Читать книгу Der die Träume hört - Selim Özdogan - Страница 15

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Es war halb sechs, als ich aufwachte, es gab nichts, was zurück in den Schlaf führte, das wusste ich, aber es hinderte mich nicht daran, mich noch mal umzudrehen und es trotzdem zu versuchen. Ich hatte unruhig geschlafen, in der Erwartung, die Tür könnte jederzeit aufgebrochen werden.

Wahrscheinlich wäre es klüger gewesen, nach Westmarkt zu fahren und Dilovan zu suchen, anstatt zu warten, bis er oder einer seiner Leute hier aufkreuzte, weil Fayaz ihnen verraten hatte, wo Lesane gerade wohnte.

Ich fragte mich, ob ich Lesane abholen und ihn mit zu Sevgi nehmen sollte. Er kann kein Türkisch, sagte ich mir, es wäre nicht sinnvoll. Außerdem hatte ich ihn bisher mit keinem Wort erwähnt, ich wusste selber nicht genau warum. Vielleicht weil ich mich schämte, dass ich nie für ihn da gewesen war. Dass ich nicht gespürt hatte, dass er existiert. Nein, das war es nicht, es war, weil ich ahnte, an wen er Sevgi erinnern würde.

Ich würde ihn bei Rahel lassen, bis ich mit Dilovan geredet hatte, aber was dann? Ins Wettbüro gehen? Sevgi um Geld bitten? Dilovan um Aufschub? Erst mal war mir wichtig gewesen, Lesane aus der Schusslinie zu haben.

Ich fragte mich, wie Lesane jetzt schlief. Ob er sich sicher fühlte. Ob Rahel ihm ansehen konnte, dass er 20.000 Euro Schulden bei einem Kriminellen hatte, vor dem man Angst haben musste. Wie gerne hätte ich ihn gestern Abend in den Arm genommen und gesagt: Keine Angst. Ich stehe hinter dir.

Obwohl es Sevgi gewesen war, die immer gesagt hatte: Nizar, ich stehe hinter dir, es reicht, wenn du aufrecht gehst, mehr brauchst du nicht zu tun, obwohl Sevgi mich beschützt hatte, draußen hatte ich mich nur sicher gefühlt, wenn Kamber dabei war. Kamber, ich hatte gewusst, mit ihm würde ich nicht allein sein, selbst wenn wir verloren.

Dilovan war gute zehn Jahre jünger als ich und irgendetwas war anders bei diesem Kerl. Er war schon mit vierzehn mit zu großen Deals nach Holland gefahren. Die Leute, die ihn nicht kannten, nahmen ihn nicht ernst, weil er so jung war, aber er hatte oft einen Dolch dabei, den er im Ärmel versteckte, und er hatte keinerlei Skrupel ihn auch zu benutzen. Mit sechzehn wickelte er selber Deals ab, heuerte Fahrer an oder fuhr selber, wenn sich keiner fand. Tarkan hatten alle bewundert, Kamber hatten auch alle bewundert, Tarkan und Kamber waren cool gewesen. Dilovan nicht, vor dem hatten immer alle Angst.

Dilovan war keiner dieser Männer, die wenigstens vorgaben, sich um das zu kümmern, was sie Familie nennen, und die mit ihrem Viertel verbunden sind. Dilovan war ein Geschäftsmann, kein Choleriker, aber auch kein cooler Typ. Viele in seiner Liga koksten zu viel, zogen zu viel Speed, tranken zu viel. Dilovan nahm keine Drogen, er rauchte nicht mal und trank selten ein Glas Bier. Er nahm keine Anabolika, von denen er hätte aggressiv werden können, er war auch nicht aufbrausend, doch wenn es um Gewalt ging, war bei ihm irgendetwas anders als bei den meisten anderen Menschen. Er brach Schädelknochen, wie andere Nackenschellen verteilten.

Warum, hatte ich Lesane gefragt, warum um alles in der Welt geht man zu so jemandem wie Dilovan und fragt nach Gras im Wert von 20.000 Euro auf Kombi?

– Ich habe nicht danach gefragt, hatte er geantwortet, er hat es mir angeboten. Weil er gesehen hat, dass ich ein guter Ticker bin und weil mir sonst keiner eine Chance geben wollte.

