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HexenJagd von Sharon York

Enttäuscht war Ira gegangen. Ich hatte noch versucht, ihr den Grund für meine Entscheidung zu erklären, war mir meiner eigenen Gefühle aber gerade so unsicher, dass ich dafür selbst kein logisches Argument fand. Nachdenklich die Beine von mir gestreckt, saß ich vor Maddox Zimmer und wartete darauf, dass er aus seinem künstlichen Schlaf erwachte. Würde ich sagen, dass dieser Mann mich faszinierte, so wäre es eine maßlose Untertreibung gewesen. Seine Seele war so tief und nur in Nuancen lesbar, dass ich mir nicht sicher war, ob er überhaupt ein Mensch war. Es war ein Tummelplatz von so widersprüchlichen Gefühlen, als würde er Hunderte auf einmal durchleben. Ich hatte gestoppt, obwohl ich alles aus ihm hätte lesen können und konnte mir nicht erklären, warum ich es nicht getan hatte. Vielleicht, weil es nicht richtig war, vielleicht aber auch, weil ich Angst hatte, das Gesehene nicht aushalten zu können.

Ein lautes Knacken riss mich ich aus meinen Gedanken. Milde lächelnd stand Maddox im Rahmen und zog seine Schutzweste an. Keine Frage, unter dieser attraktiven Hülle und hinter den verträumten Augen lag etwas, was ich mir nicht erklären konnte – und das machte mich rasend.

»Schöne Träume gehabt?«, wollte ich herausfordernd wissen und stellte mich neben ihn.

Etwas verlegen kratzte er sich am Kopf, überprüfte seine Ausrüstung.

»Einen interessanten Traum«, murmelte er schließlich. »Weiß noch nicht ganz, wie ich damit umzugehen habe.«

Ich wusste es und konnte mir ein Lächeln nicht verkneifen. Schließlich gelang es, trotz Realität um einen herum, hin und wieder in die schöne Gelassenheit eines künstlichen Traums zu versinken. Vielleicht hatte er sogar ein paar Fetzen mitbekommen, die er nun händeringend einzuordnen versuchte. Einmal mehr fühlte ich mich schuldig. Armer Soldat.

»Du siehst etwas mitgenommen und errötet aus. Alles in Ordnung?«

Manchmal kann ich so gemein sein!

Maddox fuhr sich durch die Haare und streckte sich.

»Ja, danke«, log er.

Ich konnte ihn gut verstehen, schließlich pochte auch in meinem Körper die Begierde weiter. Wenn auch nicht so schlimm, wie es bei ihm sein musste.

»Wie geht es nun weiter?« Sein Blick war stechend, als bräuchte er dringend Ablenkung.

»Ich habe von einer meiner Quellen erfahren, dass es einen Versammlungsort für sämtliche Dämonen im Central Park gibt. Wir sollen das überprüfen.«

Angriffslustig lud Maddox das automatische Gewehr nach.

»Worauf warten wir dann noch?«

***

Der Central Park lag nur einige Meilen Uptown vom Financial District entfernt. Eingebettet zwischen Museen und herrschaftlichen, altehrwürdigen Gebäuden waren der kleine Weiher und das Dickicht des Mischwaldes charakteristisch für den von Spaziergängern gern besuchten Park.

»Lemi scheint dich zu mögen«, sagte ich in Richtung Maddox, der das Kaninchen liebevoll auf seinem Schoß streichelte.

»Freut mich, dass dir der Name gefällt«, entgegnete er mit einem Schmunzeln auf den Lippen.

Verdammter Mist! Eigentlich wollte ich nicht, dass er den Namen behält. Leider passte er nur allzu gut.

Die digitale Anzeige meines Mercedes verriet, dass es mittlerweile fast vier Uhr war. Je weiter wir uns vom Wolkenkratzer des Zirkels entfernten, desto weniger wurden die menschlichen Nachtschwärmer, dafür füllten andere Gestalten die Straßen. Auf den ersten Blick wirkten sie wie normale Passanten. Nur wenn man weiß, worauf man achten sollte, konnte man die kleinen, aber tödlichen Unterschiede erkennen. Zum Beispiel bei der blonden Frau, die im kurzen Minirock an einer Bushaltestelle lehnte und so aussah, als würde sie auf den Nachtbus warten.

