Читать книгу Ein verborgenes Leben (Steidl Pocket) - Sebastian Barry - Страница 11

FÜNFTES KAPITEL

Оглавление

Dr. Grenes Aufzeichnungen

Es wäre eine sehr gute Sache, wenn ich wenigstens manchmal davon überzeugt wäre, dass ich weiß, was ich tue.

Ich habe das Gesundheitsministerium vollkommen unterschätzt, was ich, um aufrichtig zu sein, nie für möglich gehalten hätte. Man hat mir mitgeteilt, die Bauarbeiten vor Ort würden in Kürze beginnen, am anderen Ende von Roscommon, ein sehr guter Standort, wird mir versichert. Damit aber nicht alles nach guten Nachrichten klingt: Es wird dort nur eine sehr geringe Anzahl von Betten geben, dabei haben wir hier so viele. Tatsächlich gibt es hier Räume mit leeren Betten, nicht weil wir sie nicht füllen könnten, sondern weil die Räume jenseits von Gut und Böse sind, mit einsturzgefährdeten Zimmerdecken und grässlich feuchten Wänden. Alles, was Eisen ist, etwa die Bettgestelle, rostet dahin. All die neuen Betten in dem neuen Gebäude werden hochmodern sein, rostfrei, brandneu und schön, aber es werden weniger sein, sehr viel weniger. Also werden wir wie verrückt aussieben müssen.

Ich kann mich des Gefühls nicht erwehren, dass ich versuche, mir anvertraute Geschöpfe zu verstoßen, die fern von mir nicht gedeihen werden. Das mag verständlich sein, zugleich aber bin ich mir selbst suspekt. Ich habe die wirklich idiotische Angewohnheit, meinen Patienten gegen über väterliche, ja sogar mütterliche Gefühle zu hegen. Nach all den Jahren, die, wie ich genau weiß, die Impulse und Instinkte anderer in diesem Bereich tätigen Menschen abtöten, bin ich noch immer geradezu eifersüchtig auf die Sicherheit, auf das Wohl meiner Patienten bedacht, selbst wenn ich an ihren Fortschritten allmählich zweifle. Aber ich bin misstrauisch. Ich frage mich, ob ich, nachdem ich bei meiner eigenen Frau versagt habe, dazu neige, diesen Ort als eine Art Eheschauplatz zu betrachten, an dem ich sündenfrei und unbescholten sein kann, ja, an dem ich (erbärmliches Verlangen) tagtäglich erlöst werde.

Früher bezeichnete man gebrauchte Kleiderstoffe, die nichts mehr taugten, als »unrettbar«. Damals wurden die Anzüge für die Männer und die Kleider für die Frauen an Orten wie diesem aus Stoffspenden angefertigt, Erstere von einem Schneider, Letztere von einer Näherin. Bestimmt dachte man, für die armen Schlucker, die hier wohnten, sei selbst das, was eigentlich »unrettbar« war, immer noch gut genug. Jetzt, da ich wie jeder andere langsam mürbe werde, da ich in dem Stoff, aus dem ich gemacht bin, hier ein Loch finde und dort einen Riss, bin ich auf diesen Ort immer stärker angewiesen. Die Verantwortung für Menschen in tiefer Bedrängnis ist eine versöhnliche Arbeit. Vielleicht sollte ich frustrierter sein über die offensichtlichen Sackgassen der Psychiatrie, die grauenhafte Verschlechterung der Lage jener, die hier vor sich hindämmern, die Unmöglichkeit des Ganzen. Aber Gott steh mir bei, ich bin es nicht. In ein paar Jahren werde ich das Rentenalter erreicht haben, und was dann? Ich werde sein wie ein Spatz ohne Garten.

Wie auch immer, ich weiß, diese Gedanken entspringen aktueller Notwendigkeit. Zum ersten Mal nehme ich die Unverfrorenheit, ich glaube, das ist das richtige Wort, die Unverfrorenheit meines Berufsstandes wahr. Dieses Durch-die-Hintertür, o ja, diese Verschlagenheit. Und nun bin ich, in einem weiteren Anfall von Idiotie, entschlossen, nicht länger verschlagen zu sein. Die ganze Woche über habe ich mich mit bestimmten Patienten unterhalten, darunter einigen ganz außergewöhnlichen Menschen. Mir ist, als würde ich sie für einen bestimmten Zweck befragen, für ihre Ausweisung, ihren Ruin. Als müssten sie, falls sie Wohlbefinden bekunden, ins Exil der segensreichen »Allgemeinheit« verbannt werden. Mir ist durchaus bewusst, dass diese Art zu denken grundverkehrt ist, deswegen versuche ich ja auch, mir hier Luft zu machen. Ich müsste mich genau anders herum verhalten: mich unbeteiligt geben, distanziert, mir bei jeder Gelegenheit Mitgefühl versagen, denn Mitgefühl ist mein schwacher Punkt. Gestern war da ein Mann, ein Bauer aus Leitrim, der früher über vierhundert Morgen besessen hat. Er ist auf eine maßlose, vollendete Weise verrückt. Er erzählte mir, seine Familie sei so alt, dass sie sich über zweitausend Jahre zurückverfolgen lasse. Er selbst, sagte er mir, sei der Letzte seines Namens. Er habe keine Kinder, ganz gewiss keine Söhne, und sein Name werde mit ihm untergehen. Der Name, fürs Protokoll, war Meel, in der Tat ein sehr merkwürdiger Name, vielleicht leitet er sich von dem gälischen Wort für Honig ab, meinte er jedenfalls. Und er ist etwa siebzig, sehr würdevoll, kränklich und verrückt. Ja, er ist verrückt. Psychotisch, um genau zu sein. Und ich entnehme seiner Akte, dass er das Pech hatte, vor Jahren auf einem Schulhof aufgegriffen zu werden, wo er unter einer Bank Schutz gesucht hatte – mit drei toten Hunden, die er sich ans Bein gebunden hatte und die er überallhin mitschleppte. Aber als ich mit ihm sprach, empfand ich nichts als Liebe. Das war lächerlich. Und es ist mir zutiefst verdächtig.

