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Andere Baustelle

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Urs M. Fiechtner

Es soll Leute geben, die ihr Leben perfekt geplant haben. Oder deren Leben von anderen perfekt geplant wurde. Ich habe oft davon gehört und vielleicht gibt es sie auch irgendwo, aber ich bin solchen Leuten bisher noch nie begegnet, obwohl ich schon eine Weile auf diesem Planeten bin. Das Leben scheint seine eigenen Pläne zu haben und uns irgendwohin zu schieben, ohne dass wir uns in die Brust werfen und mit fester Stimme behaupten könnten, wir hätten es von Anfang an so gewollt. Oder doch wenigstens unsere Eltern.

Für die Eltern von Sergio Vesely trifft das jedenfalls nicht zu. Sie hatten für das Leben ihres Sohnes etwas ganz anderes geplant und sich so etwas wie einen Nationalökonomen oder Banker vorgestellt, ersatzweise vielleicht einen hohen Sportfunktionär in Gestalt eines emeritierten Schwimmweltmeisters. Oder irgendetwas von dieser Art. Aber bestimmt kein Universaltalent in allen Angelegenheiten der Künste — inklusive der Lebenskunst.

Meine Eltern hatten ebenfalls andere Pläne. Ich war bei meiner Geburt als General vorgesehen, nachdem in einer lange Reihe von Vorfahren, die allesamt im Staatsdienste gestanden und als Berufs- oder Reserveoffiziere in allen Kriegen gefochten hatten, es niemand weiter gebracht hatte als bis zum Rang eines Obersten. Meine Mutter behauptete zwar, ich hätte mich im Alter von sieben Jahren darauf festgelegt, später einmal entweder Schriftsteller oder Indianer werden zu wollen, aber das ist nur eine Familienlegende und nicht ernst zu nehmen, da die Lehrstellen für Indianer schon damals ausgebucht waren.

Sergio Vesely hatte seinen ersten öffentlichen Auftritt weder in der Literatur noch in der Musik oder Politik, sondern bei den chilenischen Nationalmeisterschaften im Schwimmen. Das erwies sich als sehr gute, wenngleich völlig unbeabsichtigte Vorbereitung auf ein Leben als Musiker und Dichter, als Komponist und bildender Künstler. Man muss verdammt gut schwimmen können, um so ein Leben zu überstehen, und er zeigte sich schon bei seinem ersten Konzert als Meister in dieser Disziplin.

Es fand statt im berüchtigsten Folterzentrum Chiles, der Villa Grimaldi in Santiago, in das er als Widerstandskämpfer gegen die Militärdiktatur des Generals Pinochet geraten war. Seine Bühne war eine Zelle von der Größe eines Kleiderschrankes und sein Impresario war der Gefängniswärter.

Meinen ersten öffentlichen Auftritt hatte ich als siebenjähriger Knirps in der Uniform der Leute, die knapp zehn Jahre später Sergio Vesely verhaften würden. Ich war Offiziersanwärter h. c. der chilenischen Armee und nahm vor der Präsidententribüne in vollem Wichs die Parade zum Nationalfeiertag ab. Über Nacht wurde ich als El pequeño Cadete (Der kleine Kadett) zum Maskottchen der Streitkräfte und Liebling der Nation. Und wenn alles nach Plan gegangen wäre, dann wäre ich es gewesen, der als junger Oberleutnant oder Hauptmann die Verhaftung des subversiven Subjektes Vesely angeführt hätte. Stattdessen schmetterte ich zu Zeiten des Putsches meine ersten antimilitaristischen Gedichte von deutschen Bühnen, und während Vesely in seiner Zelle sang, bastelte ich bei Amnesty International an der Freilassung politischer Gefangener in Chile und sonst wo auf der Welt. Aber auch das war eine gute Vorbereitung für ein Künstlerleben. Ein Quäntchen Soldatentum kann helfen, wenn man Gewaltmärsche durchhalten muss. Und wer schon einmal das Maskottchen der falschen Bande war, wird ganz leicht der antipoetischen Versuchung widerstehen können, einem Publikum nach dem Munde zu schreiben oder sich irgendjemandem anbiedern zu wollen. Schon gar nicht der Nation.

Da aber nun das Leben mich daran gehindert hatte, Sergio Vesely zu verhaften und ihn daran, ein neoliberaler Börsenspekulant zu werden, mussten wir mit dieser Planänderung irgendwie umgehen und deuteten sie als Einladung, stattdessen zusammenzuarbeiten.

Folglich ziehen wir seit rund vier Jahrzehnten kulturgetrieben durch die Lande, mal als Solisten mit Konzerten oder Lesungen, mal als Duo mit unseren Konzertlesungen, mal zusammen mit anderen Kolleginnen und Kollegen aus Musik oder Literatur, gelegentlich auch mal mit Chor und Orchester und immer häufiger als Hilfslehrer an Schulen oder Universitäten, um dort wehrlose junge Menschen mit hehrer Lyrik, vertrackter Prosa und fremden Rhythmen zu überfallen oder ihnen den Staub aus den Lehrbüchern zu pusten, wenn etwas über Freiheit und Menschenrechte erzählt werden soll.

Nicht alles spielt sich an den althergebrachten Stätten der Kunst oder Bildung ab, also an Stadtbibliotheken, Theatern, Volkshochschulen, Fortbildungsakademien, Museen, Schulen oder Universitäten. Sehr oft und gerne sind wir auch zu Gast bei gemeinnützigen Vereinen, die sich der Kultur verschrieben haben oder bei solchen, die Alternativen zum üblichen Kulturbetrieb suchen und sich dem Mainstream nicht unterordnen wollen. Oder die für ihre Themen werben wollen, aber dabei nicht unbedingt die Kunst an sich oder als solche meinen, sondern eines der unglaublich vielen Themen rund um die Freiheit, die Zivilcourage und die Menschenrechte.

