Читать книгу Der die Träume hört - Selim Özdogan - Страница 9

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Sonntags schlief ich immer lange. Oder versuchte es zumindest. Ich ließ die Augen geschlossen und drehte mich immer wieder um. Ich stellte mir vor, ich würde eine lange Treppe hinabsteigen, die geradewegs in den Schlaf führte. Manchmal klappte es.

Ich versuchte lange zu schlafen, als würde Schlaf mich schützen oder rüsten. Ich versuchte nicht mehr, sonntagvormittags zu meditieren, es war einfach zwecklos, es war die Zeit, in der ich meinen Geist am wenigsten unter Kontrolle hatte. Es sah dann nur so aus, als würde ich ruhig sitzen, aber je ruhiger ich vielleicht schien, desto mehr füllte sich alles mit Sorgen, als sei ich ein Gefäß, in das man dunkle Gedanken hineinschüttet. Je länger ich sonntags saß, desto eher war ich davon überzeugt, dass ich einfach nicht genug Liebe in mir hatte.

Ich frühstückte nicht, weil sie sich freute, wenn ich viel aß, wenigstens das.

Monatelang hatte ich sonntags Fleisch gegessen, weil ich es nicht übers Herz brachte ihr zu sagen, dass ich eigentlich damit aufgehört hatte. Schließlich hatte ich es doch erzählt, und sie hatte geschimpft und mich gefragt, was ich glaubte damit zu erreichen. Doch es hatte nicht dazu geführt, dass sie weniger kochte oder ihr gar die Ideen ausgingen.

Ich werde aufmerksam sein, nahm ich mir vor, als ich kurz vor eins die Treppen hochstieg. Ich werde zuhören. Ich werde nicht müde werden. Ich werde nicht in Gedanken abschweifen. Ich werde nicht gegenhalten und ich werde nicht genervt sein. Regelmäßig rappte ich auf diesen Stufen zu ihrer Wohnung: There’s no way I can pay you back, but the plan is to show you that I understand: you are appreciated.

– Nizar, sagte sie und umarmte mich, gab mir einen Kuss links und einen Kuss rechts, mein Sohn, komm rein. Du bist nicht wie die anderen. Gott sei’s gedankt.

Während des Essens hörte ich zu, wie sie erzählte, dass Güls Schwester jetzt im Sommerhaus wohnen würde, dass die beiden sich endgültig zerstritten hätten. Sie erzählte, dass Hakan mit einer Zwei-Drittel-Strafe aus der Haft war, dass Amira und Latif geheiratet hatten, aber jeder wusste, dass er fremdging. Sie erzählte von Brana, die fortgezogen war, um ungestört anschaffen gehen zu können, von Samiha, die in ihrem Alter noch putzen ging, von Giwar, der seinem Sohn Klavierstunden bezahlte und sich für etwas Besseres hielt. Von Alp, der seine Tochter in die Türkei geschickt hatte, weil jemand sie beim Knutschen gesehen hatte, von Hazal, die einen Studenten vor die U-Bahn geschubst hatte, von Timur, der einen Vertrag unterschrieben hatte und jetzt mit Rap Geld verdienen wollte, von Mikolaj, der letzten Monat insgesamt 14.000 Euro mit Sportwetten verdient hatte und jetzt überall damit angab. Sie erzählte, wie Snežana mit Zoran über Hakeem geredet hatte, weil Gülşah Vince verraten hatte, dass Canan ihrer Mutter das Handy geklaut hatte. Oder so ähnlich. Ich schaffte es nicht mehr zuzuhören. Zu vielen der Namen hatte ich Gesichter, doch viele waren mittlerweile verschwommen in meiner Erinnerung. Die Namen der Jüngeren sagten mir gar nichts, und das war gut so. Ich interessierte mich einfach nicht dafür, was in Westmarkt passierte. Auch ihr zuliebe nicht. Ich interessierte mich nicht dafür, aber ich wusste dennoch fast alles. Oder hätte es wissen können, wenn ich es geschafft hätte zuzuhören.

Neun Jahre war es her, dass ich sie überredet hatte, aus Westmarkt wegzuziehen, Tha Carter III war damals erschienen: I got her out the hood and put her in the hills.