Oft kommen mir meine Patienten wie eine Herde Schafe vor, die einen Hügel hinabstürmen, direkt auf die Klippe zu. Ich müsste ein Schäfer sein, der alle Pfiffe kennt. Ich kenne keinen einzigen. Aber wir werden sehen.

»Wir werden sehen, sagte die Ratte, als sie ihr Holzbein schüttelte.«

Eins von Bets Sprichworten. Was bedeutet es? Ich habe keine Ahnung. Vielleicht ist es eine Redewendung aus einer berühmten Kindheitsgeschichte, noch so eine berühmte irische Kindheitsgeschichte, die mir, der seine Kindheit in England verbracht hat, nichts sagt. Es ist verblüffend, Ire zu sein und über keine einzige dieser Eigenarten oder Erinnerungen zu verfügen, nicht einmal über einen verdammten Akzent. Niemand auf dieser Welt hat mich je mit einem Iren verwechselt, und doch bin ich, soviel ich weiß, genau das.

Bet in ihrem Zimmer über mir war die ganze Woche mucksmäuschenstill, nicht einmal den BBC World Service hat sie gehört, wie sie es sonst immer tut. Meine Frau. Es war gespenstisch.

Gestern Abend habe ich den Versuch eines Rapprochement unternommen – falls man das Wort so schreibt. Ich zweifle nicht daran, dass ich sie liebe. Warum nützt ihr dann meine sogenannte Liebe nichts, warum gefährdet sie sie sogar? Oh, als ich meinen letzten Eintrag hier überflog, in dem ich mir mehr oder weniger subtil Mitgefühl und Liebe bescheinige – als ich es las, drehte sich mir fast der Magen um –, da habe ich mich so über mich geärgert, dass ich in die Küche ging, wo ich sie gerade dieses schreckliche Zeug zubereiten hörte, das sie abends vor dem Schlafengehen trinkt. Das Stärkungsmittel Complan. Ein in jeder Hinsicht gespenstisches Getränk, das nach Tod schmeckt. Ich meine, Leben-im-Tod und Tod-im-Leben, Coleridge, wenn ich mich recht erinnere. Ballade vom alten Seemann. Wen kann ich am Ärmel packen, um ihm meine Geschichte zu erzählen? Früher war es Bet. Jetzt bin ich ärmellos. Und bin sicher, dass ich sie allzu oft am Ärmel gepackt, oder in meinen Worten: von ihrer Kraft gezehrt und ihr nichts zurückgegeben habe. Nun ja, vielleicht. Wir hatten großartige Tage miteinander. King und Queen des Kaffees am Morgen, im Dunkel des Winters, in der Frühsonne des Sommers, die zum Fenster hereinschien, um uns zu wecken. Ach ja, Kleinigkeiten. Kleinigkeiten, die wir geistige Gesundheit nennen oder den Stoff, aus dem Gesundheit ist. Damals machte mich das Gespräch mit ihr – nein, Gott bewahre mich vor Sentimentalität. Die Zeiten sind vorüber. Jetzt sind wir zwei fremde Länder, deren Botschaften sich lediglich im selben Haus befinden. Die Beziehungen verlaufen freundschaftlich, aber streng diplomatisch. Unterschwellig ahnt man Gerüchte, Vorurteile, Erinnerungen, wie zwei Völker, die in einer früheren Generation schwere Verbrechen gegeneinander verübt haben. Wir sind ein baltischer Splitterstaat. Nur dass sie mir, der Teufel soll sie holen, nie etwas angetan hat. Die Scheußlichkeiten kommen samt und sonders aus einer Richtung.

Es war nicht meine Absicht, hier von alledem zu schreiben. Dies sollte eine zumindest halbwegs professionelle Schilderung der Dinge sein, der vielleicht letzten Tage eines unbedeutenden, vergessenen und doch unentbehrlichen Ortes. Des Ortes, an dem ich mein gesamtes Berufs leben verbracht habe. Des wunderlichen Tempels meiner Ambitionen. Ich fürchte mich davor, für die Insassen hier nichts bewirkt zu haben, sie mit zu viel Gefühl betrachtet und dadurch im Stich gelassen zu haben, ich fürchte dies ebenso sehr, wie ich sicher bin, dass ich Bets Leben ruiniert habe. Jenes »Leben«, jene ungeschriebene Geschichte ihrer selbst, die – ich weiß nicht. Ich hatte es nicht darauf angelegt. Ganz ehrlich, ich war stolz, stolz auf meine Treue zu ihr, auf meine Hochachtung vor ihr, meine regelrechte Verehrung für sie. Vielleicht war ich auch ihr gegenüber zu rührselig. Schädliche, chronische Gefühlsduselei. Verdammt, mein Stolz auf sie war mein Stolz auf mich selbst, und das war etwas Gutes. Solange sie eine gute Meinung von mir hatte, hatte ich die allerbeste Meinung von mir selbst. Davon zehrte ich, davon befeuert ging ich jeden Tag zur Arbeit. Wie wunderbar, wie kraftvoll – wie lächerlich. Aber ich würde alles in der Welt darum geben, diesen Zustand wiederzuerlangen. Ich weiß, es ist nicht möglich. Und dennoch. Wenn dieser Kosmos hier erst einmal niedergerissen ist, werden so viele kleine Geschichten mit ihm verschwinden. Im Grunde ist es beängstigend, vielleicht sogar grauenerregend.