Das ist ohne Zweifel das spannendste und sicher auch wichtigste Themenfeld unserer Zeit, aber auch das komplizierteste und belastendste, weshalb wir uns, da man sich mit Künstlerhonoraren keinen persönlichen Psychotherapeuten leisten kann, ganz gerne zur Erholung auch mit einer breiten Palette anderer Themen beschäftigen, wie etwa der Kulturgeschichte, der Liebe in schwierigen Zeiten, dem Zusammenspiel von Literatur und Musik, der Analyse indianischer Hochzivilisationen vor der Eroberung durch die Europäer oder der Frage, wie man sich in einer fremden Kultur zurecht findet. Oder was es eigentlich mit der deutschen Kultur auf sich hat und was das überhaupt sein soll. — Offen gestanden können wir diese Frage zwar immer noch nicht befriedigend beantworten, aber wir machen uns immer wieder Gedanken darüber und tun das ganz gerne nicht nur überall dort, wo man Deutsch spricht, sondern gelegentlich auch in Ländern, in denen man von deutscher Kultur nur Klischees im Kopf hat und freiwillig kaum auf den Gedanken käme, Deutsch sprechen oder es sich auch nur anhören zu wollen. Zum Beispiel in Holland oder Belgien oder Italien oder Chile. Oder in Sachsen.

Manchmal steht in der Zeitung, wir wären „Handlungsreisende in Sachen Menschenrechte“. Das ist meistens nett gemeint, auch wenn es sich inzwischen herumgesprochen haben sollte, dass Künstler in aller Regel nichts von Geschäften verstehen, weil sie sonst einen anderen Beruf gewählt hätten. Und dass wir Etikettierungen gar nicht mögen und um Verkäufer, Missionare und andere Einredner gerne einen ganz großen Bogen machen; oder auch mal beim Wein darüber philosophieren, dass für solche Leute der Kochtopf des Kannibalen einstmals ein durchaus verständlicher Verbleib gewesen ist — dies aber selbstredend nur aus der rein kulturhistorischen Perspektive.

Trotzdem: auch wenn wir gewiss keine Handlungsreisenden in irgendwelchen Sachen sind und es nicht als unsere Aufgabe sehen, irgendjemandem etwas zu verkaufen, so ist es doch wahr, dass wir uns von keiner anderen Muse so gerne abknutschen lassen wie von der Freiheit. Und dass wir von ihrer Schönheit und derber Anmut auch ganz besonders oft und gerne erzählen.

Wenn man nun sehr lange mit Kultur und Politik im Gepäck durch die Gegend reist, sammeln sich unterwegs mit der Zeit viele Geschichten an. Einige von ihnen haben etwas mit einer Art von Kulturleben zu tun, die man nicht täglich in einem Feuilleton beschrieben findet. Und die auch nur wenig mit einem zeitgeistigen Kulturbegriff zu schaffen hat, der sich immer mehr aus den Regeln der odiosen Ökonomie definiert und immer weniger aus denen der Kunst — der Inhalt gilt nicht mehr, nur sein Verkauf. Da ist es schon erklärungsbedürftig, wenn man trotzdem kein Verkäufer sein will. Also geben manche Geschichten auch Antwort auf Fragen, die uns unterwegs immer wieder gestellt werden, nämlich warum wir das tun, was wir tun, und was genau die Wurzeln und der Antrieb für unser Tun sein könnten.

Bisher waren wir zurückhaltend mit Geschichten über die eigene Arbeit und unsere Erfahrungen im Kulturbetrieb. Im Kulturleben, finden wir, sollen Künstler nicht um sich selber kreisen — obwohl alle Welt genau das von ihnen glaubt — sondern gefälligst mit ihren Themen Tango tanzen. Nicht mit sich selbst.

Trotzdem erzählen wir in diesem Buch nun einige Geschichten über die Herkunft unserer Arbeit und über unsere Erfahrungen mit dem Kulturbetrieb. Der Anstoß dazu kam nicht von uns, sondern von den Fragen, die uns unterwegs gestellt wurden. Oder genauer von den Fragestellern, die uns erst bewusst gemacht haben, welche sehr aktuellen Themen in einem Fetzen Biographie stecken können, den wir bisher für unbedeutend hielten oder für Schnee von gestern. Gleich mehrere Texte in diesem Buch wären nie geschrieben worden (und zwei weitere Bücher in dieser Edition nicht erneut veröffentlicht) wenn der Ulmer Soziologe Lothar Heusohn, der in unseren Augen ein Universalgelehrter von humboldtianischen Ausmaßen ist, uns nicht einige sehr inspirierende Tritte in den literarischen Hintern verpasst hätte.

Und dann sind da noch die überaus merkwürdigen Erfinder und Herausgeber dieser Edition. Unter den vielen Verrückten, die wir unterwegs kennen gelernt haben, gehören diese zweifellos zu den besonders verrückten, aber auch besonders kreativen und liebenswerten. Ihnen wollten wir ein Buch anbieten, das wir in einem kommerziellen Verlag nicht gerne gesehen hätten. Und weil sie mit derselben Muse im Bett liegen wie wir.

Urs M. Fiechtner, Mai 2015

Mit Möwenzungen in der Mehrzweckhalle

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