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ZWEITES KAPITEL

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Dr. Grenes Aufzeichnungen

(Leitender Psychiater, Roscommon Regional Mental Hospital)

Dieses Gebäude ist in einem schrecklichen Zustand, wie schrecklich, konnten wir so richtig erst dem Bericht der Bauaufsicht entnehmen. Die drei mutigen Männer, die unter das uralte Dach kletterten, berichten, dass viele Dachbalken kurz vor dem Einsturz stehen, als spiegelten Haupt und Glieder der Institution die Verfassung vieler der armen Insassen darunter wider. Statt Insassen sollte ich schreiben: Patienten. Da das Gebäude jedoch Ende des achtzehnten Jahrhunderts als mildtätige Einrichtung, als »Heilstätte für die überlegene Behandlung kranker Sitze der Gedanken« errichtet wurde, kommt einem stets das Wort »Insassen« in den Sinn. Wie heilsam und wie überlegen, darüber lässt sich heute nur spekulieren. Mitte des neunzehnten Jahrhunderts herrschte dank der revolutionären Ideen verschiedener Ärzte in den Irrenanstalten tatsächlich eine Periode wirklicher Aufklärung: Zwangsjacken kamen nur selten zum Einsatz, gute Ernährung wurde für ratsam erachtet, ebenso viel Bewegung und geistige Anregung. Was ein großer Fortschritt gegenüber den Praktiken von Bedlam war, wo brüllende Bestien am Boden festgekettet waren. Danach wendeten sich die Dinge wieder zum Schlechteren, und kein feinfühliger Mensch würde freiwillig Historiker der irischen Irrenanstalten zu Anfang des vergangenen Jahrhunderts sein wollen, mit ihren Klitoridektomien, Tauchbädern und Einläufen. Das vergangene Jahrhundert ist »mein« Jahrhundert, da ich zur Jahrhundertwende siebenundfünfzig war und es schwerfällt, in diesem Alter einem neuen Jahrhundert noch sein Herz und seine Aufmerksamkeit zu schenken. Fand ich jedenfalls. Und finde es noch immer. Leider bin ich nun schon fast fünfundsechzig.

Da das Gebäude sein Alter so zwingend unter Beweis stellt, werden wir es räumen müssen. Im Ministerium heißt es, mit dem Neubau werde so gut wie unverzüglich begonnen. Das mag zutreffen oder eine leere Phrase sein. Aber wie sollen wir in unserer Arbeit fortfahren, bis uns der Neubau wirklich zur Verfügung steht, philosophisch gefragt: Wie können wir eine Vielzahl von Patienten, deren DNA sich höchstwahrscheinlich längst mit dem Mörtel des Gebäudes vermischt hat, hier herauslösen? Im Haupttrakt sind fünfzig steinalte Frauen untergebracht, so alt, dass ihr Alter etwas Ewiges, etwas Fortdauerndes hat, und so bettlägerig und wund gelegen, dass es etwas Gewalttätiges hätte, sie an einen anderen Ort zu schaffen.

Vermutlich sträube ich mich innerlich gegen die Vorstellung auszuziehen, so wie jeder vernünftige Mensch es tut, wenn ein Umzug erwogen wird. Zweifellos werden wir ihn mit dem üblichen Chaos und Trauma bewerkstelligen.

Auch die Wärter und Pfleger sind längst Bestandteil des Gebäudes, wie die Fledermäuse unter dem Dach und die Ratten in den Kellern. Und von beiden gibt es, wie ich höre, eine Unzahl, auch wenn ich die Ratten Gott sei Dank nur ein einziges Mal gesehen habe, nämlich als der Ostflügel in Brand geriet und ich die schwarzen Schatten zu den unteren Türen hinaus und durch die Hecken in die Getreidefelder des Bauern flitzen sah. Als sie flohen, warf der Feuerschein eine seltsame Orangenmarmeladenfarbe auf ihren Rücken. Ich bin überzeugt, dass sie gleich, als die Feuerwehrleute Entwarnung gaben, wieder in das neue Dunkel huschten.