Sie war eine Vilja.

Ein Nachtgeist, der irgendwann mal von einem Mann ermordet wurde und aufgrund all ihres Hasses und der Schmerzen nicht sterben wollte. Bis in alle Ewigkeit würde sie nun nachts auf der Suche nach Männern sein. Doch anstatt körperlicher Zuwendung würden ihre Opfer nichts anderes finden als den Tod. Ihre bleiche Haut, diese toten, riesigen Augen, alles deutete darauf hin. Die Städte waren voll mit solchen Geschöpfen. Viele harmlos, die sich von Tieren ernährten oder tatsächlich in die Gesellschaft eingegliedert waren. Leider auch einige, die vor Gefährlichkeit nur so strotzten, wie diese Vilja dort.

Maddox bemerkte meinen konzentrierten Blick.

»Dafür haben wir keine Zeit«, knurrte er.

Ich wusste, dass er recht hatte, und lenkte meinen Wagen auf den Parkplatz. Als wir die ersten Schritte in die Nacht machten, erhellte der Mond Maddox Gesicht. Schon wieder war da dieses helle Schimmern auf seiner Haut. Ich traute meinen Augen kaum. Seine Narbe glänzte für einen Moment rötlich in der Nacht, als wäre sie die brennende Spur einer Peitsche. Dann verschwand das Glühen. Anscheinend musste ich Arbeit und Stress ihren Tribut zollen. Kopfschüttelnd blickte ich nach oben. Wolkenfetzen ließen die Nacht bedrohlich wirken, trotzdem suchten wir uns einen Weg in den Wald.

»Lumière.«

Mit diesem alten, französischen Zauberspruch erhellte sich der geschwungene Pfad, der sich in der Finsternis zu verlieren drohte. Maddox überprüfte die Munition und lud sein Gewehr durch.

Dieses alberne Soldatengetue!, dachte ich und schritt gelangweilt neben ihm. Minutenlang war dort nichts, außer der Einöde eines Waldes und ein paar raschelnder Geräusche. Ein silbermetallischer Rover hatte irgendwo am Rande des Unterholzes geparkt. Keuchende Geräusche gingen von dem Fahrzeug aus und es wippte bedrohlich. Wir erkannten zitternde Hände an den beschlagenen Scheiben. Maddox und ich schmunzelten uns zu, während wir einen weiten Bogen um das Pärchen machten. Wenigstens hatten sie Spaß in dieser Nacht.

Wir gingen tiefer in den Park hinein, doch außer dem knirschenden Boden unter unseren Füßen, war kein verdächtiger Ton auszumachen. Alles in allem nicht gerade das, was man als eine dämonische Versammlung bezeichnen konnte. Nach einer weiteren Viertelstunde wurde es mir zu bunt.

»Hier ist nichts, mein Informant hatte Unrecht, lass uns zum Zirkel zurückkehren.« Ich sah mich um, richtete meine Haare. »Wenn die Sonne aufgeht, werden sowieso alle Dämonen verschwunden sein.«

Maddox verkniff sich das Lachen, ließ sein Gewehr sinken und baute sich vor mir auf. Erst schien es, als wollte er etwas sagen, doch dann nickte er nur und wir traten die Rückfahrt an. Die Hitze des Tages war noch nicht ganz verschwunden, sodass ich mit offenem Verdeck fahren konnte.

Einige Minuten legten wir schweigend in Richtung Downtown zurück, dann setzte Maddox erneut an: »So, du denkst also wirklich, dass der Tag den Menschen gehört und die Nacht den Dämonen?«

Ich verzog meine Lippen zu einem dünnen Strich und atmete tief, fühlte ich mich doch irgendwie belehrt. Deshalb sagte ich betont: »Es gibt nur wenige Halbwesen, die bei Tag wach sind. Natürlich gibt es ein paar Ausnahmen. Aber die meisten schlafen, wenn die Sonne ihre Runde zieht. Also: ja.«

Maddox hörte mir bereits nicht mehr zu. Seine Sinne waren gespannt wie Klaviersaiten, als er in die Nacht hinausspähte.

