Читать книгу Mit Möwenzungen in der Mehrzweckhalle - Sergio Vesely - Страница 7
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Yo me anmeldeo
tú te anmeldeas
él/ella se anmeldea
nosotros nos anmeldeamos
vosotros os anmeldeáis
ellos/ellas se anmeldean
Imperfekt
Yo me anmeldié
tú te anmeldeaste
él/ella se anmeldió
nosotros nos anmeldeamos
vosotros os anmeldiasteis
ellos/ellas se anmeldearon
Konjunktiv
yo me anmeldearía
tú te anmeldearías
él/ella se anmeldearía
nosotros nos anmeldeariamos
vosotros os anmeldearíais
ellos/ellas se anmeldiarían
Zukunft
yo me anmeldearé
tú te anmeldearás
él/ella se anmeldeará
nosotros nos anmeldearemos
vosotros os anmeldiaréis
ellos/ellas se anmeldiarán
Partizip
anmeldeado
Gerundium
anmeldeando
Imperativ
anmeldéate
anmeldéese
anmeldeaos
anmeldéense
Negation
NO ANMELDEARSE!
Drei: Tripolis
Als ich noch nicht einmal wusste, wo Libyen auf der Weltkarte lag, las ich in einem Prospekt den Namen einer unbekannten Stadt. Tripolis.
Tripolis, wiederholte ich laut, um den Klang besser zu verstehen. Was konnte das sein? Ich wusste es nicht und es war keiner da, der mir eine Antwort hätte geben, kein Buch in meinem Regal, wo ich hätte nachschlagen können.
Normalerweise, wenn die Neugier mich durstig macht, warte ich, bis ich sie stillen kann. Aber mit Tripolis war das anders. Ich konnte es nicht lassen, immer wieder über die Bedeutung nachzusinnen und legte mir zu meiner Beruhigung eine These zurecht, die mir ganz schlüssig vorkam: der Name Tripolis musste verwandt sein mit dem Wort tripas, was in meiner Sprache Gedärme bedeutet.
Ich frage mich noch heute, wie ich auf diesen Gedanken kam. Nun, der Zufall wollte es, dass ich damals ganz in der Nähe der Fiambreria Alemana wohnte. Und da flogen meine Gedanken hin.
Die Deutsche Metzgerei war eine Attraktion in Santiago de Chile. Dort hingen dutzende von tripas an den Fleischerhaken. In verschiedenen Größen und Formen und Färbungen lockten sie die Passanten an die Schaufenster — es war das Haus der Tripas. Die Kunden bildeten regelrechte Schlangen, um da reinzugehen und original deutsche Würste zu ergattern. Wir alle waren schon drinnen gewesen. Und jeder von uns hatte sich schon mal gefragt, woher diese tripas kamen, wo sie hergestellt wurden. In Chile hatten wir damals solche Fabriken noch nicht.
Urplötzlich hatte ich eine Vermutung — konnte es sein, dass Tripolis etwas damit zu tun hatte? War Tripolis eine deutsche Stadt, eine, die darauf spezialisiert war, tripas herzustellen? Die Stadt, aus der die Köstlichkeiten der Fiambreria Alemana stammten? Über den Ozean geschickt, in unglaublich schweren Kisten, die eigentlich Kühlschränke waren? Ich konnte es mir bildlich vorstellen. Die Deutschen waren zu allem fähig — auch Berge zu versetzen. Berge von Würsten.
Sie waren Emigranten in Santiago, aber lebten mit einem Fuß noch immer in der alten Heimat. Sie ließen sich die Mercedesse aus Untertürkheim und Sindelfingen schicken, die Aufzüge aus dem Ruhrgebiet, das Bier aus München und die Gedärme — die Gedärme aus Tripolis. Das schien mir logisch zu sein und bei dieser Erklärung blieb ich. Jedenfalls vorläufig.
