glieder gefahren; doch dann sah er etwas, das er sich damals nicht und auch später nie zu erklären vermochte, nämlich den Motorradfahrer, der sich wie auf Schwingen emporhob und mit einer raschen, sachten Bewegung, schwerelos gleitend wie eine Möwe im Aufwind, über die riesige Mauer hinwegsegelte. Einen Augenblick lang, nur einen Augenblick lang glaubte er die Schwingen aufblitzen zu sehen, und nie wieder konnte er in seinem Gebetbuch von Engeln lesen, ohne an jenen außergewöhnlichen Vorfall zu denken.
Bitte glauben Sie nicht, dass mein Vater sich etwas zurechtlog, denn dazu war er gar nicht imstande. Zwar trifft es zu, dass die Leute in ländlichen Bezirken – ja selbst in den Städten – einem gern weismachen, sie hätten Wunder geschaut, wie etwa mein Mann Tom, der auf der Straße nach Enniscrone einen Hund mit zwei Köpfen gesehen haben wollte. Ebenso trifft es zu, dass derartige Geschichten nur dann wirkungsvoll sind, wenn der Erzähler unbedingten Glauben vortäuscht – oder wenn er tatsächlich Zeuge solcher Wunder wurde. Doch mein Vater war kein Lügenzauberer und Fabulierer.
Es gelang meinem Vater, sein Motorrad abzubremsen und zum Stehen zu bringen, und als er die Gutsmauer entlangrannte, stieß er auf eine jener sonderbaren kleinen Pforten im Gemäuer. Er stemmte sich gegen das rostige Eisen und eilte durch Brennnesseln und Sauerampfer, um seinen wundersamen Freund zu suchen. Dort lag er denn auch, auf der anderen Seite der Mauer, bewusstlos, aber sonst, und mein Vater schwor Stein und Bein darauf, unverletzt. Schließlich kam der Mann, zufälligerweise ein Herr aus Indien, der an der gesamten Westküste mit seinem Koffer von Tür zu Tür zog und Halstücher und andere Artikel feilbot, wieder zu sich und lächelte meinen Vater an. Beide staunten über seine unerklärliche Rettung, die, wen wundert’s, in Tullamore noch Jahre später Stadtgespräch war. Sollte Ihnen die Geschichte je zu Ohren kommen, so könnte der Erzähler ihr sehr wohl den Titel »Der indische Engel« geben.
Wieder einmal war das seltsame Glücksgefühl meines Vaters vor allem in der Wiedergabe dieser Geschichte greifbar. Es war, als sei ein solcher Vorfall eine Belohnung für ihn, für seine bloße Existenz, ein kleines Erzählgeschenk, welches ihn so freute, dass es ihm im Träumen und im Wachen ein Gefühl des Privilegiertseins verlieh, so als setzten sich kleine Fetzen von Geschichten und Ereignissen für ihn zu einem unfertigen Evangelium zusammen. Sollte jemals ein Evangelium über das Leben meines Vaters verfasst werden – und warum nicht? schließlich heißt es, in den Augen Gottes sei das Leben eines jeden Menschen kostbar –, möchte ich annehmen, dass die Schwingen auf dem Rücken seines indischen Freundes, die er nur flüchtig zu sehen bekommen hatte, sich zu etwas Stofflicherem auswachsen und Dinge, die er nur angedeutet hatte, in der Nacherzählung durch einen Dritten feste Gestalt annehmen würden, unbeweisbar zwar, doch dafür um so mehr ins Reich der Wunder verwiesen. Auf dass alle Welt darin Trost finden möge.
Das Glücksgefühl meines Vaters. Es war an sich schon ein kostbares Geschenk, so wie vielleicht die Ängstlichkeit meiner Mutter der Knüppel war, der ihr andauernd zwischen die Beine geworfen wurde. Denn meine Mutter erfand niemals kleine Legenden über ihr Leben und kam ganz und gar ohne Geschichten aus, obwohl ich mir sicher bin, dass sie ebenso viele interessante Dinge zu erzählen gehabt hätte wie mein Vater.
Es ist schon seltsam, aber mir fällt auf, dass Menschen ohne Anekdoten, die sie zu ihren Lebzeiten nähren und die sie nach ihrem Tod überdauern, nicht nur der Geschichte, sondern auch den nachfolgenden Generationen eher abhanden kommen. Natürlich ist dies das Los der meisten Menschenseelen: Ganze Leben, ganz gleich, wie intensiv und wunderbar, schrumpfen auf jene traurigen schwarzen Namen in welken Familienstammbäumen zusam men, hinter denen nur ein halbes Datum und ein Fragezeichen baumeln.
Das Glücksgefühl meines Vaters rettete ihn nicht nur, sondern trieb ihn zu Geschichten an und erhält ihn selbst jetzt noch in mir am Leben, wie eine zweite, geduldigere und anziehendere Seele in meiner armen Seele.