»Was ist?«, fragte ich gereizt.

Er erhob die eine Hand, legte mir mit der anderen einen Finger auf die Lippen.

»Hörst du das nicht?«

Ich drehte meinen Kopf. Von Osten her wurde Musik und lautes Gejohle durch die Häuserschluchten gepresst. Ich schnalzte mit der Zunge. »Ja und? Im Garden ist eine Veranstaltung. Vielleicht ein Konzert oder so.«

Maddox blickte auf seine Uhr. »Um halb fünf Uhr morgens?«

Nun legte auch ich meine Stirn in Falten und lenkte den Wagen in das Parkhaus des Madison Square Garden.

Gemeinsam näherten wir uns der riesigen Veranstaltungsarena. Normalerweise traten dort die größten Acts auf. Legendäre Konzerte und Spiele fanden bereits unter diesem Dach statt. Die Heimat der Rangers und der Knicks. Immerhin bot sie Platz für 20.000 Menschen. Ich war oft mit Ira dort, zumindest wenn es unser Dienstplan zuließ.

Die runde, glänzende Fassade war beleuchtet. Auch wenn der Parkplatz nicht vollends gefüllt war, fiel mir auf, dass der Anteil an Edelkarossen doch sehr hoch war. Wir lugten zum Haupteingang. Ein Dutzend breitschultriger Männer lungerte gelangweilt herum und trank rote Flüssigkeit aus Gläsern. Maddox und ich tauschten Blicke und wir waren uns wortlos einig, dass dies kein Wein war.

Vampire als Security. Großartig!

Dort war es nicht möglich, einfach so reinzuplatzen.

»Wie sollen wir ...«, doch meine Worte verhallten im Nichts. Etliche Meter weiter machte Maddox sich bereits an einem Notausgang zu schaffen und grinste triumphierend, als er mir die Tür aufhielt.

»Ladies first«, sagte er voller Ironie mit einer angedeuteten Verbeugung.

Durch das Labyrinth aus Gängen schafften wir es bis nach oben in den Technikraum. Durch eine schmale Öffnung konnten wir auf die Bühne hinunterspähen. Maddox legte sich zuerst hin, ich mich anschließend auf seinen Rücken. Meine Lippen waren nahe an seinem Ohr, doch war dies nicht der Grund, welcher meine Kehle wie eine Wüste ausdörren ließ.

Im weiten Rund der Arena mussten sich Tausende Halbwesen versammelt haben. Nicht in einer dunklen Ecke, nicht im Dickicht des Parks. Nein, sie hatten den Garden gemietet! Im Herzen von New York City. Ich musste trocken schlucken bei diesem Gedanken.

Die Stimmung schien zu kochen. Vorn auf der Bühne brüllte ein dicklicher Mann seine Parolen in den Raum, peitschte die Massen weiter an. Mir lief ein Schauer über den Rücken, meinte meinen Sinnen nicht trauen zu können. Vampire in unheiliger Eintracht mit Werwölfen, Magiern und anderen Arten von Halbwesen stierten auf die Bühne und reckten die Hände in die Lüfte. Dispute und Meinungsverschiedenheiten unter den einzelnen Clans und Stämmen schienen keine Gültigkeit mehr zu haben. Ich lauschte den Worten des verschwitzten Mannes. Doch als ich seine Stimme hörte, traf mich der Schlag. Pochte mein Herz eben noch wie wild, war es nun kurz davor zu zerspringen. Creepy!

Ich hätte ihn erledigen sollen, als ich die Chance dazu hatte.

»Meine Brüder und Schwestern«, schrie er in den Pulk. Reden konnte er schon immer. Das war also der Grund, warum Nikolai ihm geholfen und anschließend rekrutiert hatte. Dieser kleine, schmierige Schlangendämon!

»Die Zeit ist gekommen, um sich gegen die Obrigkeit zu erheben. Jene, die meinen, uns kontrollieren zu können, deren Elfenbeinturm aus Arroganz über allen steht. Ihr wisst, von welchen Huren ich rede? Ihr wisst, wer uns mit Selbstherrlichkeit und Dekadenz unterdrückt!«

Die Masse antwortete mit einer Stimme. Es war nicht schwer zu erraten, was sie nun schrien.