Was hatte ich geredet, von schmerzhaften Erinnerungen, die sie dort nie loslassen würden, davon, dass niemand auf Dauer besser als seine Umgebung sein konnte, dass es ihr guttun würde, dass auch in anderen Vierteln Türken wohnten, dass sie sich wohlfühlen würde, dass es hier sauberer sei, geordneter, dass wir näher beieinander wären, dass wir uns zu Fuß besuchen könnten.

Vielleicht hätte ich es besser wissen müssen. Aber damals war sie weniger verbittert gewesen. Damals hatte ich nicht geahnt, wie lang ihre Monologe werden würden, damals hatte sie mal gute und mal schlechte Laune gehabt. Jetzt schien sie nur noch eine Stimmungslage zu kennen.

Ich fragte mich, ob ich mir etwas vormachte, was meine Gründe anging. Hatte ich sie nur überredet, weil ich einfach nicht mehr jede Woche nach Westmarkt fahren wollte, um dort auf der Straße alten Bekannten über den Weg zu laufen? Hatte ich gedacht, diese Sonntage würden für mich leichter werden, wenn sie woanders wohnte? Sie waren leichter geworden, am Anfang, doch dann hatte sich irgendetwas geändert. Ich wusste nicht was genau. Vielleicht war ich nicht aufmerksam genug gewesen.

Jeden Tag, jeden Tag bis auf Sonntag fuhr sie noch nach Westmarkt, jeden Tag ging sie durch diese Straßen, jeden Tag saß sie in Nilgüns Backshop, jeden Tag klönte sie in Defnes Blumenladen, jeden Tag verbrachte sie mit Geschichten und Gerüchten von Liebe, Verrat, Knast, Drogen und Gewalt.

– Möchtest du noch ein wenig von den Sıkma?, fragte sie.

– Ja, gerne, sagte ich. Die sind lecker geworden. Deinen Händen sei’s gedankt.

– Du bist ein guter Junge, sagte sie. Womit hat deine Mutter so einen wie dich verdient?

Die Einleitungen unterschieden sich, doch ich ahnte natürlich, wohin das Gespräch schwenkte. Ich versuchte mich auf ihre Trauer einzustimmen, ihren Gram. Natürlich würden sie davon nicht verschwinden. Ich wollte nur bei ihr sein, mich verbunden fühlen. Ich wollte nicht genervt sein von ihrer Tirade. Ich wollte ihr etwas zurückgeben.

Nie hatte ich gehungert in ihrem Haus, nie hatte es mir an Kleidung gefehlt, an Berührungen, an Koseworten. Sevgi hatte mir beigebracht, aufrichtig zu sein, sie hatte mich in Schutz genommen, auch wenn ich im Unrecht war, sie hatte mir gezeigt, dass man ruhig Fehler machen durfte. Selbst die großen Fehler, die Dummheiten, die Dealerei, den Jugendarrest hatte sie verziehen. Sie hatte an mich geglaubt, daran, dass ich den rechten Weg gehen würde. Sie hatte versucht mir beizubringen, ohne Groll, ohne Wut, ohne Rachegelüste zu leben. Sie hatte daran geglaubt, dass man Worte nicht gebrauchen durfte, um andere zu verletzen, dass man nicht stehlen und betrügen durfte, dass man seinen Lebensunterhalt auf ehrliche Weise verdienen musste, sie hatte daran geglaubt, dass man achtsam sein musste mit sich und den anderen.

Sie hatte an mich geglaubt. Ohne sie … Wer weiß, wo ich heute wäre? Ganz sicher nicht in diesem Viertel, in dieser Wohnung, in diesem Job. Ganz sicher wäre mein Leben anders verlaufen. Ich steckte so tief in ihrer Schuld, nicht nur bis zum Hals, ich war mit dem ganzen Schädel drin.

Vielleicht hatte ich einfach nicht genug gelernt. Ich wusste nicht, wann ihre Bitterkeit angefangen hatte. Vielleicht hatte ich mich zu lange ferngehalten, vielleicht hätte es zumindest diese Sonntage immer geben müssen.

– Undank, sagte sie, wohin man auch sieht, es ist alles nur Undank.