Viele Jahre später kam ich als aufgeklärter junger Mann nach Deutschland. Damit will ich sagen: als einer, der zwar über eine gewisse Allgemeinbildung verfügte, viele Bücher gelesen und manch eines davon auch verstanden hatte, der aber trotzdem in der Lage war, an einem unbekannten Bahnhof panikartig aus dem Zug nach Frankfurt zu springen, weil die vielen kleinen Schilder in seinem Waggon ihm sagten, dass er in dem ganz falschen Zug nach „Raucher“ saß — aber auf der anderen Seite eben als einer, der einen so undeutsch klingenden Namen wie Tripolis selbstverständlich niemals auf deutschem Boden suchen würde. Nun, es ist nicht ganz leicht, zu erklären, was in dem Kopf eines ausländischen jungen Mannes geschieht, wenn er auf einem unbekannten Bahnhof nach Orientierung sucht, irgendwo auf der Strecke nach Raucher, und dann erfährt, wo er gelandet war: in Darmstadt.
Ich war geschockt. Regungslos stand ich auf dem Bahnsteig und wusste nicht, was ich denken sollte. Ich hatte das scheußliche Gefühl, das Opfer eines gezielten Ablenkungsmanövers zu sein. Konnte es sein, dass Tripolis doch in Deutschland lag?
Es war zu viel für mich. Ich setzte mich hin, schloss die Augen und versuchte mich zu sammeln, bevor ich daran dachte, meinen Weg nach Frankfurt fort zu setzen.
Vier: Deutschstunde
„Wie heißt der Viejo Pascuero auf Deutsch?“ — wollte mein Bruder wissen. „Weihnachtsmann“ — antwortete ich. „Was?“ — fragte er überrascht. „Weih-Nachts-Mann“ — buchstabierte ich langsam.
Er grübelte eine Weile und fing dann an zu lachen. So eine Übersetzung für den Viejo Pascuero hätte er sich nicht mal im Traum ausgedacht. Eigentlich, meinte er, beleidigten die Deutschen den guten alten Mann damit.
Mein Bruder, das muss man dazu sagen, glaubt Deutsch zu verstehen, obwohl er es nicht spricht. Manchmal gelingt es ihm, das eine oder andere richtig zu übersetzen, meist über den Umweg der englischen Sprache, die er einigermaßen gut beherrscht. Deshalb glaubt er, dass das immer funktioniert. Aber da liegt er falsch.
Es ist nämlich ziemlich falsch zu behaupten, dass der deutsche Begriff „Weihnachtsmann“ dasselbe wäre wie Wine-Night-Man in der englischen Sprache. Das führt nur zu Missverständnissen, ja zu monströsen Ungereimtheiten. Aber mein Bruder will nichts davon wissen und bleibt bei seiner Übersetzung, obwohl sie quatsch ist.
Wenn er in dieser Stimmung ist — das weiß ich seit meiner Kindheit — macht es keinen Sinn, ihn von seiner Welle herunter holen zu wollen. Er hört nicht auf Dich. Du kannst ihm dann kirchliche Rituale oder wohlriechende Substanzen lang und breit erklären. Es geht an ihm vorbei. Er will jetzt etwas ganz anderes wissen und seine Laune könnte eine üble werden, wenn Du nicht mitmachst.
Deswegen schaute ich ihn nur kurz ein bisschen grimmig an, als er damit begann, merkwürdige Wortgebilde zu bauen wie „Wine-days-man“ oder „Wine-afternoons-man“. Ich fürchtete mich vor dem, was da auf mich zukommen würde und überlegte mit Eifer, wie ich mich aus der Affäre ziehen konnte.
Aber es wurde dann noch schlimmer, als ich gedacht hatte. Wir verbrachten einen geschlagenen Tag damit, über die unterschiedlichen Tageszeiten eines mutmaßlichen Weinmannes zu diskutieren und einige Begriffe der deutschen Sprache einzuüben, nur damit er sie an seine fixe Idee verschleudern konnte. Und ich half ihm auch noch dabei.
Die Germanisten mögen mir verzeihen. Mit meiner Hilfe wurde die deutsche Sprache verunstaltet. Fremde Völker lernten falsche Ausdrücke durch meine Schuld. Ich schäme mich dafür, denn die deutsche Sprache ist eine sehr ernsthafte Sache und wurde nicht geschaffen, um an Unsinn verschwendet zu werden. Aber, wie ich schon sagte: mein Bruder wollte nicht hören, und ich wollte wegen eines älteren Herren mit einem Übergewichtsproblem nicht unsere alte Freundschaft riskieren.
