Читать книгу Der die Träume hört - Selim Özdogan - Страница 7

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Abstand zu Menschen. Ich dachte, es würde helfen. Es hat geholfen, jahrelang hat es geholfen.

Und jetzt … Ich dachte, sie lügt. Was sollte das auch für eine Geschichte sein? Du hättest sie auch nicht geglaubt.

Ich erinnerte mich an die Nacht. Ich war bereits weggezogen aus Westmarkt, da war auch kein Blut an meinen Händen, aber niemand kam da sauber raus.

Ich saß in der Straßenbahn und Kamber stieg ein. Ich freute mich so, als ich ihn erkannte. Wir hatten uns lange nicht mehr gesehen. Es war so unwahrscheinlich, ihm so über den Weg zu laufen, es sah ihm nicht ähnlich, dass er Straßenbahn fuhr. Wir umarmten uns lange und als wir uns lösten, glänzten meine Augen wahrscheinlich, seine aber auch. Er war unterwegs zu Kerim und wir haben noch Paster abgeholt und sind dann zu viert losgezogen, ins Chronic, wo Dre lief, Gang Starr, Snoop, Geto Boys, R. Kelly, Wu-Tang, das Slim-Shady-Album war vor ein paar Monaten erschienen.

Ich war raus, ich war getrennt von Rahel, aber ich war raus. Und ich freute mich so, wieder drin zu sein und dabei. Hier war ich nicht der, der immer das beste Gras am Start hatte, hier war ich nicht der, der nicht studierte, hier war ich nicht der, der nur Hip-Hop hörte und sich mit den anderen Sachen nicht auskannte. Hier war ich einfach Nizar, zusammen mit Jungs, die meinen Rücken hatten, wenn es Schwierigkeiten gab. Und es gab früher oder später immer Schwierigkeiten, wenn man mit diesen Jungs zusammen war.

Ein paar Drinks, ein paar Joints, ein paar kleine Nasen und diese Musik, es ging mir gut. Irgendwann nach Mitternacht standen Kamber und ich vor den Toiletten, als sein Motorola klingelte, er ging ran, sagte einige Male Ja und dann: Bin gleich da.

– Geschäfte, sagte er zu mir. Ich muss los, wir sehen uns.

Wir umarmten uns, und erst nachdem er gegangen war, bändelte ich mit Ayleen an, Ayleen mit ihrer piepsigen Stimme und dem großen Hintern, den sie zur Musik bewegte. Am Ende der Nacht haben wir uns auf meinem Bett ausgezogen.

Ich kann mich an keine Abschiedsszene erinnern oder daran, dass wir Telefonnummern ausgetauscht hätten. Siebzehn Jahre lang habe ich nicht mit ihr geredet, nur hin und wieder etwas über sie gehört. Ich war weg. Weit, weit weg in derselben Stadt.

Und dann rief sie mich an und erzählte, dass wir einen gemeinsamen Sohn haben. Dass er bis vor kurzem geglaubt habe, ihr Mann sei sein Vater. Dass er die Schule schwänze, dass er nichts mehr erzähle, dass sie nicht wisse, mit wem er sich rumtrieb, dass er ständig Streit suche, vor allem mit seinem Stiefvater, dass sie Angst habe, dass einer von beiden gewalttätig werden würde, dass sie weder ein noch aus wisse und ihm deshalb die Wahrheit erzählt habe. Der Junge wisse nicht, wer er sei. Jemand müsse ihm helfen.

Natürlich habe ich das nicht geglaubt. Das hättest du auch nicht. Ich habe geglaubt, sie denkt, ich sei reich geworden. Ich habe gedacht, sie sieht irgendeinen Vorteil für sich. Ich weiß, wo sie herkommt, natürlich habe ich ihr nicht geglaubt.

Ich habe gedacht, ich hätte das irgendwie fühlen müssen, wenn ich einen Sohn habe. Ich war mir sicher, dass er nicht von mir ist. Erst das Testergebnis konnte mich überzeugen.

Abstand zu Menschen. Aber näher dran, als einen Sohn zu haben, kann man kaum sein. Einen Sohn. Da stand er mir gegenüber. Schwarze Jeans, eng an den Waden, Nike-T-Shirt, die Jordan 33 an den Füßen, Irie-daily-Kappe. Er konnte seine Unsicherheit überspielen, besser als ich.

– Sprich mit ihm, hatte Ayleen gesagt, es ist egal, was du sagst, wozu du ihm rätst. Ich will nur, dass er sich nicht mit Sami prügelt, dass es keine Gewalt gibt. Ich fand immer noch, dass er mir nicht ähnlich sah. Kein bisschen. Aber die Testergebnisse waren nicht gefälscht, so was hätte sie nicht hinbekommen. Er schien auch nicht so sehr nach Ayleen zu kommen, hatte nicht ihr rundes Gesicht, sondern ein hageres mit einem kantigen Kinn. Er sah gut aus, ich war mir sicher, dass jede Menge Mädchen und junge Frauen auf sein Aussehen reagierten.