Ich ging also in die Küche. Inwiefern ich willkommen war, kann ich nicht sagen. Vermutlich nicht sehr, meine plötzliche Gegenwart musste wohl eher ertragen werden.

Dabei rührte sie gar kein Complan an, vielmehr löste sie in einem Glas einige Tabletten auf, Aspirin oder dergleichen.

»Fehlt dir was?«, fragte ich. »Hast du Kopfschmerzen?«

»Mir geht’s ganz gut«, sagte sie.

Ich weiß, dass sie im Januar vor einem Jahr einen kleinen Schreck bekommen hatte. Sie war beim Einkaufen auf der Straße ohnmächtig geworden, und man hatte sie nach Roscommon ins Krankenhaus gebracht. Sie musste den ganzen Tag dableiben und wurde untersucht, und am Abend rief mich ganz arglos einer der Ärzte an, ich solle sie abholen. Vermutlich glaubte er, ich wüsste, dass sie dort war. Ich war äußerst beunruhigt. Als ich den Wagen aus der Einfahrt setzte, hätte ich fast einen Unfall gebaut, fast den Pfeiler gerammt, ich fuhr wie ein Mann, der seine schwangere Frau nachts ins Krankenhaus bringt, wenn die legendären Wehen einsetzen, nicht, dass sie die je durchgemacht hätte, und vielleicht liegt da ja der Hund begraben.

Jetzt starrte sie in ihr Glas.

»Wie geht’s den Beinen?«, fragte ich.

»Geschwollen«, antwortete sie. »Es ist nur Wasser. Heißt es. Ich wünschte, es würde weggehen.«

»Ja, natürlich«, meinte ich, ein wenig ermutigt durch das Wort »weg«, weit weg im Sinne von Urlaub. »Hör mal, ich hab gedacht, vielleicht wär’s ganz schön, für ein paar Tage wegzufahren, wenn auf der Arbeit alles geregelt ist. Urlaub zu machen.«

Sie sah mich an, schwenkte die schäumenden Tabletten im Glas, machte sich auf den bitteren Geschmack gefasst. Zu meinem Leidwesen muss ich berichten, dass sie lachte, es war nur ein kleiner Lacher, von dem ich vermute, dass sie ihn lieber nicht herausgelassen hätte, aber nun stand er zwischen uns, dieser eine Lacher.

»Ich glaube nicht«, sagte sie.

»Warum nicht?«, fragte ich. »Um der alten Zeiten willen. Würde uns beiden guttun.«

»Tatsächlich, Herr Doktor?«

»Ja, es würde uns guttun. Ganz bestimmt.«

Plötzlich fiel mir das Sprechen schwer, als wäre jedes Wort in meinem Mund ein kleiner Schlammklumpen.

»Es tut mir leid, William«, sagte sie, und das war ein schlechtes Zeichen, der volle Vorname, nicht mehr Will, sondern William, wie um sich zu distanzieren, »ich möchte nicht. Ich hasse es, all die Kinder zu sehen.«

»Die was?«

»Die Leute mit ihren Kindern.«

»Warum?«

Ach ja, unermesslich dumme Frage. Kinder. Die wir nicht haben. Unendlich viel Mühe haben wir darauf verwendet. Unendlich viel. Ohne belohnt worden zu sein.

»William, du bist kein Dummkopf.«

»Wir fahren irgendwohin, wo keine Kinder sind.«

»Wohin? Auf den Mars?«, fragte sie.

»Irgendwohin, wo keine sind«, sagte ich und hob das Gesicht zur Zimmerdecke, als wäre die ein möglicher Ort. »Ich weiß nicht, wo das ist.«

Roseannes Selbstzeugnis

Und dann geschah das Grauen aller Grauen.

Bis heute, ich schwör’s bei meinem Gott, weiß ich nicht, wie es geschah. Andere wissen es bestimmt oder wussten es, als sie noch lebten. Und vielleicht ist das genaue Wie ja gar nicht so wichtig, war es nie, sondern nur, was bestimmte Leute glaubten.

Nicht, dass es jetzt noch darauf ankommt, denn über all die Leute ist die Zeit hinweggegangen. Aber vielleicht gibt es ja einen anderen Ort, wo alles auf ewig Bedeutung hat, vielleicht so etwas wie das himmlische Gericht. Es wäre ein nützliches Gericht für die Lebenden, aber die werden es nie zu sehen bekommen.

Es waren Unbekannte, die damals gegen die Tür hämmerten und mit barschen Militärstimmen etwas brüllten. Wir drinnen stoben in alle Richtungen wie aufgeschreckte Kellerasseln, ich selbst wich zurück wie die Tragödin in einem der zweitklassigen Theaterstücke, die man in miefigen Gemeindesälen zu sehen bekommt, die drei Irregulären duckten sich hinter den Tisch, mein Vater zog Father Gaunt in meine Nähe, als könne er mich hinter dem Priester und seiner eigenen Liebe verstecken. Denn jedem war klar, dass gleich Schüsse fallen würden, und gerade, als ich diesen Gedanken dachte, wurde die eiserne Tür in ihren großen, knarrenden Scharnieren aufgestoßen.