Vielleicht war sein Glücksgefühl ja durchaus unbegründet. Aber darf sich ein Mensch in den langen, sonderbaren Läuften seines Lebens nicht, so gut es geht, selbst glücklich machen? Ich halte das für legitim. Schließlich ist die Welt ja wirklich wunderschön, und wenn wir keine Menschen wären, sondern andere Geschöpfe, so könnten wir sehr wohl dauerhaft glücklich in ihr sein.
Das wichtigste, ohnehin schon enge Zimmer in unserem kleinen Haus teilten wir mit zwei großen Gegenständen. Einer davon war das bereits erwähnte Motorrad, das bei Regen untergestellt werden musste. Es führte in unserem Wohnzimmer ein ruhiges Leben, könnte man sagen. Von seinem Sessel aus konnte mein Vater, wann immer er wollte, müßig ein weiches Ledertuch über das Chrom gleiten lassen. Der andere Gegenstand, den ich erwähnen möchte, ist das Pianino, das ihm ein dankbarer Witwer vermacht hatte, da mein Vater für die Frau dieses Mannes eine Grube ausgehoben hatte, ohne Gebühren zu verlangen, denn die Hinterbliebenen waren in Not geraten. So war das Pianino in einer Sommernacht bald nach der Beerdigung auf einem Eselskarren eingetroffen, von dem Witwer und seinen beiden Söhnen unter verlegen frohem Lächeln hereingetragen und in unserem winzigen Zimmer aufgestellt worden. Vermutlich war es nie viel wert gewesen, trotzdem hatte es einen wunderschönen Klang und war, bevor es zu uns kam, noch nie gespielt worden, sofern sich seine Vorgeschichte am Zustand der Tasten ablesen ließ, die völlig unberührt aussahen. An den Seitenwänden waren Landschaftsszenen aufgemalt, nicht aus Sligo, vermutlich eher Szenen aus einem imaginären Italien oder dergleichen, aber im Grunde lief es auf das Gleiche hinaus: Berge und Flüsse mit Schäfern und Schäferinnen, die mit ihren geduldigen Schafen umherstanden. Mein Vater nun, der im Pfarramt seines Vaters aufgewachsen war, konnte dieses prächtige Instrument spielen und fand, wie bereits gesagt, Vergnügen an den alten Operetten des vorigen Jahrhunderts. Balfe hielt er für ein Genie. Da es neben ihm auf dem Hocker Platz für mich gab, begann ich aus Liebe zu ihm und aus großer Freude an seiner Spielfertigkeit alsbald die Anfangsgründe des Klavierspiels zu erlernen und erlangte allmählich eine gewisse Fertigkeit, ohne je das Gefühl von Mühe oder Last empfunden zu haben.
Dann konnte ich ihn begleiten, und er pflanzte sich mitten im Raum auf, sofern man noch davon sprechen konnte, die eine Hand müßig und wie zufällig auf dem Sitz seines Motorrads, die andere in seinem Jackett wie ein irischer Napoleon, und sang, für mich hörte es sich jedenfalls so an, mit größter Vollkommenheit »Im Traume sah ich mich im Marmorsaal« oder andere Glanzstücke seines Repertoires, und übrigens auch jene kleinen neapolitanischen Lieder, die natürlich nicht, wie ich mir einbildete, zum Gedenken an Napoleon, sondern in den Straßen von Neapel entstanden waren – Lieder, die sich jetzt in Sligo im Exil befanden! Seine Stimme drang wie eine Art Honig in meinen Kopf, der mächtig summend nachwirkte und alle Ängste der Kindheit bannte. Hob sich seine Stimme, so hob sich zugleich sein ganzer Körper: Arme, Schnurrbartenden, ein Fuß, der ein kleines bisschen über dem alten Teppich mit seinem vielfachen Hundemuster pendelte, und seine Augen waren erfüllt von einer seltsamen Fröhlichkeit. Selbst Napoleon mit seinen hohen Ansprüchen hätte ihn nicht verachtet. In solchen Augenblicken entfaltete er in den ruhigeren Passagen der Lieder ein herrliches Timbre, das ich bis heute nicht überboten gehört habe. Als ich eine junge Frau war, machten sich viele herausragende Sänger auf den Weg nach Sligo und sangen in den Sälen unter dem Regen, und bei einigen der volkstümlicheren Lieder begleitete ich sie sogar auf dem Klavier und klimperte Töne und Akkorde für sie, vielleicht eher Hindernis als Hilfe. Doch in meinen Ohren reichte keiner von ihnen an die Stimme meines Vaters und deren eigentümliche Intimität heran.
Und ein Mann, der angesichts drohender Katastrophen, wie sie so oft ohne jede Gnade oder Gunst über uns hereinbrechen, fröhlich gestimmt sein kann, ist ein wahrer Held.