Als wir uns die Hand gaben, machte er eine lockere, ausholende Bewegung aus der Schulter heraus, als seien wir Freunde, die sich schon lange kennen.

– Lesane, sagte er.

– Nizar, sagte ich.

– Warum treffen wir uns hier?

– Ich wollte dort rein.

Ich machte eine Kopfbewegung.

– Da? Wieso?

– Keine Ahnung. Neutraler Boden, dachte ich.

– Ein Café für Blondie-Omas? Die sind ja alle fast tot.

– Eben. Wir beide aber nicht. Lass uns reingehen.

Er ist unpünktlich, hatte Ayleen gesagt, aber ich hatte nur zehn Minuten auf ihn gewartet. Und ich hatte nicht geraucht, obwohl ich das erste Mal seit Jahren wieder daran gedacht hatte.

Als ich mich setzte, legte ich die Hände vor mir auf den Tisch. Verdammt, wie lange war das her, dass ich so nervös gewesen war? Wie schon oft in den letzten Tagen überlegte ich, wie ich in seinem Alter gewesen war. Wer war ich gewesen, als Regulate… G Funk Era erschien? Illmatic, Tical, Direkt aus Rödelheim, Murder Was the Case, Southernplayalisticadillacmuzik. Ich erinnerte mich an die Alben, ich erinnerte mich an die Freude, an die Stunden auf dem Platz, an die Möglichkeiten, die ich vor mir sah. Ich erinnerte mich, wie groß die Welt war und wie groß meine Träume. Aber ich erinnerte mich auch, wie ich mich in traurigen Zeilen wiedergefunden hatte, You don’t see what I see, every day as Warren G, you don’t hear what I hear but it’s so hard to live through these years. Wie viel Schmerz in der Freude und in den Möglichkeiten gewesen war. Ich erinnerte mich, wie ich mit Kamber Scheine gemacht hatte, um mir die neuen Jordans kaufen zu können, einen Spalding, eine PlayStation und was sonst nicht noch alles wichtig gewesen war.

– Komische Nummer von deiner Mutter, das so lange zu verschweigen, sagte ich.

– Und die versucht mir beizubringen, nicht zu lügen, sagte er. Die Bedienung kam, ich bestellte einen Kaffee und Lesane eine Cola, nachdem er zunächst nach einem Energydrink gefragt hatte.

Ich wusste nicht, was ich als Nächstes sagen sollte. Vielleicht weiß man das nie. So lange hatte ich es geschafft, nicht verwickelt zu werden, und jetzt war ich mittendrin.

– Was machst du eigentlich so? Ayleen hat gesagt, ich soll selber fragen.

– Ich bin Detektiv.

– Detektiv?

Ich sah, wie ich in seiner Achtung sank.

– Ja.

– So Ladendetektiv?

Ich schüttelte den Kopf. Seine Hände sahen meinen ähnlich, doch. Und an den Knöcheln keine Zeichen von Prügeleien. Seine Körperhaltung und seine Bewegungen verrieten, dass er sich viel bewegte.

– Privatdetektiv.

Er sah mich ungläubig an.

– So hollywoodmäßig, oder was?

– Leute kommen zu mir, wenn die Bullen ihnen nicht weiterhelfen können.

– Du bist also so me…

Er schluckte das Wort runter, was immer es gewesen war, das er hatte sagen wollen. Ich sah ihn an. Siebzehn. Ich atmete ein. Ich atmete aus. Es musste einen Weg zu ihm geben. Einen direkten, kurzen, ehrlichen. Ich sah seine Ablehnung.

– Schau, Lesane, ich bin etwas nervös. Das passiert nicht alle Tage, dass man seinen fast erwachsenen Sohn kennenlernt. Und wenn ich du wäre, würde ich es auch scheiße finden, dass mein Vater so etwas Ähnliches ist wie ein Mietbulle. Auf jeden Fall.

Keine Regung.

– Ich bin noch nicht so lange in diesem Job. Ich habe viele verschiedene Sachen gemacht. Eine Zeit lang war ich Personal Trainer, für so reiche Leute, die es nicht schaffen, sich selbst zum Training zu motivieren. Die kein Buch in die Hand nehmen, nicht selber lesen wollen, die gelobt und gehätschelt werden wollen und die dich dafür bezahlen, dir auf den Sack zu gehen. Ich habe gut Geld damit verdient. Achtzig Euro die Stunde.