Ja, es waren Jungs von der neuen Armee in ihren schlecht sitzenden Uniformen. Als sie hereinkamen, sah es ganz so aus, als hätten sie reichlich Patronen, jedenfalls richteten sie in einem Moment wilder Konzentration ihre Gewehre auf uns, und für meine jungen Augen, die zwischen den Beinen meines Vaters hindurchlugten, wirkten die Gesichter der sechs oder sieben Burschen, die den Tempel betreten hatten, im Licht des Kaminfeuers nur völlig verängstigt.

Der aufgeschossene, magere Bursche vom Berg, dem die Hosenbeine nicht einmal bis zu den Knöcheln reichten, sprang hinter dem Tisch hervor und stürzte sich, aus welchem verrückten Grund auch immer, den Neuankömmlingen entgegen, als kämpfe er auf einem regulären Schlachtfeld. Der Bruder des Toten folgte dicht hinter ihm, vielleicht nahm sein Leid ihm jede Vorsicht. Es ist schwierig, den Lärm zu beschreiben, den Gewehre in einem kleinen, abgeschlossenen Raum erzeugen, aber Ihnen würden davon die Knochen aus dem Fleisch fallen. Mein Vater, Father Gaunt und ich drückten uns gleichzeitig mit dem Rücken an die Wand, und die Kugeln, die in die beiden Burschen eindrangen, müssen eigenartige Spuren durch sie hindurchgezogen haben, denn im Putz der alten Mauer neben mir sah ich jäh explodierende Pocken. Erst die Kugeln, dann eine dünn rieselnde Kaskade von leichtestem Blut auf meiner Schuluniform, meinen Händen, meinem Vater, meinem Leben.

Die beiden Irregulären waren nicht tot, sondern krümmten sich ineinander verschlungen auf dem Boden.

»Um Gottes willen«, rief Father Gaunt, »lasst ab – es ist ein junges Mädchen hier, und gewöhnliche Leute.« Was immer er mit Letzterem meinte.

»Legt die Waffen nieder, legt die Waffen nieder«, rief einer der neuen Soldaten, fast war es ein Aufschrei. Gewiss warf nun auch der letzte Mann auf unserer Seite des Tisches sein Gewehr hin, zog seine Pistole aus dem Hosenbund, stand unverzüglich auf und hob die Hände. Eine Sekunde lang blickte er sich zu mir um, und ich glaubte schon, dass ihm die Augen tränten, irgendetwas taten seine Augen, jedenfalls durchbohrten sie mich, scharf, sehr scharf, als könnten Blicke töten, als wären sie wirksamer als die Patronen, die sie nicht besaßen.

»Hört zu«, sagte Father Gaunt. »Ich glaube – ich glaube, die Männer hier haben keine Kugeln. Bitte jeder mal einen Moment lang nichts tun!«

»Keine Kugeln?«, fragte der Kommandeur der Männer. »Weil sie die alle unseren Männern oben auf dem Berg in den Leib gejagt haben. Seid ihr die Schweine, die oben auf dem Berg waren?«

Oje, oje, wir wussten, dass sie es waren, doch aus irgend einem Grund sagte keiner von uns ein Wort.

»Ihr habt meinen Bruder umgebracht«, sagte der Mann namens John am Boden. Er hielt sich den Oberschenkel, und direkt unter ihm schwamm eine große, seltsam dunkle Lache aus Blut, Blut so schwarz wie Amseln. »Ihr habt ihn kaltblütig erschossen. Ihr hattet ihn gefangen, er war wehrlos, und ihr habt ihm in den Bauch geschossen, verfluchte drei Mal!«

»Damit ihr uns nicht nachgeschlichen kommt und uns an Ort und Stelle umlegt!«, sagte der Kommandeur. »Haltet die Männer am Boden, und du«, brüllte er demjenigen zu, der sich ergeben hatte, »betrachte dich als festgenommen. Bringt sie alle raus zum Lastwagen, Jungs, und wir klären das hier. Wir erwischen euch im Dunkel der Nacht in diesem dreckigen Bau, zusammengedrängt wie Ratten. Sie, Mann, wie heißen Sie?«

»Joe Clear«, sagte mein Vater. »ich bin der Friedhofswärter hier. Das ist Father Gaunt, einer der Kuratgeistlichen in der Gemeinde. Ich hab ihn gerufen, damit er sich um den toten Jungen kümmert.«

»In Sligo beerdigt ihr also solche wie den«, sagte der Kommandeur mit außerordentlichem Nachdruck in der Stimme. Und er stürzte um den Tisch herum und drückte Father Gaunt die Pistole an die Schläfe. »Was für ’ne Art Priester sind Sie überhaupt, dass Sie Ihren eigenen Bischöfen nicht gehorchen? Sind Sie einer von diesen dreckigen Renegaten?«

»Wollen Sie etwa einen Priester erschießen?«, fragte mein Vater erstaunt.

Father Gaunt hatte die Augen fest geschlossen und kniete jetzt genauso, wie er es in der Kirche tun würde. Er kniete, und ich weiß nicht, ob er lautlos betete, aber er sagte nichts.

»Jem«, sagte einer der anderen Soldaten des Freistaats, »bisher ist in Irland von uns noch kein Priester erschossen worden. Erschieß ihn nicht.«

Der Kommandeur trat zurück und löste seine Waffe von Father Gaunts Schläfe.