»Richtig!«, fuhr Creepy mit wutentbranntem Gesicht fort. Sein viel zu buntes Jackett stach schmerzhaft von der schwarzen Bühne ab.

»Es sind die Hexen! Es ist der Zirkel, der euch, der uns alle unterdrückt. Wir müssen uns wehren, liebe Brüder und Schwestern. Wir müssen uns wehren gegen diese Huren mit ihren lächerlichen und veralteten Gesetzen zum Schutz der Menschen.« Er ging an den Rand der Bühne, breitete die Arme aus. »Wer gibt ihnen das Recht dazu? Wer sagt, dass die Menschen beschützt werden müssen?«

»Niemand!«, keifte die Masse. Vereinzelte Zwischenrufe hallten im Raum, hauptsächlich Hasstiraden gegen den Zirkel, die Reaper und uns Hexen.

Creepy nickte zufrieden. Durch das befestigte Mikrofon an seiner Wange konnte man ihn laut atmen hören.

»Warum müssen wir uns in dunklen Gassen verstecken wie Ratten? Warum sollte es nicht andersherum sein? Warum sollten die Menschen sich nicht vor uns verkriechen? Wir flüchten uns in die Dunkelheit. Dabei sollten die Hexen und die Menschen es sein, die vor uns kriechen.«

Der Pulk tobte. Tausende Dämonen jubilierten, schrien in wilder Ekstase. Er hatte sie. Er hatte die Massen. Sie hingen an seinen Lippen. Creepy war wahrlich ein guter Redner.

»Doch schon bald wird dieser kühne Traum Realität werden, dass verspreche ich euch!« Hastig zog er Luft in seine Lungen. Ich konnte aus der Entfernung nur mutmaßen, dass seine Haut nun glänzte, als hätte er sich mit Vaseline eingerieben. Seine Stimme wurde ruhig, fast bedächtig. Er reckte einen Finger in die Höhe.

»Er ist zurückgekehrt, meine lieben Freunde. Der Sohn des Teufels selbst ist zurück und wird uns in eine bessere Zukunft geleiten. Ihr habt die Gerüchte gehört, dies ist der Grund, warum ihr hier seid und ich sage euch: Die Gerüchte sind wahr!«

In wilder Raserei hatte die Stimmung nun ihren Höhepunkt gefunden. Ich konnte nicht glauben, was sich da vor meinen eigenen Augen abspielte.

»Überall im Land gibt es solche Veranstaltungen. Es be­ginnt hier und wird sich wie ein Orkan über das gesamte Land ausbreiten. In einem einzigen Sturm werden wir die Hexen von der Landkarte fegen. Wartet auf sein Zeichen. Wartet, meine Brüder und Schwestern, bis dieses riesige, strotzende Monument ihrer Selbstherrlichkeit in Flammen steht, bis es schließlich zusammenbricht. Wenn der Wolkenkratzer des amerikanischen Zirkels Ost nicht mehr als Schutt und Asche ist, wenn Blut und Stahl vom Himmel regnen, dann müsst ihr losschlagen! Achtet auf sein Zeichen! Hört ihr! Achtet auf sein Zeichen!«

Maddox wandte sich mir zu. »Ich hab genug gehört, und du?«

Beiläufig nickte ich, den Blick nicht von Creepy nehmend. Seine Worte waren wie Gift und brannten sich beißend in mich hinein. Es war größer, als ich angenommen hatte. Viel größer.

Wir hatten Glück, dass uns auf dem Weg aus der Halle niemand bemerkte. Vor dem Notausgang stoppten wir und atmeten eine Minute durch. Ich stemmte die Hände in die Hüften, blickte mit verlorenem Blick in den schwarzen Nachthimmel.

»Ich hätte nicht geglaubt, dass die Gerüchte wahr sind.«

Maddox lächelte mild.

»Kennst du Nikolais anderen Beinamen? Früher wurde er auch der Verführer genannt. Jetzt weißt du warum«, erklärte Maddox mit einer Kopfbewegung in das Innere der Halle.

Ich nickte wortlos.

