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Mein erstes Konzert

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oder die außergewöhnliche Schule eines Cantautors

Sergio Vesely

Ein ehemaliger Mitgefangener, den ich zufällig bei einem Besuch in Chile traf, wollte wissen, ob ich mich an mein erstes Konzert erinnern könnte. Natürlich konnte ich das: Es war in Deutschland, im Jahr 1976, kurz nachdem ich aus der Heimat verbannt worden war. Der genaue Ort existiert immer noch. Es war in der Thomas-Münzer-Scheuer in Stuttgart Hohenheim. Veranstalter war das Chile-Komitee, ein Zusammenschluss von überwiegend linksgerichteten Studenten, die sich mit dem Schicksal des chilenischen Volkes solidarisierten, wie es damals hieß. Dort sang ich zum ersten Mal vor einem deutschen Publikum mein Repertoire aus 27 Liedern, die ich während meiner politischen Haft geschrieben und komponiert hatte. Aber mein Freund war mit dieser Antwort nicht einverstanden. „Nein“, sagte er, „dein erstes Konzert fand im berühmten Folterzentrum ‚Villa Grimaldi‘ in Santiago statt, als du noch keine eigenen Lieder gesungen hast.“ Und er hatte recht, obwohl ich es nicht gerade Konzert nennen würde, was ich damals von mir gegeben hatte. Eigentlich hat so etwas keinen Namen. Ich erinnere mich noch gut daran.

Es war ein extrem heißer Tag im Januar 1975. Meine Zelle war winzig, so winzig wie ein senkrecht stehender Sarg und ich hatte das Gefühl in jedem Augenblick zu ersticken. Außerdem trug ich eine Augenbinde und war angekettet an Händen und Füßen. Trotzdem, ohne mir etwas dabei zu denken, fing ich plötzlich an ein Lied zu singen, das ich kurz vor meiner Verhaftung gelernt hatte und das mir außerordentlich gut gefiel. Es hieß Alfonsina y el Mar und es befand sich auf einer Langspielplatte der argentinischen Sängerin Mercedes Sosa, die ich in einem meiner Verstecke gefunden hatte, einer sogenannten konspirativen Wohnung. Damals liebte ich den Text dieses Liedes. Obwohl ich seinen Sinn nicht ganz verstanden hatte. Unbewusst sang ich also in der Folterkammer ein schönes Lied, gewidmet an eine Dichterin, die sich umbrachte.

Ich versuchte so leise wie möglich zu singen, um nicht von den Wächtern wahrgenommen zu werden, aber das metallische Tor da draußen öffnete sich laut und man hörte die schreiende Stimme des Folterknechts: „Wer singt da. Sofort melden!“. Ich unterbrach den Gesang und überlegte, ob ich mich melden sollte. Vielleicht würde ich dann wieder misshandelt werden. Aber es hatte keinen Sinn, mich wegzuducken. Also klopfte ich von innen an die Holztür und meldete mich: „Hier, Chef“, so wollten jene Menschenratten von uns genannt werden. Die Tür ging auf. Ich konnte das Gesicht zu der Stimme nicht sehen. Die Augenbinde machte mich blind. Ich war vollkommen ausgeliefert.

Zu meiner Überraschung, sagte er: „Schönes Lied hast Du da gesungen. Sing’ es nochmal.“ Und was jetzt kam war das Konzert, das mein Freund in Erinnerung behalten hatte. Er war ein Teil des Publikums. Der Konzertsaal bestand aus winzigen Zellen, vollgestopft mit gefolterten Gefangenen, die so wie ich auch eine Augenbinde trugen. Auf einmal wurde es ganz still in den senkrecht stehenden Särgen. Der einzige der mich sehen konnte war der Inquisitor. Ich stand angekettet und mit nutzlosen Augen vor ihm und sang. Zuerst etwas zögerlich, weil ich ihm nicht traute und dachte, er würde mich mitten im Lied schlagen. Aber als ich den ersten Refrain erreichte, war mein Gesang schon fester geworden. Irgendwie spürte ich eine gewisse Sicherheit. Ich kann es nicht anders beschreiben. Es war eine Vorahnung.

Durch das Singen, nicht nur in der Villa Grimaldi sondern später auch in anderen Lagern und Gefängnissen der Pinochet-Diktatur, überstand ich ziemlich heil die fast zweijährige Haftzeit. Das ist zumindest mein Fazit. Es hatte den Vorteil, dass ich ein Ventil für die Alltagsalbträume hatte, das wie Medizin wirkte gegen den Hass und seine Folgen. Außerdem legte es so etwas wie einen Schutzmantel um mich. Es machte mich gewissermaßen unangreifbar. Sowohl für die Wächter, wie auch für die unangenehmen unter den Wegbegleitern.

Aber zurück zum ersten Konzert: Ich sang alle Strophen meines Lieblingsliedes. Keinen Vers, keinen Refrain habe ich ausgelassen. Als ich endlich fertig wurde, nach den drei spannendsten Minuten meines Lebens, hörte ich meinen einzigen Zuschauer Fragen stellen nach dem Urheber und dem Namen des Stückes. So wie ein Musikliebhaber einen anderen nach dem neuesten Hit auf einem MP3-Player fragt. Der Bewacher merkte sich meine Worte genau, dann schloss er mich in meinem Sarg wieder ein und verschwand.

Nach diesem Konzert vergingen ein paar Tage bis der Folterknecht sich wieder meldete. Er öffnete euphorisch die Tür meines Sarges, zwang mich zum Aufstehen und erzählte mir, dass er jetzt Alfonsina y el Mar jeden Tag hören könne. Weil er bei der letzten Hausdurchsuchung eines Widerstandskämpfers alle Schallplatten hatte mitgehen lassen. — „Und stell’ dir mal vor“, sagte er zu mir in einem fast freundlichen Ton, „da fand ich die Schallplatte von deiner Mercedes Sosa“.

Einige Monate später schrieb ich mit winzigen Buchstaben auf ein feines Papier, das ich von einem „alten Hasen“ geschenkt bekommen hatte, den Text meines ersten Liedes. Es war der Beginn meiner Existenz als Cantautor, also Liedermacher, was trotz dieser etwas allzu technischen deutschen Bezeichnung sehr viel mit Muse, Poesie, Rhythmus, Melodie und Inspiration zu tun hat. Das Lied trägt den Namen Rey Negro (Der schwarze König). Geschrieben habe ich es für ein Mädchen, das im Juli 1975 im Gefangenenlager von Puchuncaví das Licht der Welt erblickte.

Mit Möwenzungen in der Mehrzweckhalle

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