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Nicht nur die Sprachverwirrung
ОглавлениеSergio Vesely / Urs M. Fiechtner
Eins: Für den Opa
Keiner von uns konnte „Regenschirmständer“ aussprechen, ohne mehrere Knoten hintereinander in die Zunge zu bekommen. Aus diesem Grund nannten wir das Möbel schlicht und einfach weiterhin paragüero. Das war leichter für uns. Obwohl ich zugestehen muss, dass einige von uns selbst dafür ein Wörterbuch brauchten, weil sie in der Vergangenheit noch nie einen echten paragüero gesehen hatten, teils weil man bei uns nicht unbedingt einsieht, dass jedes Ding auf der Welt auch sein eigenes Möbel verlangt, und teils, weil der Regen ein seltener Gast in unserer chilenischen Heimat ist.
Wie gesagt: wir hatten beschlossen, den Regenschirmständer ganz und gar spanisch zu belassen. Wegen der Sache mit der Zungenartistik. Und weil uns die Teamarbeit zwischen Wörtern sehr fremd war. Wir kamen aus einem stolzen Land, wo alles und jeder auf jedes und alles sehr stolz ist. Auch die Wörter auf sich selbst — niemals würden sie sich zusammensetzen, um ein neues zu bilden. Außerdem kamen wir aus einer Diktatur. Da gab es nur ein Oben und ein Unten, Befehl und Gehorsam, Ja oder Nein. Es gab keinen Ausgleich der Interessen, wie in einer Demokratie. Es gab keine Runden Tische. Man setzte sich nicht zusammen, um eine Lösung zu finden, sondern legte mit militärischen Mitteln fest, was die Leute zu denken und zu sagen hatten. Kompromisse waren wir nicht gewöhnt.
Trotzdem gab es eines Tages eine Wende — wir fanden eine Zwischenlösung, die uns überzeugte. Sie war vielleicht nicht die richtige für die netten Leute von der Volkshochschule, die uns gutes Deutsch beibringen wollten, aber sie hatte einen enormen Vorteil: wir alle konnten sie fehlerfrei ins Deutsche übersetzen und wussten, dass ein paragüero gemeint war, obwohl von etwas ganz anderem die Rede war.
Die Geschichte ist eigentlich für Insider, aber ich erzähle sie trotzdem. Ich finde sie sehr bereichernd. Sie sagt etwas aus über die unverschämte Kraft der Naivität.
Die Sache war die, dass unter uns Flüchtlingen damals ein Landsmann mit einem Sprachfehler wohnte. Er sprach Spanisch wie die Chinesen. Also ohne „r“. Eines Tages kam er zurück von einem netten winterlichen Spaziergang durch die Altstadt und schrie an der Haustür nach dem paragüero. „Pa’labuelo“ rief er. „Wo ist der pa’labuelo?“
Und schon war es passiert. Wir mussten lachen, und während wir lachten, fanden wir die neue Bezeichnung für den unaussprechlichen Regenschirmständer. Wir übersetzten, was wir gefunden hatten. Es waren drei Wörter, und die bereiteten uns in keiner der beiden Sprachen irgendwelche Schwierigkeiten: „Para el abuelo“ = „Für den Opa“.
Seit diesem Tage sagen wir nicht mehr paragüero. Wenn wir tropfnass in der Haustür stehen und den Regenschirm so ordentlich und rücksichtsvoll, wie es hierzulande Sitte ist, ins Trockene bringen wollen, suchen wir den Fürdenopa.
Zwei: Anmeldearse
Se anmeldearon? — Eine merkwürdige Frage. Am Anfang verstanden wir sie nicht. Was war nur damit gemeint?
Wir konnten es nicht wissen, weil dieses Wort in unserer Sprache nicht existierte. Bei uns zu Hause ist man einfach da, ohne jemanden von seiner Existenz amtlich informieren zu müssen. Hier ist das anders.