Nach einer Weile sagte ich: »Creepy meinte, dass überall im Land solche Veranstaltungen stattfinden. Er hat es in kürzester Zeit geschafft, eine Armee aufzustellen, und wenn die Zentrale des Zirkels brennt, dann ...«

»... hat er eine verdammte Hexenjagd losgetreten«, beendete er meinen Satz.

Ich fuhr mir übers Gesicht, als wolle ich den Gedanken aus meinem Verstand herauspressen. Von überall her waren Dämonen im Anmarsch, nur mit dem einen Ziel: Den Tod der Hexen.

Kurz überlegte ich, wie ich das Gesehene formulieren sollte. Dann zog ich mein Mobiltelefon aus der Tasche. Mir war klar, sollte ich die Worte aussprechen, dann würden sie von einem Gedanken zur schrecklichen Realität werden. Ich wählte direkt de la Crox an.

»Guten Morgen, Miss Ashcroft«, antwortete sie sichtlich im Stress. Anscheinend war sie nicht allein, wenn sie mich so ansprach.

»Madame, wir haben unseren Tipp überprüft und ...«

»Mir ist alles bekannt: im Garden, hier, überall ... Ich weiß! Danke für den Hinweis«, unterbrach sie mich.

Anscheinend war ich nicht die Einzige, die Meldung bei ihr gemacht hatte.

»Überall im Land scheint es solche Veranstaltungen zu geben«, fuhr sie fort. »Wir verstärken alle Abwehrzauber, ziehen unsere Kräfte hier in Manhattan zusammen. Ich möchte, dass Sie sich nun ausruhen.«

Etwas verdutzt brauchte ich einen Moment, bis ihre Worte meinen Geist erreichten.

»Ich soll Feierabend machen?«, vergewisserte ich mich.

»Ja. Es wird Krieg geben, Miss Ashcroft. Der Tag bricht bald an, es gibt nichts mehr für Sie zu tun. In den letzten Stunden hat es keine Aktivität mehr gegeben.« Sie seufzte in den Hörer. Ein gespanntes, nervöses Geräusch. »Es ist die Ruhe vor dem Sturm, und wenn dieser losbricht, möchte ich, dass Sie ausgeruht sind.«

Dann klickte es am anderen Ende. Ich ließ mein Handy sinken.

»Ich soll ...«

»Habe alles mit angehört«, sagte Maddox mit tiefer Stimme. »Sie hat recht, du musst dich ausruhen.«

Er nahm mich in den Arm, führte mich in Richtung meines Wagens. Ich war erschöpft. Es tat gut, sich beim Gehen an seiner Schulter anzulehnen. Unter anderen Umständen hätte ich es noch mehr genossen. Doch leider lagen die Dinge etwas anders. Mein Verstand arbeitete unaufhörlich und wollte einfach nicht zur Ruhe kommen.

Die haushohen Laternen warfen ihr orangefarbenes Licht auf den Asphalt des Parkhauses. Nur wenige Autos standen hier und bald war das Empire State Building zu erkennen, welches sich ruhig in das Panorama schmiegte.

»Wenn es wirklich losbricht, dann musst du fit sein.« Er nahm mich ein wenig fester in den Arm. Sofort fühlte ich mich wohl und lehnte meinen Kopf an seine Brust. Seine Lippen kamen nahe an mich heran. »Immerhin könnte ich mir das nie verzeihen, wenn dir etwas ...«

Ich stoppte, ohne dass ich es wollte. Irgendetwas hinderte mich daran weiterzugehen.

»Was ist los?«, fragte Maddox und hielt im nächsten Moment meine Hand fester.

»Ich weiß es nicht, irgendwie ...«

Doch schon wieder versiegten meine Worte im Nichts. Ich fühlte eine Schwere auf mir lasten, als hätte ich tagelang nicht geschlafen. Gleichzeitig wollte ich nichts anderes, als mich umdrehen. Mein Blick glitt zu dem Parkplatz, den wir beinahe verlassen hatten und wieder beschlich mich dieses ungute Gefühl von Hilflosigkeit, das ich so sehr hasste. Mein Körper schien meinem Geist nicht mehr zu gehorchen und meine Schritte wurden jetzt bleiern und schienen nur unter größter Anstrengung möglich. Auch meine Gedanken waren nicht mehr die meinen. Es war, als versuchte irgendwer in meinen Geist einzudringen, ihm Befehle aufzuzwingen, zu kontrollieren. Auf einem Autodach, keine fünfzig Meter vor uns, erkannte ich den Ursprung dieser Hexerei: Nikolai!