Am nächsten Tag erhielt ich die Quittung für meine Unvernunft. Ich hatte vergessen, dass mein Bruder nicht nur sehr stur sein konnte, sondern außerdem noch ein gutes Gedächtnis hatte. Was er sich einmal eingeprägt hatte, vergaß er nicht mehr.
Wir fuhren durch die Stadt. Auf einmal bremste er und zeigte auf ein Haus an der Straße. „Dort wohnt ein alter Freund von uns, der jetzt völlig alkoholisiert dahinvegetiert“, sagte er. „Dort wohnt der authentische Weinnachtsmann!“.
Ich, der um diese frühe Stunde noch nicht ganz erreichbar war für seine Witze, schaute ihn verständnislos an. Und er, als ob er sich darauf vorbereitet hätte, fing sprudelnd damit an, alles zu wiederholen, was wir am Vortag eingeübt hatten:
„Der Weinmorgensmann. Der Weinvormittagsmann. Der Weinmittagsmann. Der Weinnachmittagsmann. Der Weinabendsmann. Der Weinnachtsmann. Und der Weindenganzentagmann“ — beendete er seine Deutschlektion und jubelte ekstatisch wie ein erfolgreicher Torjäger. Dann schickten wir dem alten Freund gedankliche Grüße und Genesungswünsche über den Zaun und fuhren weiter. Ich stöhnte. Witze werden anstrengend, wenn man sie in die Länge zieht. Aber vielleicht war das ja nicht bloß eine Witzelei. Und die Deutschstunde war damit auch noch nicht beendet.
Tage später, kurz vor meiner Abreise — wir wussten, dass wir uns für eine lange Zeit nicht wieder in der alten Heimat sehen würden und es war uns eigentlich nicht nach Blödeleien zumute — nahm er mich beiseite und fragte mich ganz ernsthaft: „Warum haben die Deutschen eigentlich an Wein gedacht und nicht an ihr gutes Bier, als sie dem guten viejo pascuero diesen abscheulichen Säufernamen gegeben haben? Warum eigentlich nicht Biernachtsmann, na?!“.
Ich wusste keine Antwort. Ich dachte nur an Condorito, eine unsterbliche Comicfigur in meiner Heimat. Immer, wenn Condorito sich überfordert fühlt, fällt er stracks auf den Rücken und stammelt „ich verlange eine Erklärung“. Das hätte ich jetzt auch gerne getan. Allerdings bekommt Condorito nie eine Erklärung. Das ist bei uns so üblich, nicht nur in den Comics.
Unsere Welt ist voll von Dingen, die eine Erklärung fordern, aber keine erhalten — Armut, Hunger, soziale Ungleichheit, schreiende Ungerechtigkeit, politische Verfolgung und tausend Sachen mehr. Wir bekommen nie eine Erklärung.
Deshalb basteln wir uns unsere eigenen. Darauf sind wir trainiert und beherrschen diese Kunst, auch wenn manchmal seltsame Sachen dabei herauskommen. Außerdem sind wir sehr sture Leute. Wir verstricken uns gerne in die Erklärungen, die wir uns selbst geben müssen, weil man uns mit Erklärungen kurz hält. Wir diskutieren gerne und überall und pausenlos und über alles, aber wir tun das eigentlich nicht, um eine ernsthafte Lösung zu finden, sondern um unseren Stolz hoch zu halten, auch und besonders dann, wenn das Leben nichts anderes im Sinn hat als uns täglich zu demütigen. Das Leben ist gegen uns — also beharren wir darauf, es uns zum Freund zu machen und es so hinzubiegen, dass man mit ihm leben kann. Bei uns braucht man Sturheit, um zu überleben. Und mein Bruder ist eben ein Überlebenskünstler.
Fünf: Der Dolmetscher
Dass es zwischen den Völkern und Kulturen immer wieder zu Sprachverwirrungen kommt, ist nichts Neues und nur zu leicht verständlich. Die Sprache einer Kultur hat etwas mit ihren Gewohnheiten, mit ihrer Denkart und ihren Erfahrungen zu tun. Man kann das nicht 1 : 1 in die Lesart anderer Völker übertragen.