Spätestens wenn der Tisch abgeräumt war, wenn sie mit ihrer Zigarette dasaß, vertieften sich die Falten zwischen ihren Augenbrauen und sie begann zu schimpfen, dass alles den Bach runterging, dass man niemandem mehr trauen konnte, dass Verwandtschaft, Freundschaft, Ehre nicht mehr zählten, dass alles nur noch ums Geld ging, jeder seinen Vorteil suchte, Kinder gegen Eltern aufstanden, Bruder gegen Bruder, Schwester gegen Schwester, der Mensch gegen Gott. Dummheit und Lüge regierten die Welt, jeder trug eine Maske, niemand zeigte sein wahres Gesicht, an jeder Umarmung hing ein Preisschild.

Ich wusste nicht mal, was ich schlimmer fand: dass sie jedes Mal diese Wutrede hielt oder dass ich ihr meist zustimmen konnte. Und gleichzeitig genervt war von diesen Klagen.

– Ich bin eine alte Frau, sagte sie, mit einem Bein stehe ich im Grab, wer kommt mich noch besuchen, wer ruft noch an und fragt mich, wie es mir geht, wer will die Zeit nutzen, die mir noch bleibt? Jeder rennt seinem Konto hinterher, vierundzwanzig sieben, wer denkt sich schon: Wir sind dieser Frau noch Dank schuldig? Wer sagt schon: Sie hat selber nicht gegessen, sondern alles verteilt, wer sagt schon: Sie hat nicht geschlafen und dafür Wiegenlieder gesungen und den Schlaf der anderen behütet, wer sagt schon: Sie ist selber nicht rausgegangen, aber hat uns alle Türen geöffnet, gegen die sie sich stemmen konnte? Wer weiß um den Wert einer alten Frau, die nicht mehr lange zu leben hat? Was habe ich getan, dass ich immer nur Rücken sehe? Was habe ich getan, dass diese Augen immer nur allen hinterherblicken?

Manchmal packte sie die Trauer, manchmal packte sie die Wut. Ich saß hilflos da. Dass ich da war um zuzuhören, machte keinen Unterschied. Und ich konnte es sogar verstehen.

Ich erinnerte mich an die Geschichte, die sie früher häufig erzählt hatte. An der Schwarzmeerküste der Türkei hatte sie als junge Frau gesehen, wie ihrer Schwester bei der Haselnussernte die Seile des Korbes auf ihrem Rücken in die Schultern schnitten. Abends hatte sie gesehen, wie wund diese Schultern waren. Es war das erste Jahr, dass ihre Schwester helfen musste. Sie versuchte jeden Tag Vorwände zu finden, um auch den Korb ihrer kleinen Schwester zu tragen. Sie hatte mir so oft von diesen wundgescheuerten Schultern erzählt, dass ich immer zuerst daran dachte, wenn es um eine Last ging, die jemand trug. Ich habe sie damals gefragt, was mit ihren eigenen Schultern gewesen war, doch sie sagte, sie sei es gewohnt gewesen. Ich wusste nicht, wann ihr Wunsch, die Last eines anderen zu tragen, in Bitterkeit umgeschlagen war. Vielleicht wusste ich es doch. Aber es half nicht. Nichts half je.

Manchmal Wut, manchmal Trauer, manchmal Tränen in den Augen, manchmal Spuckenebel vor ihrem Mund. Ich hingegen wurde manchmal ungeduldig, manchmal war ich genervt, manchmal wütend, ohne dass ich hätte sagen können warum. Manchmal wurde auch ich traurig.

Aber egal was war, lange Zeit hatte ich versucht, ihr trotzdem nahe zu bleiben. Irgendwann hatte ich damit aufgehört. Ich versuchte nicht mehr, sie in den Arm zu nehmen, ich machte nicht den Mund auf, um ihr zu sagen, dass sie mich hatte, dass ich ihr nie den Rücken kehren würde, dass mein Dank nicht enden würde, so lange ich lebte. Das hatte ich alles schon getan, doch es schien alles noch schlimmer zu machen. Der Fehler der anderen schien größer, weil ich ihn nicht hatte, sie fühlte sich stärker im Recht, weil sie mich als Kontrast hatte.