Ausdruckslos und mit herabhängenden Armen wehte sein weißes Hemd im Wind, was sein Gesicht noch blasser wirken ließ. Es war das Antlitz eines Jünglings, welches ich schon auf der Brücke und auf der Fotografie gesehen hatte. Als würden seine Blicke auf mir brennen, entfachten sie ein Feuer in meinem Geist. Ich ertappte mich dabei, wie mein Verstand mir einen Streich spielte und ich wieder mit ihm allein auf der Brücke war. Schritt für Schritt wurde ich zu ihm gezogen.

Sofort erkannte Maddox die Situation. Feurig war sein Blick, als er sein Gewehr durchlud und ohne auch nur eine Sekunde zu verlieren, auf den Dämon zuschritt. Die ersten Schüsse krachten bereits aus dem Lauf. Anscheinend störte dies seine Konzentration. Er musste hinter dem Wagen in Deckung gehen. Sofort fühlte ich mich frei, als wäre eine riesige Last von meinen Schultern abgefallen. Doch gerade, als ich ebenfalls auf den Dämon zusprinten wollte, packte mich erneut ein Zauber. Dieser war leichter, nicht so bestimmend und doch allzu bekannt. Mit der Maskerade eines Lächelns konnte ich im Augenwinkel den glatzköpfigen Großmagier erkennen. Es war ein Hinterhalt!

Maddox kämpfte sich wie ein Soldat von Wagen zu Wagen vor, immer wieder feuernd, um Nikolai in Schach zu halten. Doch so bekam er nicht mit, was sich gerade bei mir abspielte.

»So sieht man sich wieder«, zischte der Magier, den Mund kaum geöffnet. Seine Schulter war dick verbunden und er hielt die Hände wie ein Marionettenspieler. Sofort waren meine Arme und Beine wie an Seilen und wurden auseinandergestreckt.

Innerlich seufzte ich, dann flackerte Wut bei mir auf, die sich innerhalb von Sekunden in rasenden Zorn verwandelte. Er trat näher an mich heran. Ich ließ ihn diesen Fehler nur allzu gern begehen.

»Bald werdet ihr Hexen am Boden liegen, ihr werdet kriechen vor uns ...«

»Ja, ist klar«, lächelte ich lakonisch.

Der Asphalt knirschte unter seinen Schritten. »Ihr seid nicht mehr Wert, als der Dreck unter meinen Fingernägeln.«

»Hab schon verstanden. Wir sind blöd, ihr alle ganz toll. Na, wenn du meinst.«

Nur noch zehn Meter.

»Ihr werdet Sklaven unseres Herrschers sein!«, zischte es.

»Ja, ja, in deinen Träumen, Mr Clean.«

Noch fünf Meter.

»Ihr werdet ...«

Das war genug. Ich riss mich aus seinem Fixierzauber, drehte mich auf dem Absatz und verwandelte das Feuer in mir zu einer riesigen Flammenbrunst, die ich auf ihn einschlug.

Er hatte nicht einmal Zeit, um zu schreien, als er an ein Auto geschleudert wurde und verglühte. Das schrille Kreischen der Alarmanlage wurde über den ganzen Parkplatz getragen. Nur für einen Moment war ich abgelenkt. Dann spürte ich ein Wispern an meinen Ohren.

»Du bist also Isabella?«

Mit stark russischem Akzent kitzelten Nikolais Lippen an meinem Ohr. Ein wohliger Duft umwehte ihn, und als ich mich umdrehte, konnte ich in tiefblaue Augen blicken, die ebenso undurchdringlich waren, wie die von Maddox.