»Kommt, Jungs, ladet sie auf, wir verziehen uns.«

Und die Soldaten hoben die beiden Verwundeten einigermaßen sachte auf und geleiteten sie zur Tür hinaus. Als der dritte Mann abgeführt wurde, wandte er mir sein Gesicht zu.

»Möge Gott dir vergeben, was du getan hast, ich werde es nie.«

»Aber ich hab doch gar nichts getan!«, rief ich.

»Du hast ihnen verraten, dass wir hier sind.«

»Hab ich nicht, ich schwör’s bei Gott.«

»Gott ist nicht hier«, sagte er. »Schau dich nur an, schuldig wie die Sünde.«

»Nein!«, rief ich.

Da stieß der Mann ein schreckliches Lachen aus, wie Regen, der einem ins Gesicht peitscht, und die anderen Soldaten führten ihn ab. Wir konnten hören, wie sie den Gefangenen unterwegs gut zuredeten. Ich zitterte am ganzen Leib. Als sich der Raum geleert hatte, streckte der Kommandeur Father Gaunt seine große Pranke entgegen und half ihm auf die Füße.

»Tut mir leid, Hochwürden«, sagte er. »Das war eine schreckliche Nacht, Mord und Totschlag. Verzeihen Sie.«

Er sprach so aufrichtig, dass mein Vater, da bin ich mir sicher, von den Worten ebenso berührt war wie ich.

»Es war niederträchtig, wie Sie sich verhalten haben«, sagte Father Gaunt mit leiser Stimme, in der jedoch ein seltsam gewalttätiger Unterton mitschwang. »Niederträchtig. Ich unterstütze den neuen Staat voll und ganz. Das tun wir alle, bis auf diese verrückten fehlgeleiteten Burschen.«

»Dann sollten Sie auf Ihre Bischöfe hören. Und den Verdammten keinen Beistand leisten.«

»Überlassen Sie es ruhig mir, wie ich darüber denke«, sagte Father Gaunt mit einer Art schulmeisterlicher Arroganz. »Was haben Sie mit der Leiche vor? Wollen Sie die nicht auch mitnehmen?«

»Was wollen Sie mit ihr anstellen?«, fragte der Soldat mit jenem plötzlichem Überdruss, jenem Energieverlust, der sich nach einer großen Anstrengung einstellt. Sie hatten einen unbekannten Ort voller Gott weiß was für Gefahren gestürmt, und nun schien die Vorstellung, Johns Bruder Willie mitschleppen zu müssen, eine Federbreit zu weit zu führen. Oder einen Hammerbreit.

»Ich lasse den Arzt holen, ihn für tot erklären und herausfinden, zu wem er gehört, dann könnten wir ihn, falls Sie keine Einwände haben, vielleicht irgendwo auf dem Friedhof beerdigen.«

»Sie beerdigen einen Teufel, wenn Sie das tun. Schmeißen Sie ihn lieber in eine Grube vor den Mauern, wie einen Verbrecher oder einen Bastard.«

Father Gaunt sagte nichts dazu. Der Soldat ging hinaus. Mich hatte er kein einziges Mal angesehen. Als seine Stiefelschritte draußen auf dem Kiesweg verhallten, kroch das sonderbarste, kälteste Schweigen in den Tempel. Mein Vater stand stumm da, der Priester und ich saßen stumm auf dem kalten, feuchten Fußboden, und der Stummste von allen war Johns Bruder Willie.

»Ich bin in höchstem Maße verärgert«, sagte Father Gaunt schließlich in seiner besten Sonntagsmessenstimme, »dass ich in diese Geschichte mit hineingezogen worden bin. In höchstem Maße verärgert, Mr Clear.«

Mein Vater schaute verdutzt drein. Was hätte er anderes tun können? Das entgeisterte Gesicht meines Vater ängstigte mich ebenso wie Willies steif werdende Leiche.

»Es tut mir leid«, sagte mein Vater. »Es tut mir leid, falls ich mich falsch verhalten haben sollte, indem ich Roseanne gebeten habe, Sie zu holen.«

»Ja, Sie haben sich falsch verhalten, ja, falsch verhalten. Ich bin zutiefst gekränkt. Vielleicht erinnern Sie sich, dass ich es war, der Ihnen zu diesem Posten verholfen hat. Ich war es, und es bedurfte großer Überredungskünste, das kann ich Ihnen sagen. Sie haben es mir sehr schlecht gedankt, sehr schlecht.«

Damit ging der Priester ins Dunkel und in den Regen hinaus und ließ meinen Vater und mich bis zum Eintreffen des Doktors allein mit dem toten Jungen zurück.

»Vermutlich habe ich sein Leben in Gefahr gebracht. Vermutlich hatte er Angst. Aber das war nicht meine Absicht. Himmel, ich dachte, Priester wollen bei allem dabei sein. Das dachte ich wirklich.«

Auch mein armer Vater klang verängstigt, diesmal aber aus einem anderen, einem neuen Grund.

Wie sachte, wie langsam das Schicksal ihn zugrunde gerichtet haben musste.

Es gibt Dinge, die sich vor unseren Augen, in menschlicher Geschwindigkeit, zutragen, andere Dinge jedoch tragen sich in so hohen Bögen zu, dass sie nahezu unsichtbar sind. Der Säugling sieht im dunklen Nachtfenster einen Stern blinken und streckt die Hand aus, um nach ihm zu greifen. So mühte sich auch mein Vater ab, Dinge zu erfassen, die in Wahrheit ganz außerhalb seiner Reichweite lagen und die, wenn sie ihr Licht ausstrahlten, längst alt und erloschen waren.