Ich erkannte die Andeutung eines geringschätzigen Lächelns.

– Irgendwann habe ich diese Leute nicht mehr ertragen, redete ich weiter. Eine Zeit lang habe ich dann einen Kiosk betrieben. Da haben die Kunden nicht das Gefühl, sie könnten dich kaufen für ihr Geld. Ich dachte, mit der Verkaufstheke als Abstandhalter würde es für mich leichter werden, freundlich zu sein zu den Leuten. Aber das stimmte leider nicht. Nach fünf Jahren auf vierzehn Quadratmetern habe ich als Detektiv angefangen. Detektiv ist kein geschützter Beruf, das kann jeder werden, du bist einfach nur ein Gewerbetreibender. Und ich bin Internetdetektiv, das heißt, ich brauche mich nicht direkt mit den Menschen auseinanderzusetzen.

– Internetdetektiv?, fragte er.

– Menschen wollen wissen, ob ihre neue Facebookbekanntschaft vielleicht ein Scammer ist.

Er sah mich fragend an.

– Romance Scammer zum Beispiel. Schreiben jemanden an. Geben sich als junge Frau aus. Schicken Fotos. Machen den Klienten verliebt in sich, wollen zu einem Treffen kommen und bitten dann um Geld für den Flug. Oder erzählen von einer Not-situation. Jemand in der Familie ist gestorben oder so.

– Richtig Steine kann man damit nicht verdienen, oder?

– Wer? Ich oder die Scammer?

– Die Scammer.

– Wenig Aufwand. Ein wenig chatten, flirten, Verständnis vorspielen und schauen, ob nicht einer von den Fischen, die man da fängt, doch eine fette Kuh ist, die man melken kann.

– Das ist alles, was du machst?

– Cybermobbing, Eltern, die ihr Kind schützen möchten, Scam-Mails, Überprüfung von Webseiten, Leute, die in Shops bestellt haben, die nicht liefern, Fake-Wohnungsangebote, Fake-Jobangebote, Betrug eben, manchmal Urheberrechtssachen oder Erpressungen, wenn der Rechner infiziert ist. Es gibt viele Leute, die sich im Stich gelassen fühlen und jemanden brauchen, dem sie vertrauen können, wenn es ums Internet geht.

– Du arbeitest für Opfer.

– Ja, sagte ich. Aber du arbeitest immer für Opfer. Egal wie du es drehst und wendest.

Er hatte offensichtlich eine andere Meinung, hielt aber seinen Mund.

Savaş starb, als Phantom of the Rapra erschien, da war ich ein Jahr älter als Lesane jetzt. Hirntumor. Er mochte mich, er mochte mich gerne, auch wenn wir nie viel miteinander gesprochen haben. In der Anfangszeit des Tumors war er häufiger redselig, aber auch sprunghaft, erst in den letzten Wochen wurde er so aggressiv. Einmal saßen wir zusammen im Wohnzimmer. Kamber war nicht da.

– Mein Sohn, hatte er gesagt, die Deutschen sind stolz auf ihre Arbeit, die gehen unter Tage und sind stolz darauf. Die schippen Kohle und sind stolz drauf. Ich war nie stolz auf meine Arbeit. Ich war stolz, dass ich meinen Eltern Geld schicken konnte, weil sie zu alt zum Arbeiten sind, ich war stolz, dass ich meinem Bruder helfen konnte, nachdem er den Arm verloren hatte, aber ich war nie stolz auf die Arbeit hier. Ich habe nur geschwitzt und geschuftet, zu jeder Zeit, die sie mich an diesem Hochofen haben wollten, war ich da. Mein ganzes Leben habe ich da ausgeschwitzt. Ein Vater möchte seinen Söhnen etwas beibringen. Manchmal stelle ich mir vor, ich wäre Arzt geworden oder Anwalt oder auch nur Übersetzer. Manchmal stelle ich mir vor, ich wäre etwas geworden, von dem ich meinen Söhnen sagen kann: Das ist gut. Ihr könnt so werden wie ich. Aber ich habe nur versucht euch beizubringen, wie man nicht so wird wie ich. Und wie soll man seinen Söhnen so etwas beibringen? Aber wir sind immer aufrecht gestanden. Ganz vorne. Wir haben uns nie versteckt und wir haben immer versucht, euch zu beschützen. Aber ich weiß nicht, ob das etwas zählt. Wo sind sie, die Helden, die starken Männer, die, die sich für groß gehalten haben? Sie sind tot, wie alle anderen. Es ist eine vergängliche Welt, am Ende des Weges hörst du auf zu atmen. Wenn ich tot bin, ist die Reihe an dir.

Ich habe nicht verstanden, was er sagen wollte.

– Die Reihe?