Schwieriger steht es mit der Sprachverwirrung innerhalb einer Kultur, nämlich wenn Worte für die Mitglieder einer Familie etwas ganz verschiedenes bedeuten. Dafür gibt es kein Lexikon. In meiner Familie hatte ich zum Beispiel eine Menge Probleme mit der Definition von Wörtern wie Zukunft, Gerechtigkeit, Fortschritt, Leben. Die meisten Probleme hatte ich mit meiner Mutter.
Sie war das jüngste Mädchen einer zehnköpfigen Familie und lebte in einem scheinbar gut erhaltenen Viertel des alten Santiago de Chile. Aber hinter den gutbürgerlichen Fassaden bröckelte die ökonomische und menschliche Substanz. Die schiere Verzweiflung war ein häufiger Gast im Haus ihrer Eltern. Mit den Jahren verschlechterte sich die Lage so sehr, dass sie die Schule abbrechen musste. Es gab kein Geld mehr, um sich den Luxus leisten zu können, dem jüngsten Mädchen eine Ausbildung zu bezahlen.
Aber es sollte noch schlimmer kommen. Die Eltern starben und sie musste für einen Hungerlohn arbeiten, um überhaupt zu überleben. Es gab keine soziale Absicherung, kein Netz, das einen Menschen in der Not vor dem Absturz ins Elend bewahren würde. Anstatt Wohlstand und Wärme zu spüren, lernte sie die bitteren Seiten des Lebens kennen — Ausbeutung, Einsamkeit und die von allen Seiten drohenden Gefahren des Absinkens in nackte Armut und Hoffnungslosigkeit. Sie musste alleine bestehen in einer Gesellschaftsordnung, in der alleinstehende Mädchen so gut wie keinen Platz hatten. Aber sie gab nie auf. Sie wollte raus aus ihrer engen, ärmlichen Welt. Sie hatte ein Ziel. Es stand alles gegen sie, aber obwohl sie übergenug Gründe hatte, um zu jammern, schwamm sie stolz und unbefleckt durch ihr Elend wie ein Schwan in einem Teich voller gewöhnlicher Enten.
Ihr Stolz und ihr Lebensmut erregten eines Tages die Aufmerksamkeit eines Architekten, der sie bald über alles liebte. Das war mein Vater. Und gemeinsam mit ihm schaffte sie es dann doch, ein bisschen von den süßen Seiten des Lebens zu erobern, soweit sie einem normalen Chilenen zur Verfügung stehen. Aber sie hatte nichts vergessen — kein bisschen von den Starthilfen, die ein junger Mensch im Leben braucht und die ihr versagt worden waren, kein bisschen von dem Leben am Rande des Absturzes und kein bisschen vor der alten Angst, eines Tages allein dazustehen und nichts zu haben als sich selbst. Sie hatte gute Gründe, das Leben so zu sehen, wie sie es sah. Und gute Gründe, einige Worte anders zu verstehen als ich es tat.
Als ich auf die Welt kam, lebten wir in Santiago wie die Maden im Speck. Uns fehlte es an nichts — jedenfalls an chilenischen Verhältnissen gemessen. Klar, wir spielten immer noch in einer untergeordneten Liga von Maden, aber wir hatten alles, was wir zum Leben brauchten. Formal betrachtet, gehörten wir zur gehobenen Mittelschicht einer Klassengesellschaft, in der weit über die Hälfte der Bevölkerung unterhalb der Armutsgrenze vegetierte und eine winzige aber unermesslich reiche Minderheit sich die teuersten Extravaganzen leisten konnte.
Immerhin, wir besaßen ein Auto und konnten in den Ferien ans Meer fahren. Ein Luxus! Einen Arzt konnten wir uns leisten, wenn es nötig war, was auch eine Art von Luxus ist, weil man bei uns aus Mangel an Alternativen lieber stirbt, als sich die Kosten für medizinische Versorgung aufzuhalsen. Ein toter Kranker ist beides auf einen Schlag los: die Krankheit und den teuren Arzt. Wir konnten uns die Verschwendung leisten, lieber gesund zu werden, als zu sterben. Mein Bruder und ich konnten eine der besten Schulen des Landes besuchen und hatten gute Aussichten auf einen Platz an der Universität.