Also, irgendwann müssen wir hier raus. Daher muss ich der neuen Gesetzgebung entsprechend beurteilen, wer von den Patienten wieder in die Gemeinschaft (was immer das ist, o Herr!) entlassen werden kann und welcher Kategorie jeder der anderen Patienten zuzurechnen ist. Viele von ihnen werden über die neue Einrichtung, den modernen Verputz, die gute Isolierung und Heizung entsetzt sein. Noch das Stöhnen des Windes in den Gängen, selbst an stillen Tagen – wie geht das eigentlich? vielleicht ein Vakuum, hervorgerufen von Kälte und Wärme in verschie denen Teilen des Krankenhauses? –, werden sie vermissen, die leise Hintergrundmusik ihrer Träume und ihrer »Verrücktheiten«. Da bin ich mir sicher. Die armen alten Kerle in den vor langer Zeit von den Krankenhausschneidern angefertigten schwarzen Anzügen, die nicht so sehr verrückt als vielmehr obdachlos und steinalt sind und wie Soldaten irgendeines vergessenen Unabhängigkeits- oder Indianerkrieges in den Räumen des älteren Westflügels hausen, werden sich außerhalb dieses verlorenen Grund und Bodens von Roscommon nicht wiedererkennen.

Diese Notwendigkeit wird mich vor eine Aufgabe stellen, der ich lange aus dem Weg gegangen bin, nämlich herauszufinden, welche Umstände einige der Patienten hierhergeführt haben und ob sie tatsächlich, wie es in einigen tragischen Fällen zutraf, eher aus sozialen als aus medizinischen Gründen eingewiesen wurden. Denn ein so großer Narr bin ich nicht, zu glauben, dass alle »Irren« hier drin wirklich verrückt sind oder es waren, bevor sie hierherkamen und von einer Art viraler Verrücktheit erfasst wurden. In der allwissenden breiten Öffentlichkeit, oder sagen wir: in der öffentlichen Meinung, wie sie sich in den Zeitungen niederschlägt, gelten diese Menschen als »freiheitswürdig« oder »entlassungswürdig«. Was durchaus zutreffen mag, doch Kreaturen, die so lange im Zwinger gehalten und eingesperrt wurden, empfinden Freiheit und Entlassung als äußerst fragwürdige Errungenschaften, so wie die osteuropäischen Länder nach dem Kommunismus. Und auf gleiche Weise spüre ich in mir einen sonderbaren Widerwillen dagegen, irgendjemanden gehen zu sehen. Woher kommt das? Ist es die Besorgnis des Zoowärters? Werden sich meine Polarbären auch am Pol zurechtfinden? Vermutlich greift dieser Gedanke zu kurz. Nun ja, wir werden sehen.

Insbesondere meine alte Freundin Mrs McNulty werde ich ansprechen müssen, die nicht nur die älteste Person an diesem Ort, sondern in Roscommon, vielleicht sogar in Irland ist. Betagt war sie schon vor dreißig Jahren, als sie hierherkam, obwohl sie damals die elementare Kraft einer – ich weiß nicht, einer Naturgewalt besaß. Sie ist ein bemerkenswerter Mensch, und obwohl lange Zeiträume verstrichen sind, in denen ich sie nicht oder nur flüchtig zu Gesicht bekommen habe, bin ich mir ihrer stets bewusst und vergesse nicht, mich nach ihr zu erkundigen. Ich fürchte, sie ist eine Art Prüfstein für mich. Sie gehört zum lebenden Inventar und repräsentiert nicht nur die Anstalt, sondern auf eigentümliche Art auch meine eigene Geschichte, mein eigenes Leben, »ist Leitstern, der verirrte Schiffe lenkt«, wie Shakespeare es nennt. Meine Eheprobleme mit der armen Bet, meine gedrückte Stimmung, mein mitunter sinkender Mut, mein Gefühl, nicht voranzukommen, mein dies, mein das – meine Dummheit im Umgang mit Menschen vermutlich. Während die Verhältnisse sich unausweichlich verändert haben, ist sie sich gleich geblieben, auch wenn sie natürlich im Lauf der Jahre schwächer und schmächtiger geworden ist. Ist sie inzwischen hundert? Unten im Aufenthaltsraum hat sie immer Klavier gespielt, ziemlich gekonnt, Lieder und Jazzmelodien der Zwanziger- und Dreißigerjahre. Ich weiß nicht, wo sie die aufgeschnappt hat. Sie hat immer in einem dieser schrecklichen Krankenhauskittel dagesessen, aber ausgesehen hat sie wie eine Königin, mit ihrem langen silbernen Haar, das ihr offen auf den Rücken fiel, und ihrem eindrucksvollen Gesicht, obwohl sie damals bereits siebzig war. Eigentlich war sie noch immer sehr schön, und weiß Gott, wie sie ausgesehen haben muss, als sie noch jung war. Aus dem Rahmen fallend, die Verkörperung von etwas Außergewöhnlichem, vielleicht sogar Fremdartigem in dieser provinziellen Welt. Als in späteren Jahren ein milder Rheumatismus einsetzte – sie duldete das Wort nicht, nannte es ein »Zaudern« ihrer Finger –, hörte sie mit dem Klavierspielen auf. Vielleicht hätte sie fast ebenso gut weiterspielen können, aber »fast ebenso gut« stellte sie nicht zufrieden. So ging uns der Klang von Mrs McNultys Jazzspiel verloren.