– Aber warum gleich so viel? Viel zu großes Risiko. Null Backup, falls es schiefgeht. Das war dumm. Warum?

– Er hat mir diese Chance angeboten. Er hat an mich geglaubt.

– Ihm kann es egal sein, ob du es in den Sand setzt oder nicht.

Er kriegt sein Geld.

– Ich hab’s nicht.

– Ich weiß. Und er weiß es auch, er wird dich für lau arbeiten lassen.

– Dann muss ich für jemand in den Knast. Oder Fuhren aus Holland holen. Oder bei ’nem Raub mitmachen.

– Richtig. Und das willst du nicht, oder? Der glaubt nicht an dich, der glaubt nur ans Geld. Was wolltest du mit so viel Asche? 20.000. Da wären einige Riesen für dich abgefallen, was willst du damit?

– Alles hier ist Para. Hosen kosten Geld, Schuhe kosten Geld, Uhren kosten Geld, Auto kostet Geld. Ich hätte es in drei, vier Tagen vertickt. Es war nicht meine Schuld.

Es war eine unglaubwürdige Geschichte, wie ihm das Gras abhanden gekommen war, und irgendetwas daran schien mir faul, aber ausnahmsweise hatte ich nicht das Gefühl, dass er mich belog. Sie hatten das Gras im Kofferraum von Fayaz’ Auto verstaut, in zwei Sporttaschen, vakuumiert, geruchsfrei. Hatten im Halteverbot geparkt, da, wo sie immer parkten. Wo sie noch nie abgeschleppt worden waren. Sie hatten nur eine Stunde Fußball gespielt an der Wiese am Blumenberg. Als sie wiederkamen, war der Wagen weg, abgeschleppt, wie sie herausfanden. Sie waren nervös, aber sie fuhren ihn abholen, um hinterher festzustellen, dass der Kofferraum leer war. Und da war niemand, den sie nach dem Gras fragen konnten. Lesane hatte sich mit Fayaz den Kopf zugeraucht und war nach Hause gegangen und hatte Sami die Kopfnuss verpasst.

– Erinnerst du dich an Ayleen?, fragte ich Sevgi, als sie sich die Zigarette nach dem Essen anzündete.

– Die, deren Mutter Deutsche ist?

– Genau die.

– Die Mutter taugte nichts. Der Mann hat sie ja dann auch verlassen. Wie hieß der noch?

– Hamdi.

– Genau, der ist ja zwei, drei Jahre nach der Trennung in die Türkei gezogen. Und Ayleen … die war nicht so dumm, wie alle immer geglaubt haben, weil sie diese komische Stimme hatte. Aber die hat ihre Nase immer so hoch getragen, als sei sie irgendetwas Besseres.

Einen Moment lang überlegte ich, ob ich es lassen sollte. Andererseits gab es ohnehin niemanden, über den sie ein gutes Wort verlor. Es zog in meinen Handflächen. Ich war aufgeregt. Schon wieder war ich aufgeregt. Klar konnte man sein Leben so einrichten, dass man seine Ruhe hatte. Nur brach irgendwann einfach alles zusammen. Was hatte ich schon gewollt, außer ein wenig Musikhören, eine kleine Wohnung, ab und an einen Joint und sonst Stille?

– Die hat doch diesen Hilfsarbeiter geheiratet. Wie heißt der noch?

– Sami. Er ist jetzt Paketfahrer.

– Ja, Sami. Nicht der Hellste, aber ein guter Junge. Die haben doch einen Sohn, oder? So ein Nichtsnutz, dem schon vorbestimmt ist, auf den Matratzen von Zellen zu schlafen.

Es war nicht der richtige Moment, aber es würde nie der richtige Moment sein.

– Er ist mein Sohn, sagte ich.

– Bitte?

– Lesane, er ist nicht von Sami. Ich bin sein Vater.

– Geh, sagte sie. Was willst du denn mit dem? Wenn du jemanden adoptieren willst …

– Nicht adoptieren, unterbrach ich sie. Er ist mein Sohn. Mein leiblicher Sohn. Wir haben einen Test machen lassen.