Das war der große Traum unserer Mutter: Ihre Kinder sollten es besser haben als sie, ihre Kinder sollten eine gute Ausbildung haben wie der Vater und „jemand sein“, ihre Kinder sollten mit einem Startkapital schwimmen lernen und unversehrt durch die Tücken des Lebens kommen, am besten mit einem akademischen Titel — denn nur mit einem Titel war man ein Jemand in unserer rauen Welt. Sie wollte uns mitgeben, was man ihr einst nicht mitgeben konnte.
Aber der Traum ließ sich nur zu Hälfte realisieren. Mein älterer Bruder erfüllte reibungslos alle Erwartungen und wurde Ingenieur in Rekordzeit. Aber ich, das Nesthäkchen, kam auf ganz andere Ideen. Meine Mutter konnte nie verstehen, warum ich die Dinge anders sah, der Universität den Rücken kehrte und mich einer halblegalen revolutionären Gruppe anschloss, die von mir verlangte, mein Zuhause zu verlassen und in eine konspirative Wohnung umzuziehen.
Im Gegensatz zu ihr kannte ich die soziale Ungerechtigkeit in unserem Land nur aus Büchern — und, versteht sich, wie alle anderen Chilenen meiner sozialen Schicht, als scheinbar unbeteiligter Beobachter. Überall wo wir gingen und standen, kamen barfüßige Kinder und bettelten um ein Brot. Ich fühlte mich schlecht dabei und habe mich nie damit abfinden können. Meine Mutter konnte es.
Als ich begann, mich für die politischen Probleme meines Landes zu interessieren, wählte ich als meine Vorbilder nicht sanfte Wohltäter wie Albert Schweitzer oder Mutter Teresa und schon gar nicht irgendwelche ruhmbedeckten Nationalhelden aus der Oberschicht, sondern konsequente Revolutionäre wie Ernesto „Che“ Guevara oder Fidel Castro, die den Aufstand der Entrechteten proklamierten und die Eroberung einer besseren Zukunft für alle. Ich interessierte mich nicht für die Frage, ob es mir gelingen würde, ein paar Sprossen auf der sozialen Leiter emporzusteigen — ich wollte die soziale Leiter umstoßen.
Meiner Mutter war dieser Gedanke fremd. Sie hatte gelernt, dass die sozialen Verhältnisse eine von Gott gewollte Tatsache sind. Gottgewollte Verhältnisse kann man nicht ändern, aber man kann lernen, sich in ihnen zu bewegen und seinen Vorteil zu suchen. Ich hingegen fand, dass die Verhältnisse eine von Menschen angerichtete Schweinerei waren und dass sich niemals etwas ändern würde, wenn jeder nur seinen eigenen Vorteil suchte.
Wir begannen, verschiedene Sprachen zu sprechen. Wenn meine Mutter „Zukunft“ sagte, meinte sie damit die Zukunft unserer Familie, das Auskommen der Kinder und Enkel, das Häuschen, das tägliche Brot; wenn ich dasselbe Wort benutzte, meinte ich damit eine andere Gesellschaftsordnung, ein besseres Dasein für alle Familien im ganzen Land.
Wenn Sie von „Gerechtigkeit“ sprach, hatte das immer mit Belohnung oder Strafe zu tun und meinte, soweit es über ihren Wirkungskreis hinausging, meist jene Dinge, die der liebe Gott nach eigenem Ermessen entweder heute und hier oder einst und im Jenseits regeln würde. Hingegen dachte ich bei diesem Wort an einen Rechtsstaat, in dem alle Menschen vor dem Gesetz gleich waren und an eine faire Chance für alle, ein friedliches, geschütztes und menschenwürdiges Leben zu führen.