Nachzutragen ist, dass das Klavier, von Holzwürmern befallen, später mit lautem, unmusikalischem Geklirr in einem Container landete.

Jetzt muss ich also zu ihr und sie nach diesem und jenem befragen. Ich bin unerklärlich nervös deswegen. Warum sollte ich nervös sein? Ich glaube, weil sie so viel älter ist als ich und, obwohl sie zu tiefem Schweigen neigt, eine äußerst angenehme Gesellschaft, so wie eine ältere Kollegin, die man verehrt. Ich glaube, das ist es. Vielleicht auch, weil ich den Verdacht habe, dass sie mich ebenso gern mag wie ich sie. Dabei wüsste ich nicht einmal, weshalb sie mich mag. Ich habe mir eine Neugier auf sie bewahrt, bin aber nie in ihr Leben eingetaucht, was man mir als professionellem Psychiater wohl anlasten könnte. Dennoch, so ist es nun einmal, sie mag mich. Doch um nichts in der Welt würde ich diese Zuneigung, deren Grundlage, meine ich, erschüttern wollen. Ich muss also vorsichtig zu Werke gehen.

Roseannes Selbstzeugnis

Wie gern würde ich sagen, ich hätte meinen Vater so sehr geliebt, dass ich ohne ihn nicht hätte leben können, aber ein solches Eingeständnis würde sich mit der Zeit als falsch erweisen. Diejenigen, die wir lieben, diese unentbehrlichen Wesen, werden uns entrissen nach dem Willen des Allmächtigen oder der Teufel, die sich seines Thrones bemächtigt haben. Es ist, als würde uns bei ihrem Tod ein riesiger Bleiklumpen auf die Seele gelegt, und wenn diese Seele vorher schwerelos war, so ist sie jetzt eine verborgene und verderbliche Last in unserem Innersten.

Als ich etwa zehn war, nahm mich mein Vater in einem Anfall von Erziehungswut mit in die Spitze des hohen, schlanken Turmes auf dem Friedhof. Es war einer jener schönen, stolzen, grazilen Bauten, die die Mönche in Zeiten der Gefahr und der Verheerung errichtet hatten. Er stand in einer mit Brennnesseln bewachsenen Ecke des Friedhofs und wurde nicht weiter beachtet. Wer in Sligo aufgewachsen war, für den war er einfach da. Aber zweifellos war er eine unvergleichliche Kostbarkeit, erbaut mit nur einem Hauch von Mörtel zwischen den Steinen, deren jeder der Krümmung des Turmes folgte und von den Maurern des Mittelalters mit größter Präzision eingefügt worden war. Natürlich war es ein katholischer Friedhof. Mein Vater hatte seine Anstellung nicht aufgrund seiner Konfession erhalten, sondern weil er bei jedermann in der Stadt beliebt war und die Katholiken nichts dagegen einzuwenden hatten, dass ihre Gräber von einem Presbyterianer ausgehoben wurden, solange dieser nur sympathisch war. Denn zu der Zeit herrschte zwischen den Kirchen oft besseres Einvernehmen, als wir meinen, und oft wird vergessen, dass, wie mein Vater oft betonte, die anderen von der anglikanischen Staatskirche abweichenden Bekenntnisse unter den Strafgesetzen längst verflossener Tage eben so zu leiden hatten wie das katholische. Dort, wo Freundschaft besteht, gibt es jedenfalls nur selten Schwierigkeiten mit der Konfession. Erst später wurde der Unterschied zum Abgrenzungsmerkmal. Zumindest weiß ich, dass der katholische Gemeindepfarrer, ein kleiner, forscher, flinker Mann namens Father Gaunt, der später, in meiner eigenen Geschichte, eine so große Rolle spielen sollte, falls ein kleiner Mann eine große Rolle spielen kann, ihn sehr gut leiden mochte.

Es war die Zeit kurz nach dem Ersten Weltkrieg, und in den Schützengräben der Geschichte befasst sich der Verstand vielleicht mit Merkwürdigkeiten, mit erzieherischen Verschrobenheiten wie jener, auf die er es an jenem Tag mit mir abgesehen hatte. Andernfalls könnte ich mir nicht erklären, weshalb ein erwachsener Mann sein Kind zusammen mit einem Sack voll Hämmer und Federn in die Spitze eines alten Turmes mitnehmen sollte.