»Isabelle. Ohne A«, raunte ich, bereits dabei, ein weiteres Brennen in mir zu entzünden. Meine Hände glühten, bis sie schließlich Feuer fingen. Doch aus irgendeinem Grund ließ ich die tödlichen Flammen nicht los. Die Art, wie er sprach – so ruhig, so überlegt, war einfach zu hypnotisch, als dass ich ihn töten wollte. Zumindest noch nicht.

»Verzeih mir, Isabelle.«

Mit dem Finger strich er über meine Wange. Eigentlich wollte ich mich losreißen, doch ich ließ ihn gewähren. Meine Augen schlossen sich für einen Moment und ich genoss die Berührung aus einem Grund, den ich mir nicht erklären konnte. Meine Lider begannen zu flattern.

»Eure Familie war schon immer etwas Besonderes. Genau, wie du es bist.« Ich spürte, dass er mich musterte, mir über den Arm strich, sogar durch das Feuer, das von meinen Händen emporstieg. Es waren Dutzende Emotionen, die aus seinem Antlitz sprachen. Ein Hauch von Verwunderung traf auf Neugier. Dazu spielte Begierde mit kühler Überlegenheit. Seine Berührungen waren zärtlich, so sanft, als würde ein Wind über meine Haut streicheln.

»Was meinst du damit?«, zischte ich geradeheraus.

Er kam nun so nahe an mein Ohr, dass ich die Wärme, nein, die Hitze seiner Haut spüren konnte.

»Hat sie es dir nicht gesagt? Eure große Chefin? In dir schlummert etwas. Etwas Großes.« Mit dem Zeigefinger strich er meine Wange entlang, bis er schließlich meinen Hals erreichte, dann mein Dekolleté. »Es muss nur erweckt werden, liebe Isabelle.«

Unsere Blicke trafen sich für wenige Sekunden. Ich wünschte, dass er weitermachen würde, mich hier und jetzt nehmen würde. Ein Kribbeln zog sich von der Stelle, an der er mich berührt hatte, runter zu meinen Beinen. Mein Gesicht ging automatisch in seine Richtung.

Dann duckte sich Nikolai blitzschnell, als hätte er die herannahenden Schüsse gespürt. Seine Hand legte sich um meinen Hals. Sofort fiel mir das Atmen schwer. In geduckter Position schoss Maddox heran, dass Gewehr im Anschlag.

»Hallo, Maddox«, brummte Nikolai. Diese tiefe Stimme passte einfach nicht zu dem weichen Gesicht und war trotzdem wohlklingend.

»Guten Morgen, Nikolai.«

Die Begrüßung klang vertraut, was mich verdutzte.

»Wie wäre es, wenn du Isabelle einfach gehen lässt und wir beide regeln das hier?«

»Es tut mir leid, aber das kann ich nicht. Natürlich weißt du das bereits.«

Der Druck auf meine Kehle war kaum merklich, trotzdem wusste ich, dass er im nächsten Moment zudrücken und mir das Genick brechen könnte.

»Wieso bist du hier, Nikolai?«, wollte Maddox gereizt wissen, während er auf den Dämon zielte.

»Das hat verschiedene Gründe. Zu allererst, möchte ich Macht. Viel Macht. Dann meinen Vater beeindrucken.«

Er machte eine Kunstpause, vollführte eine Handbewegung und küsste mich auf die Wange. Seine Lippen brannten auf meiner Haut.

»Schließlich möchte ich auch deinen Tod sehen.«

Maddox lachte auf. »Natürlich möchtest du das. Hattest schon immer mit deinem Daddy ein Problem, oder?«

»Nicht ich bin derjenige, der Probleme mit ihm hat, Maddox. Ich will deinen Tod, weil du ein Juwel besitzt, welches ich einmal mein Eigen nennen durfte.«

Ich konnte die Worte nicht glauben. Doch viel Zeit darüber nachzudenken, wurde mir nicht zugestanden. Im nächsten Moment drangen Stimmen durch die Nacht. Anscheinend war die Versammlung zu Ende. Bald schon würde das Parkhaus vor Halbwesen nur so wimmeln.

Ich erhob die Arme. Ein Gespräch, das mehr Fragen aufwarf, als beantwortete, war mir einfach zu blöd.

»Ähh, Jungs, vielleicht sollten wir ...«

Nikolais Griff wurde fester.