Sie ließ ihre Zigarette sinken und sah mich an.

– Ich bin eine alte Frau, sagte sie, erlaub dir keine Scherze mit mir, mit einem Bein stehe ich …

– Es ist kein Scherz, sagte ich. Er ist mein Sohn.

– Seit wann weißt du das?

– Ein paar Tage, sagte ich, weil ich nicht lügen wollte.

Ich hatte sie oft angelogen, sehr oft, aber ich wusste nicht, wie lange das letzte Mal her war.

– Wer weiß es noch?

– Ayleen und er selber. Sonst niemand.

– Sami?

Ich schüttelte den Kopf.

Sie hatte es auch nicht geahnt und irgendwie beruhigte mich das. Sie griff nach der Packung, obwohl in ihrer Hand noch eine Zigarette brannte. Man sah den Widerstreit in ihr zwischen Freuen und Fluchen.

– Was hat sie sich dabei gedacht, dir das so lange zu verschweigen?

Sie legte die Packung wieder weg, als sie die Zigarette zwischen ihren Fingern bemerkte.

– Ich weiß es nicht.

Sie schüttelte den Kopf.

– Was hat sich diese Schlampe denn gedacht?

Ich hob die Schultern. Sie sah mich an. Ihre Augen füllten sich mit Tränen, noch einen Moment und sie würden über das Lid fließen. Sie drehte den Kopf weg.

– Wie hieß das Mädchen noch mal?

– Ayleen?

– Nein, diese Deutsche, mit der du weggefahren bist.

– Rahel? Wie kommst du denn jetzt auf Rahel?

Sie sah mich wieder an. Die Tränen waren nicht geflossen und würden nicht fließen.

– Ich bin eine alte Frau, sagte sie. Ich hätte dir ein Kind gewünscht. Was habe ich verbrochen, dass ich nie ein Enkelkind im Arm halten konnte? Was hast du verbrochen, dass sie dir seine Kindheit gestohlen hat? Sie ist eine Diebin. Du wärst ein guter Vater gewesen.

Sie sagte es mit einer solchen Überzeugung, dass es mich traf wie ein Faustschlag. Mir schossen die Tränen in die Augen und ich schaute auf den Tisch.

– Und warum hat sie es dir jetzt gesagt? Welchen Vorteil erhofft sie sich davon?

– Er streitet sich jeden Tag mit Sami. Sie hatte Angst, dass es Gewalt gibt, und wusste sich nicht mehr zu helfen.

– Ja, sagte sie, jeder Fehler, den man zu verstecken versucht, führt am Ende in eine Sackgasse. Vielleicht sieht es eine Zeit lang aus wie das Paradies, aber das Paradies kennt keine Sackgassen. Wenn Gott den Menschen nur etwas mehr Verstand gegeben hätte. Was machst du jetzt? Trefft ihr euch?

– Er wohnt gerade bei mir, rutschte es mir heraus.

– Er …

Mein Magen verkrampfte sich. Ich wollte nicht lügen.

– Er hat Sami eine Kopfnuss gegeben. Ist vielleicht gut, wenn alle ein wenig Abstand haben.

Ich wusste, woran es sie erinnert hätte, wenn ich ihr die ganze Wahrheit erzählt hätte. Ich wollte nicht. Und ich glaube, wenn sie es sich hätte aussuchen können, hätte sie es auch nicht gewollt.

– Ist er ein dummer Junge?, fragte sie.

– Ich fürchte schon.

Sie schüttelte leicht den Kopf und lächelte. Macht nichts, sollte das heißen. Sie lächelte voller Wärme.

– Wir haben schon ganz andere Berge erklommen, sagte sie. Ich schämte mich, dass ich nicht zu so einem Lächeln fähig war.

Später, nachdem ich ihr wieder und wieder versprochen hatte, ihn nächstes Mal mitzubringen, schloss sie die Wohnungstür hinter mir und ich setzte mich im zweiten Stock einfach auf die Stufen.

Ich wollte nicht raus.

