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Vorwort Berge um uns, Berge in uns oder: Der erbärmliche Anblick der Alpen

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Vielleicht ist Sesshaftigkeit ein Irrtum. Vielleicht liegt tief in unserem Erbgut verankert ein Gen-Baustein, der uns unstet macht, rastlos, zu Wanderern. Einer, der uns immer dann, wenn wir stillzustehen drohen, als Unruhe ins Herz sticht, als unbestimmte Sehnsucht nach dem Anderswo.

Ich komme aus den Bergen. Wie viele, die aus den Bergen kommen, bin ich ein Heimweh-Mensch. „Ihr Südtiroler, ihr habt ein ganz besonderes Heimweh“, hat einmal ein Wiener Mitstudent zu mir gesagt. Vielleicht ist es aber gar nicht Südtirol, wonach wir Heimweh haben. Vielleicht sind es einfach die Berge. Denn Heimweh, das können auch die Menschen in Graubünden, wo ich seit vielen Jahren lebe, sehr gut. „Heimweh-Bündner“, das ist ein Wort, das in der ganzen Schweiz verstanden wird. Wir Heimweh-Bergler gelten als besonders sesshaft, tief verwurzelt, bodenständig – im günstigen Fall. Die Kehrseite ist eine gewisse Unflexibilität, Starrköpfigkeit, Rückwärtsgewandtheit, die uns nachgesagt wird. Wir stehen mit beiden Beinen fest im heimischen Misthaufen, wortwörtlich und im übertragenen Sinn, so stellen sich das viele vor.

Dabei wird eines übersehen: Wer in den Bergen lebt, muss sich bewegen. Von einem Dorf zum nächsten, von einem Tal ins nächste, hin zu den Städten, wo die Bildungseinrichtungen, die Arbeitsplätze, die Krankenhäuser sind. Das romantische Bild vom knorrigen Hutzelmännchen, das auf dem Balkon seines Bergbauernhöfchens sitzt und Pfeife schmauchend ins Alpenglühn schaut, ist nicht von vorgestern, sondern von vorvorgestern und hat wahrscheinlich sogar damals nicht immer gestimmt. Als Kind aus Plaus, in den Achtzigerjahren ein 300-Seelen-Dörfchen, musste ich mich früh ans Wandern gewöhnen. Der Bus brachte uns Kinder zuerst nach Naturns, dann nach Meran in die Schule. Die Universität besuchte ich in Wien. Das Wieder-Heimkommen dauerte länger und länger. Das Ankommen gelang irgendwann nicht mehr. Empfand ich mich als Migrantin? Nein, denn jeden Aufenthalt, sogar den über mehrere Jahre, verbuchte ich als „vorläufiges Nicht-zu-Hause-Sein“. Fünf Jahre Wien. Zwei Jahre Chur. Neun Jahre Zernez. Allesamt gefühlte Zwischenstationen, obwohl ich mittlerweile nicht mehr weiß, zwischen was.

Das Heimweh bleibt. Wonach? Ist es überhaupt noch ein „Heim“weh? Oder ist es schleichend in dieses unbestimmte Fernweh übergegangen, das uns zu Reisenden macht, zu Suchenden? Denn wer reist, begibt sich auf die Suche. Nach dem Unbekannten, sagen die einen. Nach dem Versprochenen, sagen die anderen. Nach dem Anderen, auf jeden Fall. Doch das Andere, das wir in der Fremde suchen, braucht, um uns zu beglücken, auch ein Quantum Vertrautes. Unser jeweiliger Aufenthaltsort ist ein Spiegel, in dem wir uns selbst sehen wollen – eingebettet in einen anderen Rahmen. Wer bin ich, wenn ich in der Welt bin?

Sehr treffend heißt ein Buch des italienischen Journalisten Marco D’Eramo daher „Die Welt im Selfie“: Die Schauplätze wechseln, werden zu austauschbaren Hintergründen. Das Ich ist der Angelpunkt, um den sich die Welt dreht. Was nach einer narzisstischen Behauptung klingt, ist in Wahrheit eine bittere Erkenntnis: Viele brechen auf, um sich selbst zu entfliehen. Doch die Flucht aus der Welt endet immer in der Welt – und das Ausbrechen aus dem Ich wirft das Ich auf sich selbst zurück.

In diesen scheinbaren Widersprüchen bewegen wir uns, wenn wir auf Reisen gehen. Vielleicht ist deshalb das Ankommen schwierig, und vielleicht ist das die Quelle des Wehs, ob nach dem Heim oder nach der Ferne. Wer bin ich also, wenn ich in der Welt bin? Die Konstante. Die Unentrinnbarkeit des eigenen Ichs ist gleichzeitig kränkend und tröstlich. Geborgenheit finden wir letztlich nur in dem, was Bestand hat.

Für uns Menschen der Alpen ist der Inbegriff des Beständigen: der Berg. Unverrückbar und unübersehbar behauptet er sich im Landschaftsbild, gibt Orientierung, Ausrichtung, Halt. Man kann ihn ersteigen oder unterwandern, ihn stürmen oder ihm den Rücken kehren. Bezwingen kann man ihn nie. Möglich, dass wir ihn damit zu unserem Alter Ego mystifizieren, zum Unentrinnbaren, Schicksalshaften. Möglich, dass wir deswegen nicht von ihm loskommen, wir Bergler nicht, aber auch alle anderen nicht, die die Sehnsucht in die Berge führt.

Wer über den Tourismus in den Alpen schreibt, muss daher bei ihnen beginnen, bei den Bergen. Denn die Alpen, das hat schon Loriot festgestellt, bieten einen ganz erbärmlichen Anblick, wenn man sich die Berge wegdenkt.

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