Unter „Fortschritt“ verstand meine Mutter ein neues Auto, einen besseren Fernseher, den Flug zum Mond, ein erstaunliches Gerät in der Praxis ihres Arztes. Ich verstand darunter, an die Stelle des alten Faustrechts des Stärkeren eine solidarische Gesellschaftsordnung zu setzen, in der die Menschen sich gegenseitig stützen. Und wenn sie das Wort „Leben“ in den Mund nahm, meinte sie damit meist die Anstrengung, die eigenen Schäfchen ins Trockene zu bringen, sich für die nächste Generation der Familie zu schinden und mit den privaten Mühsalen und Anfeindungen des Tages fertig zu werden.
Ich aber meinte mit „Leben“ das ganze Leben, meines und das aller Bewohner unseres verwirrten Planeten, ich meinte die Freiheit, unser Dasein so zu gestalten wie wir es für richtig halten und nicht, wie es andere zu ihrem Vorteil uns vorschreiben wollen. Und ich fand dass wir nichts vernünftigeres tun können, als es erstens in vollen Zügen zu genießen und es zweitens in einem besseren Zustand zu verlassen, als wir es vorgefunden haben.
Kurzum — die Wörter unserer gemeinsamen Sprache waren einander so fremd geworden, als stammten sie aus den Lexika verschiedener Völker. Ich war schon ein Ausländer, bevor ich mein Land verließ.
Als ich wegen meiner Mitarbeit im Widerstand gegen die Militärdiktatur verhaftet und nach einem langen Weg durch Gefängnisse, Konzentrationslager und Verhörzentren von einem Militärtribunal förmlich zur Verbannung verurteilt und damit zur Ausreise nach Deutschland gezwungen wurde, muss das für meine Mutter ein furchtbarer Schock gewesen sein. Ein mehrfacher. Erst die Angst um mein physisches Überleben; die Garde der Generäle ging gern über Leichen und war auch noch stolz darauf. Dann die Angst um meine Zukunft. Der Sohn wurde abgeschoben in ein fernes, fremdes Land, einfach so — und das auch noch ohne akademischen Titel. Vor ihrem inneren Auge muss sie mich damals erst tot und dann als einen in Lumpen gehüllten Bettler auf den Straßen eines fernen Landes gesehen haben.
Damals war ich zu sehr mit mir selbst beschäftigt, um darüber nachzudenken. Heute weiß ich, dass es sie vielleicht getröstet hätte, zu wissen, dass ich trotz aller Sprachprobleme unzweifelhaft ihr Sohn bin und folglich einige ihrer Gene mit mir herumtrage. Ihre Zähigkeit. Ihren Stolz. Ich bin zwar kein Schwan und bin auch keinem Architekten begegnet, den ich heiraten würde, aber ich kann auch ganz gut wieder aufstehen, wenn ich auf der Nase liege.
In Deutschland kam ich gewissermaßen auf der Nase liegend an, aber ich richtete mich ganz schnell auf, weil ich sie zum Schnuppern brauchte. Die fremde Kultur, die andere Sprache, die Demokratie, die solidarische Gesellschaftsordnung, der freie Zugang zu Bildung und Information, die an die Menschenrechte angelehnte Verfassung, das ganz und gar exotische Gebaren der Ureinwohner — all das erregte meine Neugier und meinen Wunsch, dazuzulernen. Übrigens so sehr, dass ich Jahre später selbst ein Deutscher wurde, jedenfalls dem Pass nach. Ich hatte viele Gründe dafür. Einer davon war, dass ich zum ersten Mal in meinem Leben an einer allgemeinen, freien und geheimen Wahl teilnehmen wollte.
Dass ich nicht lange mit der Nase auf dem Boden schrammen musste, lag aber auch daran, dass mich die Deutschen sehr freundlich aufgenommen haben. Manche sogar neugierig. Ich durfte Bücher schreiben und Platten aufnehmen und die Deutschen waren höflich genug, sich damit zu beschäftigen. In den Augen meiner Mutter war ich damit noch längst kein Jemand, denn ich konnte mir kein Diplom und keinen Meisterbrief an die Wand hängen, die mich amtlich als Dipl. Schriftsteller und als Dr. Musikmeister ausgewiesen hätten, aber ich war auch kein Kandidat für jenen Fall in den Abgrund, der ihr immer vor Augen gestanden hatte.
Trotzdem brauchen wir einen Dolmetscher, um uns wieder gut zu verstehen. Er stand eines Tages in der Tür, machte eine nonchalante Verbeugung und stellte sich als Tango vor.