Ich glaube, mein Vater brachte den Gang der Geschichte in Verlegenheit.

Er war weder geneigt noch abgeneigt, den jungen Willie zu beerdigen, und zog einen Priester zurate, der ihm bei seiner Entscheidung helfen sollte. Es war, als hätte er als Presbyterianer sich in Fememorde eingemischt oder jedenfalls in Mordtaten so jenseits aller Sanftmut und Liebe, dass nur in ihrer Nähe zu sein schon verheerend, ja mörderisch war.

Möglich, dass ich in späteren Jahren Darstellungen von jener Nacht hörte, die mit meiner eigenen Erinnerung nicht zusammenpassten, doch stets gab es eine feste Konstante: Auf dem Weg zu Father Gaunt hätte ich haltgemacht und meine Geschichte den Soldaten des Freistaats erzählt, sei es auf Geheiß meines Vaters oder aus eigenem Antrieb. Die Tatsache, dass ich die Soldaten nie gesehen, nie mit ihnen geredet, an dergleichen nicht einmal gedacht hatte – denn hätte das meinen Vater nicht womöglich in noch größere Gefahr gebracht? –, ist in der inoffiziellen Geschichte Sligos ohne Belang. Denn Ge schichte, soweit ich das beurteilen kann, ist nicht etwa eine Darstellung dessen, was geschehen ist, der Reihe nach und wahrheitsgetreu, sondern ein fabelhaftes Ge webe von Annahmen und Mutmaßungen, das dem Ansturm der vernichtenden Wahrheit als Banner entgegengehalten wird.

Bei menschlichem Leben muss die Geschichte höchst erfinderisch sein, denn das bloße Leben ist eine Anklage gegen die Herrschaft der Menschen über die Erde.

Meine Geschichte, die Geschichte eines jeden, fällt stets zum eigenen Nachteil aus, sogar was ich hier niederschreibe, denn eine Heldengeschichte habe ich nicht zu bieten. Keine Schwierigkeit, die ich mir nicht selbst eingebrockt hätte. Herz und Seele, beide Gott so teuer, sind durch den Aufenthalt hier verunreinigt, wie ließe sich das auch vermeiden? Dies hier scheinen gar nicht meine Gedanken zu sein, möglicherweise sind sie dem Büchlein von Sir Thomas Browne entnommen. Doch hören sie sich an, als wären es meine eigenen. In meinem Kopf klingen sie wie meine eigenen tönenden Gedanken. Es ist schon merkwürdig. Daher vermute ich, dass Gott ein Kenner unreiner Herzen und Seelen ist, dass er in ihnen das alte, ursprüngliche Muster erblickt und sie dafür lieben kann.

Das sollte er in meinem Fall auch besser tun, sonst ende ich bald beim Teufel.

Unser Haus war sauber, doch an dem Tag, als Father Gaunt zu Besuch kam, sah es nicht ganz so sauber aus. Es war Sonntagmorgen gegen zehn, sodass ich annehme, dass Father Gaunt zwischen zwei Messen von seiner Kirche aus den Fluss entlanggeeilt war, um an unsere Tür zu klopfen. Da meine Mutter auf einem gelben Ziegel in der Nische des Wohnzimmerfensters einen alten Spiegel aufgestellt hatte, konnten wir immer sehen, wer an der Tür war, ohne uns selbst zeigen zu müssen, und der Anblick des Priesters versetzte uns in hektischen Aufruhr. Ein vierzehnjähriges Mädchen ist sich seines Äußeren stets lebhaft bewusst oder glaubt es sein zu müssen, oder was auch immer, aber da wir gerade von Spiegeln reden, zu der Zeit war ich eine Sklavin des Spiegels im Schlafzimmer meiner Mutter, nicht etwa weil ich mir einbildete, gut auszusehen, sondern weil ich nicht wusste, wie ich aussah, und mich so manche Minute damit abmühte, mich einem Bild anzugleichen, dem ich trauen konnte oder mit dem ich zufrieden war, was mir aber niemals gelang. Das Gold meiner Haare kam mir vor wie nasses, verwildertes Gras, und nicht um alles in der Welt erkannte ich die Seele des Menschen, der mir da aus dem moosigen kleinen Spiegel meiner Mutter entgegenstarrte. Da die Ränder des Spiegels seltsam vermodert waren, hatte sie doch tatsächlich irgend eine ungewöhnliche Emaillefarbe gekauft, vielleicht in der Apotheke, und die Ränder des Spiegels mit winzigen schwarzen Stielen und Blättern verziert, was allem, das sich in diesem durchaus nicht poetischen Spiegel zeigte, einen Trauerflor verlieh. Mag sein, dass dies zum Berufsstand meines Vaters passte, jedenfalls bis da hin. Als erstes sauste ich also unsere paar kleinen Stufen hinauf zum Spiegel und bestürmte die Schrecken meiner vierzehn Jahre.

Als ich wieder ins Wohnzimmer hinunterkam, stand mein Vater in der Mitte des Raumes und blickte um sich wie ein scheuendes Pony, die Augen zuerst auf das Motorrad gerichtet, danach auf das Klavier, schließlich auf den Abstand dazwischen. Dann zuckten seine Hände zu einem Kissen auf dem »besten« Sessel. Als ich in die winzige Diele hinauslugte, stand meine Mutter einfach dort, sie war stecken geblieben, ohne einen Muskel bewegen zu können. Dann nahm sie wie eine Schauspielerin, die darauf wartet, die Bühne zu betreten, all ihren Mut zusammen und hob den Riegel an.