Ganz Sligo – Fluss, Kirchen, Häuser – breitete sich strahlenförmig vom Fuß des Turmes aus, zumindest hatte es von der kleinen Fensteröffnung in der Spitze den Anschein. Ein vorüberfliegender Vogel hätte zwei aufgeregte Gesichter sehen können, die gleichzeitig hinaus zuspähen versuchten. Ich verlagerte mein Gewicht auf meine Zehen und stieß dabei gegen die Unterseite seines Kinns.

»Roseanne, liebstes Kind, ich hab mich heute Morgen schon rasiert, und dir mit deinem Goldschopf wird das ohnehin nicht gelingen.«

Denn es stimmte, dass ich weiches Haar hatte, das schimmerte wie Gold – wie das Gold jener Mönche. Golden wie der Glanz alter Buchkunst.

»Papa«, sagte ich, »lass endlich die Hämmer und die Federn fallen und lass uns sehen, was dabei herauskommt.«

»Ach«, sagte er, »ich bin müde vom Aufstieg, wir wollen erst unsere Blicke über Sligo wandern lassen, bevor wir unser Experiment in Angriff nehmen.«

Er hatte abgewartet und einen windstillen Tag für sein Vorhaben ausgewählt. Er wollte mir die uralte Prämisse beweisen, dass im Reich der Theorie alle Körper dieselbe Fallgeschwindigkeit haben.

»Alle Körper fallen gleich schnell«, hatte er gesagt, »im Reich der Theorie. Und ich werde es dir beweisen. Ich werde es mir selbst beweisen.«

Wir hatten vor dem knisternden Kohlenfeuer gesessen.

»Alle Körper mögen gleich schnell fallen, wie du sagst«, meldete sich meine Mutter aus ihrer Ecke des Zimmers zu Wort. »Aber nur selten steigt einer auf.«

Ich glaube nicht, dass dies eine Stichelei war, eher eine Feststellung. Jedenfalls blickte er mit jener vollkommenen Gemütsruhe zu ihr hinüber, die sie selbst so meisterlich beherrschte und die sie ihn gelehrt hatte.

Es kommt mir seltsam vor, dies alles hier in diesem dunkel gewordenen Zimmer aufzuschreiben, es mit blauer Kugelschreibertinte hinzukritzeln, die beiden vor meinem geistigen Auge oder irgendwo hinter den Augen, in der verdüsterten Schale meines Schädels, zu sehen, noch immer präsent, wahrhaft lebendig und gesprächig, als sei ihre Zeit die wahre Zeit und meine nur eine Illusion. Und zum tausendsten Mal rührt es mein Herz, zu sehen, wie schön sie ist, wie geschmackvoll, wie liebenswürdig und leuchtend, mit ihrem Southamptoner Akzent, der den Kieseln am Strand gleicht, wenn die Wellen sie hin und her rollen, ein weiches Rascheln und Rauschen, das in meinen Träumen nachklingt. Allerdings stimmt es auch, dass sie mich, wenn ich ungezogen war, wenn sie Sorge hatte, mein Pfad könnte von dem Pfad abweichen, den sie für mich ausersehen hatte, zu verprügeln pflegte, selbst bei nichtigen Anlässen. Aber damals war es eine Selbstverständlichkeit, Kinder zu schlagen.

Jetzt also rangelten unsere beiden Gesichter um den besten Platz, eingerahmt von dem alten Rahmen des kleinen Guckfensters der Mönche. Welche längst verschwundenen Gesichter hatten dort hinausgespäht, welche unter ihren Kapuzen schwitzenden Mönche hatten zu erkennen versucht, wo die Wikingerhorden waren, die kommen würden, sie zu morden und ihnen ihre Bücher, ihre Gefäße und ihre Münzen zu rauben? Kein Maurer überlässt den Wikingern gern ein großes Fenster, und jenes Fenster zeugte noch immer von alter Angst und Gefahr.

Nach einiger Zeit war klar, dass sich sein Experiment unmöglich durchführen ließ, solange wir alle beide dort standen. Einer von uns würde das Ergebnis verpassen. So schickte er mich allein über die feuchte steinerne Treppe nach unten, und noch heute kann ich das nasse Gemäuer unter meiner Hand spüren und das seltsame Entsetzen, von ihm getrennt zu sein, das mich erfasste. In meiner kleinen Brust schlug es so heftig, als sei eine furchtsame Taube darin gefangen.