Ich Trottel hätte früher darauf kommen sollen, dass die Musik neue Sprachen schafft und Brücken zwischen den alten Sprachen baut, schließlich sieht man mich selten ohne eine Gitarre. Aber andererseits kommen Söhne, die über ihre Mütter nachdenken, nicht unbedingt als Erstes auf den Tango.
Der Tango ist eine besondere Art von Musik. Für Europäer ist er meist nicht mehr als ein kunstvoller, ein bisschen erotischer und ein bisschen lasziver Gesellschaftstanz, mit dem man Eindruck schinden kann. Und sie kennen ihn fast nur als Musik ohne Worte. Für uns ist er weit mehr. Er hat etwas mit Poesie zu tun. Und sehr viel mit der Seele des Volkes. Er ist eine Kommunikationsform über die Widrigkeiten des Daseins, über unsere Sorgen und Nöte, über die individuelle Erkenntnis dessen, was Leben heißt. Mit einem Tango singen wir von den elementaren Dingen des Lebens, von Liebe, Enttäuschung und Verrat, von dem Arrangement mit unseren Niederlagen, von der Sehnsucht und unseren unerfüllten Träumen, vom unentrinnbaren Tod und den ganzen großen und kleinen Theaterspielen, die ihm vorangehen. Der Tango kreist um die Dinge, die wirklich wichtig sind und die jeder von uns kennt, egal, woher er kommt und in welchen Sphären er sich sonst bewegt. Seine Sprache ist einfach und klar und orientiert sich am Umgangston auf der Straße; er spricht unser aller Sprache. Manchmal ist sie schräg, manchmal so gewöhnlich wie der Alltag um uns herum. Da er die Wahrheiten des Lebens in einer ungeschminkten Sprache auf den Punkt bringt, ist sein Ton weltweise und somit melancholisch, was alerte Europäer sofort mit Depression verwechseln. Aber der Tango ist nicht traurig. Er sieht das Leben nur so, wie es eben ist.
Eines Tages war meine Mutter zu Besuch bei uns und ich erinnerte mich daran, dass meine Kindheit von Musik durchzogen war. Mein Vater brachte mir das Spiel auf dem Akkordeon bei. Meine Mutter sang im Haus, wann immer ihr danach war. Also holte ich meine Gitarre heraus und bat sie, etwas für uns zu singen. Sie wählte einen Tango. Und dann noch einen. Und noch einen. Am Anfang begleitete ich sie nur mit der Gitarre. Aber bald sangen wir im Duett. Sie sang meisterhaft. Wie ein Schwan. Ihre Stimme war voll und leidenschaftlich und lebenserfahren zugleich. Sie wählte Lieder aus, die uns beiden etwas sagten. Es war so gut, dass ich sie schon nach wenigen Tagen ins Studio schleppte, um eine Platte aufzunehmen. Wir hatten wieder eine gemeinsame Sprache gefunden.
Das heißt noch nicht, dass wir uns von da an in allen Dingen des Lebens einig gewesen wären. Sie spricht noch immer ihre eigene Sprache und ich die meine. Aber wir haben einen guten Dolmetscher, den man auch tanzen kann.
Sechs: Denken-Dorf
Wenn Europäer über Flüchtlinge reden, klingt das manchmal, als ob irgendwelche gelangweilten Abenteurer aus Weitfortistan es sich in den Kopf gesetzt hätten, sich hier zu bereichern, die Ureinwohner beiseite zu boxen, ihnen ihre Mercedesse und Porsches wegzunehmen und unverdientermaßen das Leben von Parasiten zu führen.
Bei mir war das anders. Ich habe mir Europa gar nicht ausgesucht, geschweige denn Deutschland. Ich saß auf unbestimmte Zeit in diversen Gefängnissen und Konzentrationslagern einer altertümlichen Militärdiktatur, weil ich es für normal hielt, Freiheit und soziale Gerechtigkeit zu verteidigen und für kriminell, Bücher und Lieder zu verbieten. Die Generäle sahen das genau umgekehrt. Sie konnten mich aber nicht umbringen und irgendwo verscharren, weil meine Verhaftung bekannt geworden war und große Menschenrechtsorganisationen wie Amnesty International meinen Fall registriert hatten. Doch man wollte mich trotzdem loswerden und beschloss, mich zur Verbannung zu verurteilen. Ein Militärgericht fasste den Beschluss und schickte mich ins Ausland.