Das Erste, was mir auffiel, als Father Gaunt sich in den Raum schob, war, wie sehr er zu glänzen schien, sein Gesicht war so glatt rasiert, dass man mit einem Füllfederhalter hätte darauf schreiben können. Er wirkte so sicher, die sicherste Sache in Irland in einer unsicheren Zeit. Jeder Monat jenes Jahres sei der schlimmste Monat, hatte mein Vater gesagt, da jeder Getötete in ihm widerhalle. Der Priester dagegen sah unantastbar aus, makellos, abgetrennt, als hätte er mit der Geschichte Irlands nichts zu schaffen. Nicht, dass ich das damals dachte, weiß Gott, was ich dachte, ich weiß es nicht, nur, dass diese Reinlichkeit mir Furcht einflößte.

Ich hatte meinen Vater noch nie so aufgeregt erlebt. Er konnte nur stoßweise und lückenhaft sprechen.

»Ah, aber ja, setzen Sie sich dorthin, Hochwürden, ich bitte darum«, sagte er und näherte sich dem ernst dreinblickenden Priester so ungestüm, als wolle er ihn in den Sessel schubsen. Doch Father Gaunt ließ sich mit der Beherrschtheit eines Tänzers nieder.

Ich wusste, meine Mutter war in der Diele, in jenem kleinen Spalt von Privatsphäre und Stille. Ich stand zur Rechten meines Vaters wie ein Türhüter, wie ein Wachtposten gegen den Sturm eines Angriffs. Mein Kopf war angefüllt mit einem unbekannten Dunkel, ich konnte nicht denken, ich konnte das lange Gespräch, das wir in unseren Köpfen führen, als würde ohne unser Wissen ein Engel dort schreiben, nicht fortsetzen.

»Hmm«, sagte mein Vater. »Wir machen einen Tee, wie wäre das?«, sagte er. »Ja, das machen wir. Cissy, Cissy, würdest du bitte Wasser aufsetzen, Liebes?«

»Ich trinke so viel Tee«, sagte der Priester, »es ist ein Wunder, dass meine Haut sich nicht braun färbt.«

Mein Vater lachte.

»Das glaub ich gern, aus Pflichtgefühl, nicht wahr? Aber in meinem Haus ist das nicht nötig. Überhaupt nicht nötig. Ich, der ich Ihnen alles in der Welt verdanke, alles in der Welt. Nicht dass, nicht dass –«

Und hier verhaspelte sich mein Vater und errötete, und ich muss sagen, auch ich errötete, aus Gründen, die ich nicht verstand.

Der Priester räusperte sich und lächelte.

»Ich nehme eine Tasse Tee, aber natürlich.«

»Ah, das ist gut, das ist sehr gut«, und schon konnten wir meine Mutter in der Spülküche am Ende des Flurs hantieren hören.

»Es ist so kalt heute«, sagte der Priester und rieb sich plötzlich die Hände, »dass ich sehr erleichtert bin, vor einem Kamin zu sitzen, wirklich. Am Fluss ist es eisig. Glauben Sie«, sagte er und zog ein silbernes Etui heraus, »ich könnte eine rauchen?«

»Nur zu«, sagte mein Vater.

Der Priester entnahm seiner Soutane jetzt eine Schachtel Streichhölzer und seinem Etui eine merkwürdig längliche Zigarette, riss mit wunderbarer Präzision und Gewandtheit das Streichholz an und sog zusammen mit der Luft die Flamme durch das glatte Röhrchen. Dann atmete er aus und hüstelte leicht.

»Die … die«, sagte der Priester, »die Stellung auf dem Friedhof ist, wie Sie sich wohl denken können, nicht … haltbar. Ähem?«

Er tat einen weiteren eleganten Zug an seiner Zigarette und fügte hinzu: »Ich fürchte wirklich, Joe. Mir ist die Tatsache ebenso unangenehm, wie sie Ihnen unangenehm sein dürfte. Aber Sie werden gewiss einsehen, was für eine … was für eine große Staubwolke auf meinem Kopf niedergegangen ist – angefangen vom Bischof, der der Meinung ist, alle Renegaten müssten, wie auf der letzten Synode beschlossen, exkommuniziert werden, bis hin zum Bürgermeister, der, wie Sie vielleicht wissen, sehr gegen den jetzigen Vertrag eingestellt ist und der, als einflussreichster Mann in Sligo, großen … großen Einfluss besitzt. Wie Sie sich vorstellen können, Joe.«

»Oh«, machte mein Vater.

»Ja.«

Nun zog der Priester zum dritten Mal an seiner Zigarette und stellte fest, dass er es bereits mit einer beträchtlichen Menge Asche zu tun hatte. Mit jener Pantomimik, die Raucher so an sich haben, sah er sich nach einem Aschenbecher um, einem Gegenstand, den es in unserem Haus nicht gab, nicht einmal für Gäste. Mein Vater verblüffte mich damit, dass er dem Priester seine Hand hinhielt, zugegebenermaßen eine schwielige, vom Graben gehärtete Hand, und Father Gaunt verblüffte mich damit, dass er die Asche unverzüglich in die dargebotene Hand schnippte, die, als die Hitze sie traf, vielleicht ein klein wenig zurückzuckte. Mein Vater, die Asche in der Hand, blickte beinahe dümmlich um sich, als wäre vielleicht doch irgendwo im Zimmer ohne sein Wissen ein Aschenbecher deponiert worden, und steckte sie dann mit fürchterlichem Ernst in die Hosentasche.