Ich saß da und wollte weg. So wie ich aus dem Kiosk weggewollt hatte, weil ich das Gelaber der Kunden einfach nicht mehr ertrug. Und ich fühlte mich schlecht, weil ich keinen Unterschied machen konnte zwischen ihr und diesen Kunden.

Ich erinnerte mich daran, wie ich früher sonntags manchmal verkatert gewesen war, wie ich geglaubt hatte, den Tag nicht überstehen zu können, wie ich mir vorgenommen hatte, keinen Alkohol mehr zu trinken, zumindest nicht am Samstag. Wie dieser Schädel zu explodieren schien, wenn ich mich bückte, um die Schuhe zuzubinden und wie der Schmerz kaum nachließ, wenn ich mich wieder aufrichtete.

Der Kater war die Strafe für das Feiern gewesen. Ich wusste nicht, ob diese Besuche auch eine Strafe waren. Was hatte ich getan? Außer die Liebe zu nehmen, die sie mir freiwillig gegeben hatte?

1987, Rhyme Pays, Ice-T

Sie sitzen beide hinten auf einer Bank auf dem Spielplatz im Park, halb verborgen von einem Strauch. Eine Gruppe von acht Deutschen steht im Sandkasten und raucht, vierzehn, fünfzehn mögen sie sein.

– Da hinten kommen Türken, lass uns verschwinden.

Der Größte und offensichtlich Kräftigste unter ihnen, der, den sie Fuß nennen, sagt:

– Irgendwen von denen werde ich schon kennen. Lass uns bleiben.

– Lass uns abhauen. Die wollen doch nur Ärger.

– Wir bleiben, entscheidet Fuß.

Die Jungen auf der Bank hinter dem Strauch können sehen, dass die anderen Angst haben, aber Fuß hat das Sagen.

Murat, Berkay und Abbas sind vorne in der Gruppe der Türken. Sie stellen sich nebeneinander direkt vor die Deutschen, ohne ein Wort zu sagen. Die beiden auf der Bank können sehen, dass einige von den Deutschen jetzt noch mehr Schiss haben, obwohl die drei vor ihnen gerade mal zwölf sind. Zwei Jahre älter als sie selber.

Was guckst du so?, könnte einer von den Dreien sagen und es würde Ärger geben. Oder auch: Warum guckst du mich nicht an, wenn ich vor dir stehe?

Erol, Kazim und Fatih kommen hinzu, die sind schon dreizehn, vierzehn, und alle stehen jetzt in einem Halbkreis vor den Deutschen.

Jetzt können die Jungen auf der Bank die Angst fast riechen. Sie fragen sich, ob es zu einer Prügelei kommen wird oder ob die Deutschen rennen werden. Sie wissen, Berkay und Abbas sind heiß darauf, sich zu beweisen.

Tarkan, Erci und Kerim kommen als Letzte. Noch bevor die anderen Deutschen es bemerken, sieht der kleinere der beiden Jungen das Lächeln auf Fuß’ Gesicht.

– Tarzan, sagt Fuß, hebt die Hand und geht auf ihn zu.

– Fuß, sagt Tarkan, was machst du mit diesen Losern hier?

Die Hände schlagen auf Schulterhöhe ein.

– Die wollten schon gehen, sagt Fuß, aber ich habe ihnen gesagt, lass bleiben, da ist bestimmt jemand, den ich kenne. Und da bist du.

– Ja, da bin ich. Da habt ihr echt Glück gehabt, sonst hättet ihr alle aufs Maul bekommen. Ist ne Lebensversicherung, mich zu kennen. Wenn einer dir Ärger macht, brauchste nur zu sagen: Ich bin ein Freund von Tarzan. Mein Name ist ne Lebensversicherung. Tarzan, King von Westmarkt.

Die Kleinen sind enttäuscht. Etwas später, als die Deutschen weg sind, sieht Tarkan die beiden auf der Bank.

– Verschwindet, sagt er.

Sie stehen auf. Als sie außer Hörweite sind, sagt der Größere zum Kleineren:

– Wenn ich Tarkan gewesen wäre, hätte ich Fuß einfach trotzdem geschlagen.

Der die Träume hört

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