1993, The World Is Yours, Scarface

Es fängt mit Unruhe und Aufregung an, er muss kacken und geht ins Gebüsch. Als er wiederkommt, behaupten die anderen, sie spürten nichts. Kamber schlägt vor nachzuwerfen, obwohl nicht viel mehr als eine halbe Stunde vergangen sein kann. Sie haben nicht genug zweite Teile für jeden, also bekommt jeder noch ein halbes. Es sind kleine weiße runde Pillen, auf der einen Seite ist der Diesel-Indianer, auf der anderen eine Bruchrille.

Sein Brustkorb scheint sich zu weiten, er atmet tief ein, überrascht davon, wie viel Luft in ihn hineinpasst und wie gut sie sich anfühlt. Es ist, als würde eine nie gekannte Energie ihn durchfluten, eine Energie, die ihm aber dennoch vertraut vorkommt. Das ist eine Viertelstunde nach der nachgeschmissenen halben Pille.

Kurz darauf ist er überfordert. Als würde ein Orkan ihm die Füße vom Boden reißen und ihn mitnehmen. Er bekommt mit, dass Kamber sagt, er spüre immer noch nichts, dann scheint das Bild vor seinen Augen zu wackeln, er weiß nicht wohin mit der Energie, er ist ganz bewegungslos. Er weiß nicht wohin mit sich. Das ist nicht die Paranoia, die manchmal beim Kiffen kommt, es ist etwas ganz anderes. Als würden alle Knoten in ihm einfach aufgelöst werden.

Er hört, wie Kamber auf eine Frage antwortet: Wieso? So fühle ich mich immer.

Das Nächste, woran er sich hinterher klar erinnert, ist, dass sie zu dritt auf der Bank am Spielplatz sitzen und Kamber vor ihnen auf und ab geht, während er selber redet. Als hätten sich die Worte jahrelang in ihm aufgestaut. Als würden sie jetzt alle wie von selbst in der richtigen Reihenfolge aus seinem Mund sprudeln.

Wie froh er ist, einen Bruder wie Kamber zu haben, eine Mutter wie Sevgi. Wie traurig er manchmal ist, weil er Sevgi so viel Kummer bereitet. Wie oft er sich wünscht, wie Kamber zu sein. Mutig. Unerschrocken. Draufgängerisch. Klug. Gewitzt. Wie sich diese Sehnsucht nach Freiheit anfühlt. Eine blaue Sehnsucht, sagt er, blau wie der Himmel, blau wie das Meer. Er sieht die anderen an und sie nicken. Klar, blaue Sehnsucht, sie verstehen ihn genau. Er erzählt von dieser Angst, die ihn nie ganz loslässt, die Angst, dass alle einfach gehen könnten, dass Kamber auf einmal weg ist, dass Sevgi auf einmal weg ist, dass er allein ist.

Kamber geht immer noch auf und ab, manchmal hebt er einfach die Arme zum Himmel und schaut hoch. Er sagt, wie eifersüchtig er manchmal auf Nizar ist, obwohl er ihn liebt. Liebt, sagt er, er liebt Nizar und Nizar spürt dieses Wort in seinem ganzen Brustkorb.

Kamber erzählt, wie er das Gefühl hat, Mutter und Vater würden sich wünschen, er wäre jemand anderes. Jemand, der weniger Scheiße baut. Jemand, der ruhiger ist. Wie er manchmal einfach nur Scheiße baut, weil er ihre Aufmerksamkeit haben möchte. Wie sie ihn aber nie sehen, egal, wie sie gucken, sie sehen ihn einfach nicht. Und wie er auch deswegen Scheiße baut, weil er es liebt. Weil es Freiheit bedeutet. Dass Freiheit keine Farbe hat, weil man sich einfach jede nehmen kann, die man möchte. Dass nur Regeln eine feste Farbe haben. Die drei auf der Bank nicken. Auch ihn verstehen sie.

Wie froh er ist, solche Freunde wie die drei zu haben. Sie sollen doch aufstehen. Er will sie umarmen. Er gibt jedem einen Kuss auf die Stirn. Ohne euch wäre ich nichts, sagt er.

Am nächsten Tag wird er sagen: Ich fand, die Pillen waren scheiße. Davon bekommt man nur so schwule Gefühle.

Der die Träume hört

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