»Hmm«, sagte mein Vater. »Ja, ich kann mir vorstellen, dass es schwierig ist, diese beiden Pole miteinander zu versöhnen.«

Er sprach die Worte so bedächtig.

»Natürlich habe ich mich, besonders im Rathaus, nach einer alternativen Beschäftigung umgeschaut, und nachdem diese Möglichkeit zunächst … ähem … nicht möglich schien und ich drauf und dran war aufzugeben, teilte mir Mr Dolan, der Sekretär des Bürgermeisters, mit, es gebe da einen Posten, den man bereits seit Längerem zu besetzen versucht habe – angesichts der wahren Rattenplage, von der die Lagerhäuser am Flussufer heimgesucht werden, mit einiger Dringlichkeit. Finisglen ist, wie Sie wissen, ein durch und durch gesunder Bezirk, der Doktor selbst wohnt dort, bedauerlicherweise grenzen die Hafenanlagen gleich daran, wie Sie natürlich wissen, wie jedermann weiß.«

Nun, ich könnte ein kleines Buch über die Beschaffenheit menschlichen Schweigens schreiben, über Zweck und Anlass, doch das Schweigen, das mein Vater dieser Ansprache entgegenbrachte, war überaus bestürzend. Es war ein Schweigen wie ein Loch mit einem Sog darin. Er errötete noch tiefer, bis sich sein Gesicht purpurrot verfärbt hatte, als sei er das Opfer eines Überfalls.

In diesem Moment trat meine Mutter mit dem Tee herein. Sie sah aus wie eine, die Könige bedient. Vielleicht hatte sie Angst, meinen Vater anzublicken, und hielt die Augen deswegen auf das kleine Tablett mit der gemalten französischen Mohnwiese gerichtet. Ich hatte dieses Tablett schon oft an seinem Stammplatz auf der Anrichte in der Spülküche betrachtet, mir dabei vorgestellt, einen Wind über die Blumen streichen zu sehen, und mich gefragt, wie es wohl sei in jener von Hitze und einer unverständlichen Sprache erfüllten Welt.

»Also«, sagte der Priester, »ich freue mich, Ihnen im Namen des Bürgermeisters Mr Salmon den … ähem … Posten, die … ähem … Stelle anbieten zu können.«

»Die Stelle eines –?«, fragte mein Vater.

»Die Stelle eines –«, sagte der Priester.

»Eines was?«, fragte meine Mutter vermutlich gegen ihren Willen, das Wort sprang einfach in den Raum hinein.

»Eines Rattenfängers«, sagte der Priester.

Es blieb mir überlassen, ich weiß nicht, warum, den Priester zur Tür zu bringen. Auf dem schmalen Fußweg, wo die Kälte ihn umfing und zweifellos an seinen nackten Beinen die Soutane hinaufkroch, sagte der kleine Priester:

»Roseanne, richte deinem Vater bitte aus, dass sich sämtliches Zubehör für sein Gewerbe im Rathaus befindet. Fallen und so weiter, nehme ich an. Dort wird er sie finden.«

»Danke«, sagte ich.

Dann machte er sich auf den Weg die Straße hinunter. Einen Moment später hielt er an. Ich weiß nicht, warum ich stehen blieb und ihn beobachtete. Er zog einen seiner schwarzen Schuhe aus, lehnte eine Hand gegen die Backsteinwand unseres Nachbarhauses, balancierte sodann auf einem Fuß und tastete an der Unterseite seiner Socke nach etwas, das ihn beim Gehen behinderte, ein Kieselsteinchen oder ein Stückchen Splitt. Dann löste er die Socke von ihrem Halter und zog sie mit raschem Schwung aus. Dabei enthüllte er einen länglichen weißen Fuß, dessen Zehennägel ziemlich gelb waren, so wie alte Zähne, und in die Haut einwuchsen, als wären sie noch nie ge schnitten worden. Als er mich erblickte, die ich die Augen noch immer auf ihn geheftet hatte, lachte er, zog, nachdem er den störenden Stein aufgespürt hatte, Socke und Schuh wieder an und stand breitbeinig auf dem Bürgersteig.

»Was für eine Erleichterung«, sagte er freundlich. »Mach’s gut. Und«, setzte er hinzu, »gerade fällt mir ein, es gibt da auch einen Hund. Einen Hund, der zur Arbeit gehört. Zum Rattenfang.«

Als ich wieder ins Wohnzimmer kam, hatte mein Vater sich nicht gerührt. Das Motorrad hatte sich nicht gerührt. Das Klavier hatte sich nicht gerührt. Mein Vater sah aus, als würde er sich nie wieder rühren. Meine Mutter hörte ich in der Spülküche herumkratzen, genau wie eine Ratte. Oder wie ein kleiner Hund auf der Suche nach einer Ratte.

»Verstehst du etwas von dieser Arbeit, Papa?«, fragte ich.

»Ob ich – ach, ich denke schon.«

»Du wirst sie schon nicht so schwierig finden.«

»Nein, nein, auf dem Friedhof hatte ich mit so was oft zu tun. Die Ratten lieben die weiche Erde auf den Gräbern, und die Grabsteine bieten sich als Dächer geradezu an. Ja, ich hatte mit ihnen schon zu tun. Ich werde mich in die Sache einarbeiten müssen. Vielleicht gibt es in der Bücherei ein Handbuch.«

»Ein Handbuch für Rattenfänger?«, fragte ich.

»Ja, meinst du nicht, Roseanne?«

»Bestimmt, Papa.«

»O ja.«

Ein verborgenes Leben (Steidl Pocket)

Подняться наверх