Ich landete in Deutschland. Aber das war nur ein Zufall und, ehrlich gesagt, nicht mein Wunsch. Es hätte auch Australien, Kanada oder Rumänien sein können. Oder der andere Teil Deutschlands, den man damals noch DDR nannte. Gekommen bin ich nicht freiwillig, aber ich bin freiwillig geblieben. Nicht, um jemandem einen Mercedes wegzunehmen oder gar einen Arbeitsplatz. Sondern weil das Land schön ist und die Leute liebenswert, auch wenn man sie nicht sofort versteht und ihre Kultur viele Geheimnisse birgt, die zu erforschen sich lohnt.
Darauf kommt es an. Unterschiedliche Kulturen und Lebensweisen sind kein Grund, sich ängstlich in eine Ecke zu kauern oder die Verteidigungsinstrumente der Barbaren herauszuholen, um alles Fremde zu verdrängen. Man muss nicht alles gut und richtig finden, was die anderen tun. Aber man sollte ihre Gründe kennen. Also neugierig darauf sein, warum die Dinge so sind, wie sie sind, und warum die anderen sich so anders verhalten.
Mit der Sprache fängt alles an. — Diesen Satz schreibe ich nicht nur deshalb auf Papier, weil mir damit die Herzen der Deutsch-, der Fremdsprachen- und Sozialkundelehrer zufliegen werden, sondern weil er wahr ist. Jedenfalls im Prinzip, denn ich gebe zu, dass mit der Sprache auch alles aufhören kann. Zum Beispiel das Verständnis. Manchmal fängt die Ratlosigkeit ja erst richtig an, wenn man den Reden der Leute folgen kann; oder wenn man nach dem tieferen Sinn eines Wortes zu suchen beginnt und dabei entdeckt, dass es besser sein kann, ihn nicht zu finden.
Ich lebe jetzt schon lange in Deutschland. So lange, dass ich sogar gelegentlich in der deutschen Sprache schreibe und singe. Aber ich habe noch nicht alle Geheimnisse ergründet. Weder die der Sprache, noch die des Landes, der Leute oder gar der Kultur. Immer wieder werde ich schmerzhaft an meine Unwissenheit erinnert, vor allem wenn ich auf Tournee bin und versuche zu begreifen, wo ich mich befinde und was dieser Ort mir sagen will. Ich gebe die Frage weiter. Urteilen Sie selbst:
Meine Reiseroute führte mich von Linsengericht nach Freigericht und weiter nach Oberkotzau. An Darmstadt, Flögeln, Fickmühle und Kakentorf vorbei bis Dortmund, Weil der Stadt, Einöde, Poing und Aha. Ich überflog Mannheim und übernachtete in Weibersbronn. Voller Gelüste durchwanderte ich Freudenstadt, Baden-Baden und Singen. In Deppendorf hatte ich fast einen Unfall. Ich lernte Erlangen kennen, Siegen, Braunschweig und Malente, besichtigte das Sauerland, Salzgitter und die Zugspitze. Ich kam hungrig nach Essen, nach Kuchen und nach Süßen und suchte in Gießen, Regen und Eisleben nach einem Regenschirmständer. In Holzmaden war es mir etwas unheimlich. In Hörvelsingen suchte ich vergeblich nach Hörveln. In Senden hielt ich mich länger auf bevor ich dann über Waldshut, Rosenheim, Offenburg, Gaildorf und von dort mit einem Abstecher über Geilenkirchen, Heilbronn, Vierzehnheiligen und Riegel in Denkendorf landete, wo ich heute wohne und darüber nachdenke, ob ich eines Tages nicht ein Buch oder ein sehr langes Lied schreiben sollte, das nur aus Ortsnamen besteht. Das wäre dann womöglich eine sehr poetische und dazu charmante Umschreibung dessen, was Deutschland ist.
Aber bestimmt auch eine sehr verwirrende.