»Sei still, Isabella«, befahl er mit tiefer Stimme.

»Ohne A!«, zischte ich.

Mit zusammengeballten Fäusten hörte ich tief in mich hinein und beschwor einen dichten Nebel, der sich innerhalb von wenigen Augenaufschlägen um uns legte. Dann rammte ich Nikolai den spitzen Absatz meiner Schuhe auf den Fuß und hetzte zu Maddox. Ich konnte seinen Arm spüren, als er in die dunkle Wolke schoss. Er ballerte sein ganzes Magazin leer. Doch als der Nebel sich verflüchtige, war nichts mehr von Nikolai zu sehen.

Hastig drehte ich mich um.

»Jetzt dürften wir die Aufmerksamkeit der Menge haben«, sagte ich.

»Zeit zu gehen«, bestätigte Maddox.

***

Als ich über die mittlerweile leeren Straßen raste, arbeitete mein Verstand auf Hochtouren. In kurzen Sätzen hatte ich alles dem Zirkel berichtet, was Madame de la Crox mit einem merkwürdigen Seufzer beantwortete und schließlich ihren Befehl wiederholte.

Maddox blickte gedankenverloren in die Stadt hinein.

»Es sieht schlimm aus, oder?«, versuchte ich schließlich ein Gespräch zu beginnen. Er raunte nur gegen die Scheibe. Zeit für eine offensivere Methode.

»Es schien, als würdest du ihn kennen?«

»Hatte ein paar Mal mit ihm zu tun«, sagte er kurz.

»Was soll das bedeuten? Er ist vor kurzem erst aus seinem ewigen Schlaf erwacht, davor hatte er in Russland gewütet. Woher willst du ihn kennen?«

Endlich blickte er mich an. In seinen Augen lag Traurigkeit, die sofort auf mich übersprang. Intensiv und allmächtig schien sie aus jeder Faser seines Körpers zu sprechen. »Es tut mir leid, ich meinte es metaphorisch. Habe mich viel mit ihm und seinen Methoden beschäftigt.«

Obwohl ich mir sicher war, dass noch eine ganze Menge mehr hinter der Geschichte steckte, beließ ich es für den Moment dabei.

»Wo soll ich dich absetzten?«, wollte ich schließlich in der Innenstadt wissen.

»Ich werde bis Sonnenaufgang bei dir bleiben«, brummte er mit einer Endgültigkeit in der Stimme, die mir das Blut in den Adern gefrieren ließ. War das sein Ernst?

»Sorry, Maddox, aber normalerweise kämpfe ich allein gegen Dämonen. Glaub mir, ich kann ganz gut auf mich aufpassen.«

»Das habe ich nie bezweifelt. Aber Nikolai hat dich mit einem ganz besonderen Namen angesprochen.«

Das war genug. Ich vollführte eine Vollbremsung. Die Reifen quietschten schrill, als mein Benz sich einmal um die eigene Achse drehte und schließlich zum Stehen kam.

»Jetzt ist Schluss mit den Andeutungen«, giftete ich ihm entgegen. »Er hat mich Isabella genannt, ja und? Das passiert mir ständig, es war ein Versehen!«

Maddox schüttelte mit dem Kopf, seinen Blick zog es ein weiteres Mal gen Himmel. »Nikolai macht keine Fehler. Nichts, was er tut, entbehrt einem Plan.« Maddox fuhr sich über seine Lippen, als müsste er sie anfeuchten, damit die Worte über sie drangen. »Die Hexe, die ihn damals während der Krim-Kriege überwältigt hatte, hieß Isabella. Er muss in dir so etwas wie ihre Nachfolgerin gesehen haben.«

Bedächtig legte er seine Hand auf meine. Sie war kalt, eiskalt. Dann sah er mir tief in die Augen, genauso wie es Nikolai vor wenigen Minuten getan hatte.

»Lass mich zumindest bis Sonnenaufgang bei dir sein. Dann fühle ich mich sicherer. In der Zeit können wir darüber reden.«

Schweigend vergingen einige Sekunden.

»Gut«, stimmte ich schließlich zu. »Bis Sonnenaufgang.«

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