– Nach mir bist du dann dran mit Sterben. Du musst nach vorne.

Ich war gerührt, habe aber versucht, mir nichts anmerken zu lassen.

– Und Kamber?

– Aus dem wird nichts Gescheites mehr.

– Aber …

Er hat die Hand auf meine Schulter gelegt und den Kopf geschüttelt. Ich sollte still sein.

– Kamber, fing ich trotzdem noch mal an.

– Ich will den Namen nicht mehr hören.

In die Rührung mischte sich der Schmerz, meine Augen wurden feucht und ich sah weg. Ich wusste nicht, ob ich jetzt einfach aufstehen konnte oder nicht, und so saßen wir schweigend nebeneinander.

– Die Reihe ist an dir, sagte er nach einer Weile, bald stehst du an vorderster Front. Und du wirst gefickt werden, auf die eine oder andere Art wirst du gefickt werden. Es gibt kein Entkommen.

Er sah mich an, ich wusste nicht genau, was er mir sagen wollte, aber ich verstand, dass er auf irgendeine Art an mich glaubte.

– Jeder Mensch weint, murmelte er. Und jeder Mensch stirbt. Drei Monate später war er tot. Er wurde in der Türkei beerdigt und ich bin nicht hingeflogen. Kamber auch nicht.

Ich dachte an dieses Gespräch und wie nah wir uns gewesen waren. Es musste eine Möglichkeit geben, Lesane und mich zu verbinden.

– Was ist das mit Sami und dir?, fragte ich ihn.

– Was soll da sein?

– Ayleen sagt, ihr prügelt euch fast.

– Ja.

– Warum?

– Weil er einfach nicht peilt, dass er kurz davor ist, eine Schelle zu kassieren. Der hat mir gar nichts zu sagen. Ich bin kein Kind mehr.

– Ayleen muss verdammt verzweifelt sein, wenn sie glaubt, es könnte etwas nützen, dass wir uns treffen. Wir kennen uns nicht. Sie möchte dir irgendwie helfen. Und sie vertraut dir. Sie vertraut dir, dass du nicht zu Sami gehst und ihm die Wahrheit sagst. Egal, was sonst auch immer passiert. Das heißt, sie glaubt, du bist ein Ehrenmann, der nie seine Mutter verraten würde. Vielleicht möchte sie, dass du ein wenig Abstand gewinnst.

Abstand halten. Wie lange hatte ich das versucht?

– Was soll das bringen, wenn er es nicht auch versucht?

Ich sah ihn an und blieb ihm eine Antwort schuldig. Ich suchte nach dem Satz, dem Satz, in dem er sich selbst sehen konnte.

– Bist du sauer auf Ayleen?

– Warum?

– Weil sie dir erst jetzt die Wahrheit gesagt hat?

Das sind alles Lügen, jeder lügt dich an, sagte er.

Er hatte es nicht gerappt, aber ich erkannte den Tonfall.

– Azad, sagte ich.

Da war immerhin ein Moment der Überraschung in seinen Augen.

Hip-Hop. Er musste acht gewesen sein, als das Album erschien. Mit Hip-Hop hat es angefangen, in der Nacht, in der wir diesen Jungen gezeugt haben. Diese Nacht. Ayleen hat mir erzählt, wie sich ihre Eltern getrennt haben, als sie sechs war. Wie sie ihren Vater vermisst hat. Wie ihre Mutter einen neuen Mann gefunden hat, der zu ihnen zog, und wie sie dann immer wieder zu Ayleen gesagt hat: Wenn das mit dem Thorsten auch nicht klappt, ist das deine Schuld. Wie sie Thorsten gehasst hat und wie schuldig sie sich deswegen gefühlt hat.

Die Nacht, in der Lesane empfangen wurde, Hip-Hop, Gras, Pep, Wodka, Bedauern, Sehnsucht, Geständnis, falsche Nostalgie, Geilheit.

– Was hörst du sonst so?, fragte ich.

– Haftbefehl, Xatar, SSIO, PA Sports, KMG, die frühen Sachen von Sido, Nazar, Nimo, Vega.

Ich nickte.

– Rappst du?

Er schüttelte den Kopf.

– Du tickst, sagte ich.

Er verzog keine Miene. Ich hätte nicht sagen können, ob irgendetwas in ihm arbeitete. Ich wusste nur, dass ich richtig lag. Ich wusste aber nicht, ob das der Grund für seine Probleme mit Sami war. Wenn ich nur eine Ahnung gehabt hätte, was für ein Mensch mein Sohn war. Welche meiner Eigenschaften er hatte und welche nicht. Ob er verloren war und wenn ja, auf welche Weise. Und was das für mich bedeutete.

Der die Träume hört

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