Ich trat aus dem Turm und stellte mich, wie er mir aus Angst, die herabfallenden Hämmer könnten mich erschlagen, befohlen hatte, ein Stück vom Sockel entfernt auf. Von unten wirkte der Turm riesig, an jenem Tag schien er bis zu den schmutzig grauen Wolken aufzuragen. Bis in den Himmel. Kein Lüftchen regte sich. Die verwilderten Gräber dieses Friedhofsabschnitts, die Gräber von Männern und Frauen eines Jahrhunderts, als die Menschen sich nur unbehauene Steine leisten konnten, auf denen kein Name geschrieben stand, wirkten nun anders, da ich allein war, ganz anders, so als könnten sich die armen Gerippe gegen mich erheben und mich in ihrem ewigen Hunger verschlingen. Als ich so auf dem Rasen stand, fühlte ich mich wie ein Kind auf einer Felsenklippe, wie in jener Szene aus dem alten Stück König Lear, in der der Freund des Königs sich einbildet, von einem Felsvorsprung hinabzustürzen, obwohl dort gar kein Felsvorsprung ist. Wenn man es liest, glaubt man selbst daran, dass es einen solchen Felsvorsprung gibt, und stürzt zusammen mit dem Freund des Königs hinab. Aber pflichtgetreu, pflichtgetreu, liebevoll, liebevoll schaute ich hinauf. Es ist kein Verbrechen, den eigenen Vater zu lieben, es ist kein Verbrechen, keine Kritik an ihm üben zu wollen – und immerhin kannte ich ihn bis in die Anfangsjahre meines Frauseins, oder doch fast, in jenen Jahren also, wenn ein Mädchen dazu neigt, von seinen Eltern enttäuscht zu sein. Es ist kein Verbrechen, zu spüren, wie das eigene Herz ihm entgegenschlägt, oder doch dem biss chen, das ich von ihm sehen konnte, denn jetzt ragte sein Arm aus der kleinen Fensteröffnung, und der Sack hing in der irischen Luft. Jetzt rief er mir etwas zu, und ich konnte seine Worte kaum verstehen. Doch nach ein paar Anläufen glaubte ich ihn sagen zu hören:

»Hältst du auch genügend Abstand, liebstes Kind?«

»Ich halte genügend Abstand, Papa«, rief ich, ich schrie es fast, so weit mussten meine Worte nach oben steigen, und so klein war das Fenster, durch das sie hindurch mussten, um an seine Ohren zu dringen.

»Dann lass ich den Sack jetzt los. Pass auf, pass auf!«, rief er.

»Ja, Papa, ich passe auf!«

So gut er konnte, lockerte er mit den Fingern einer Hand die Öffnung des Sacks und schüttete den Inhalt aus. Ich hatte gesehen, was er hineingetan hatte. Eine Handvoll Federn aus dem Federkissen ihres Bettes, die er gegen den kreischenden Einspruch seiner Frau herausgerupft hatte, und zwei Maurerhämmer, die er verwahrte, um die Mäuerchen und Grabsteine der Gräber instand zu setzen.

Unverwandt starrte ich hinauf. Vielleicht hörte ich ja eine wundersame Musik. Das Kja-kja der Dohlen und das Rrrah-rrrah der Saatkrähen in den großen Buchen dort vereinte sich in meinem Kopf zu einer Melodie. Ich verrenkte mir den Hals, so gespannt war ich, das Ergebnis dieses eleganten Experiments zu beobachten, ein Ergebnis, das mir meinem Vater zufolge im Leben noch gute Dienste erweisen würde: als Grundlage einer eigenständigen Philosophie.

Obwohl nicht der leiseste Windhauch ging, schwebten die Federn sogleich davon, verstreuten sich wie bei einer kleinen Explosion, stoben sogar grau zu den grauen Wolken auf und waren fast nicht mehr zu sehen. Die Federn schwebten, schwebten davon.

Vom Turm rief mein Vater, rief in hellster Aufregung: »Was siehst du, was siehst du?«

Was sah ich, was wusste ich? Manchmal glaube ich, es ist der Hang zur Lächerlichkeit bei einem Menschen, zu einer womöglich aus Verzweiflung geborenen Lächerlichkeit, wie sie auch Eneas McNulty – noch wissen Sie nicht, wer das ist – so viele Jahre später an den Tag legen sollte, der einen mit Liebe zu diesem Menschen geradezu durchbohrt. Das alles: nicht wissen, nicht sehen, ist Liebe. Für immer stehe ich dort, verrenke mir den Hals, um zu sehen, spähe und recke meinen steifen Nacken, und sei es aus keinem anderen Grund als aus Liebe zu ihm. Die Federn schweben davon, schweben und wirbeln davon. Mein Vater ruft und ruft. Mein Herz schlägt ihm entgegen. Die Hämmer fallen noch immer.

Ein verborgenes Leben (Steidl Pocket)

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