Das Wort war eine Erfindung der Flüchtlinge, die vor uns in Deutschland angekommen waren und irgendwie versuchten, mit den exotischen Sitten und Gebräuchen ihres Gastlandes ins Reine zu kommen.
Eines stand von Anfang an fest: hier musste man sich anmeldearen. Überall. Jederzeit. Ständig. Das Wort klang wie eine Warnung. Wer es zum ersten Mal hörte, dem stand die Angst im Gesicht. Wir ließen uns nicht ohne Weiteres beruhigen. Die Erklärungen waren verwirrend. Wir waren frei, aber wir dachten bei diesem Wort sofort wieder an das Gefängnis.
Tatsächlich konnte man diese Frage kaum übersetzen. Das Wort war eine Leihgabe aus der Kultur unserer Gastgeber. Die Deutschen leben damit ihr ganzes Leben. Sie sind anmeldeados seit ihrer Geburt.
Für uns aber war es eine schreckliche Vorstellung. Wir waren die Flüchtlinge der schlimmsten Diktatur, die unser Land jemals erlebt hatte, aber noch nie hatten wir eine solche Gemeinheit erduldet: wir sollen wirklich dem Staat preisgeben, wo wir wohnen? Wo wir essen und schlafen, wo wir uns lieben und mit unseren Kindern streiten, wo wir unsere Krankheiten ausheilen und uns mit Freunden treffen? Unmöglich. Die Polizei wollte wissen, wo wir zu finden waren. Das konnten wir nicht zulassen. Wir misstrauten der Polizei zutiefst. Nicht der deutschen, sondern der Polizei an sich. Sie hatte uns verfolgt, verhaftet, gefoltert, inhaftiert und schließlich deportiert. Wie konnte man so etwas von uns verlangen?
Aber in Deutschland muss sich jeder anmelden. Was nicht in den Akten ist, ist nicht in der Welt, sagten die alten Römer, und die Deutschen praktizierten es. Wir philosophierten darüber, ob eine Frau hierzulande sofort zum Einwohnermeldeamt rennen muss, wenn sie erfährt, dass sie schwanger ist. Und was das Wort „melden“ da zu suchen hat, das wir nur vom Militär kannten. Wie meldet man der Welt einen neuen Bewohner? Muss man sich aufbauen wie auf dem Kasernenhof und die Hacken zusammenschlagen und so etwas brüllen wie: „Melde gehorsamst, neuer Erdenbürger eingetroffen!?“
Jedenfalls sind in Deutschland alle Menschen Anmeldeados. Es ist strikte Bedingung für alle Einheimischen und eine unausweichliche Amtshandlung für alle Anwärter auf den Status eines Flüchtlings: man existiert nicht nur einfach so unordentlich vor sich hin, sondern man existiert amtlich. Damit die Sache ihre Ordnung hat.
Wir hatten keine Wahl. Uns blieb nichts anderes übrig, als uns dem Schicksal zu beugen. Wir wurden stinknormale Anmeldeados. Also war die Frage „se anmeldearon?“ an die neuen Ankömmlinge der chilenischen Exilfamile berechtigt. Man wollte die Leute auf das Neue vorbereiten und wissen, wie sie mit dem Problem fertig wurden. Man tauschte Erfahrungen aus. Man erzählte sich die neuesten Episoden aus der Serie der Albträume. Es baute sich so etwas wie ein Psychosyndrom der Angemeldeten unter uns auf. In Stuttgart hatten wir sogar eine interne Zeitung mit dem Namen El Anmeldeado. Die Idee war schön und hatte Witz. Der Name war in doppeldeutiger Form richtig. Diese Zeitung war die Trägerin von Meldungen aus der Welt der Angemeldeten.
Wir redeten und redeten über anmeldearse und die Anmeldeados. Es war fast unser einziges Thema. Die Anwendung des Wortes wurde immer feiner, immer vielfältiger. Wir konnten das Verb bald in allen Formen verwenden, als wäre es unser Wort oder als wären wir es gewesen, die die Manie in die Welt gesetzt hätten, sich überall anmelden zu müssen: