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Kapitel 6
ОглавлениеEntsetzt wich ich zurück und stieß mir dabei gehörig den Ellenbogen an der halb geöffneten Wagentür. Ich starrte in weit aufgerissene, leblose Augen, die mich meinen Schmerz auf der Stelle vergessen ließen. Vor mir auf dem Boden des Rettungswagens lag eine Frau auf dem Rücken, den Kopf nach hinten gestreckt inmitten einer riesigen Lache aus Blut, das aus einer weit aufklaffenden Wunde an ihrer Kehle sickerte. Mit der Hand vor den Mund gepresst, konnte ich mit Müh und Not ein Würgen unterdrücken und wandte sofort meinen Blick ab. Für einen kurzen Augenblick schloss ich die Augen und zwang mich, gleichmäßig zu atmen. Dann rannte ich so schnell mich meine Beine trugen zurück zu Nick und den anderen. Unterwegs knickte ich im Halbdunkel ein paar Mal auf dem unwegsamen Gelände um und geriet ins Straucheln. Dabei rempelte ich den einen oder anderen Biikebesucher an, der mir einige verärgerte Worte hinterherrief, doch das alles nahm ich kaum wahr. Nach wie vor schwebte vor meinem inneren Auge der grauenhafte Anblick der Frau in der Blutlache. Wie ferngesteuert erreichte ich schließlich unsere kleine Gesellschaft. Doktor Luhrmaier nebst Begleitung hatte sich unserer Gruppe in der Zwischenzeit angeschlossen.
»Anna! Sind sie hinter dir her?«, scherzte Jan.
»Was ist passiert? Du bist ja schneeweiß.« Nick unterzog mich einem kritischen Blick.
»Im Rettungswagen liegt eine Tote!« Ich japste vollkommen außer Atem und mit staubtrockener Kehle nach Luft.
»Bist du ganz sicher?«, hakte Tina vorsichtig nach.
»Absolut sicher. Ich glaube, es handelt sich um ein Verbrechen«, betonte ich und sprach leise, um möglichst kein Aufsehen bei den umstehenden Biikebesuchern auszulösen.
»Dann sollten wir keine Zeit verlieren. Komm, Uwe! Es wäre sinnvoll, wenn Sie, Herr Doktor Luhrmaier, mitkommen könnten«, forderte Nick die beiden Männer auf.
»Selbstverständlich!«, kam Luhrmaier Nicks Bitte pflichtbewusst nach und drückte daraufhin seiner verdutzten Begleiterin seinen Glühweinbecher in die Hand.
»Ich komme auch mit.«
»Willst du das wirklich, Anna?« Uwe runzelte die Stirn.
»Ja, schließlich weiß ich, wo sie liegt.« Dann wandte ich mich an Britta. »Kannst du dich bitte um Christopher kümmern? Ich weiß nicht, wie lange es dauert.«
»Kein Problem«, gab sie mit verständnisvoller Miene zurück.
»Ich zeige den beiden bloß die Stelle, dann komme ich gleich wieder«, versprach ich und versuchte, die drei Männer einzuholen, die sich längst auf den Weg gemacht hatten.
Bereits von Weitem konnte ich schemenhaft mehrere Personen erkennen, die am Rettungswagen standen und aufgeregt gestikulierten. Erst, als wir unmittelbar vor ihnen standen, erkannten wir, dass es sich um drei Jugendliche in Feuerwehruniformen handelte. Meiner Einschätzung nach waren sie nicht älter als 16 Jahre.
»Wir müssen die Bullen verständigen«, schlug einer von ihnen gerade vor, als sie uns bemerkten.
»Hier seid ihr! Wir suchen überall nach euch«, erklang eine tiefe Stimme, und wie aus dem Nichts tauchte ein Mann neben den Jungen auf. »Paul, du sollst dich sofort bei deiner Mutter melden.«
»Da drin liegt eine tote Frau!«, stammelte der Junge mit brüchiger Stimme. Sein ohnehin blasses Gesicht wirkte im Schein der Taschenlampe wie das eines Gespenstes. Er schien der jüngste und zierlichste der drei Jungen zu sein. Seine Uniform war ihm etwas zu groß.
»Damit macht man keine Witze, Junge«, entgegnete der Mann.
»Aber er sagt die Wahrheit! Da ist überall Blut«, verteidigte ihn einer der Kumpels aufgeregt.
»Uwe! Du kommst wie gerufen. Die Jungs behaupten allen Ernstes, im Rettungswagen läge ein Toter. Wenn du mich fragst, gucken die zu viel Fernsehen.«
»Deshalb sind wir hier. Ihr Jungs bleibt, wo ihr seid. Barne, kümmerst du dich bitte um die drei?«, bat Uwe den Feuerwehrmann, bevor er zielstrebig auf den hinteren Teil des Rettungswagens zusteuerte.
Nick und Doktor Luhrmaier folgten ihm, während ich mich zu den Jugendlichen stellte.
»Hallo, alles okay mit euch?«, fragte ich.
»Ja«, bestätigte einer von ihnen, worauf die anderen lediglich ein zustimmendes Kopfnicken von sich gaben.
»Ich glaube, die Jungen benötigen psychologische Hilfe, sie stehen sicherlich unter Schock«, wandte ich mich dem Mann zu, mit dem Uwe eben gesprochen hatte.
»Ich kümmere mich um sie, machen Sie sich keine Gedanken. Ich nehme sie mit zu den Eltern. Ich will nur noch auf Uwe warten, vielleicht will er sie noch etwas fragen«, erwiderte er. »Was machen Sie hier?«
»Ich habe die Tote entdeckt, als ich meine Hand versorgen lassen wollte«, erklärte ich.
Er sah zu meiner Hand. »Verbrannt?« Ich nickte. »Für solche Fälle haben wir etwas dabei. Melden Sie sich bei den Einsatzwagen.«
»Danke, ich glaube, bis nach Hause geht es auch so.«
»Hm, müssen Sie wissen«, brummte er.
In diesem Moment kam Uwe zurück. »Oh, Mann! Das ist kein angenehmer Anblick.« Er schüttelte sich angewidert. »Habt ihr in der Nähe etwas beobachtet oder gehört? Ist jemand weggelaufen?«, wollte er von den drei Jugendlichen wissen.
»Nein, wir sind eben erst gekommen. Da war niemand. Ist sowieso viel zu dunkel.«
»Was wolltet ihr hier hinten?«, fuhr Uwe fort, erhielt jedoch keine Antwort.
Einer der Jungen kaute unaufhaltsam auf seinen Fingernägeln herum, während ein anderer die Hände tief in den Taschen seiner Hose vergraben auf den Zehenspitzen auf und ab wippte. Ob vor Kälte oder Nervosität, war nicht eindeutig zuzuordnen.
»Los, sagt schon. Niemand wird euch den Kopf abreißen«, forderte der Feuerwehrmann die drei auf.
Letztlich fasste sich der Jüngste ein Herz. »Eine rauchen«, gab er kleinlaut zu, ohne aufzusehen.
»So so!«, erwiderte Uwe.
»Bitte sagen Sie unseren Eltern nichts.« Alle drei schauten bekümmert drein.
»Werde ich nicht. Trotzdem solltet ihr damit besser erst gar nicht anfangen«, stellte Uwe klar.
»Schlimme Sache. Wisst ihr, wer die Tote ist?«, erkundigte sich Barne.
»Nein, aber das herauszufinden, dürfte kein Problem darstellen, da sie im Dienst war«, gab Uwe zurück.
»Soll ich nachsehen, ich kenne sie bestimmt«, schlug Barne vor, doch Nick hielt ihn zurück.
»Das wird nicht nötig sein, danke. Je weniger brauchbare Spuren vernichtet werden, desto besser. Ich habe einen Streifenwagen angefordert, er müsste jeden Augenblick eintreffen. Ich habe den Kollegen ausdrücklich gesagt, sie sollen von der anderen Seite kommen. Das ist unauffälliger.«
»Kann ich zu meiner Mutter?«, erklang Pauls schüchterne Stimme.
»Ja, klar. Barne, bist du so nett und begleitest die Jungen? Falls wir weitere Fragen haben, melden wir uns direkt. Danke für deine Hilfe.«
»Keine Ursache.«
»Ach, und Barne? Es wäre gut, wenn das alles vorerst unter uns bleibt. Ich will unbedingt ein allgemeines Chaos vermeiden. Das gilt im Übrigen auch für euch! Wenn nur ein Foto irgendwo im Netz auftaucht, gibt es mächtig Ärger! Haben wir uns verstanden?« Uwe deutete auf die Jungen, die eingeschüchtert nickten. »Dann ist ja gut.«
Der Feuerwehrmann tippte zur Bestätigung an den Schirm seiner Mütze und gab den Jugendlichen ein Zeichen, ihm zu folgen.
»Ich hoffe, die Nachricht hat nicht längst die Runde gemacht, sonst ist hier bald der Teufel los. Brauchbare Spuren kannst du dann endgültig vergessen«, machte Nick seine Bedenken mit einem Stirnrunzeln deutlich. »Soll ich Staatsanwalt Achtermann informieren oder willst du das übernehmen?«
»Ich wäre dir außerordentlich dankbar, wenn du das erledigen könntest. Und wenn du gerade dabei bist, gib gleich der Kriminaltechnik Bescheid. Aber was rede ich, du weißt, was zu tun ist.« Uwe winkte ab und streckte vorsichtig den Rücken durch, was ihm augenscheinlich starke Schmerzen bereitete, denn er verzog gequält das Gesicht. Ein Streifenwagen holperte langsam den Feldweg entlang und hielt unmittelbar neben dem Rettungswagen. Das Martinshorn und das Blaulicht ließen die Beamten ausgeschaltet, um keine Aufmerksamkeit zu erregen. Zwei Polizisten in Uniform stiegen aus und kamen auf uns zu. Während sie mit Nick und Uwe sprachen, trat ich von einem Fuß auf den anderen, da mich die Kälte innerlich wie äußerlich mehr und mehr vereinnahmte. Meine Zehen waren mittlerweile taub geworden. Momentan kam ich mir reichlich überflüssig vor und fragte mich, ob meine Anwesenheit überhaupt notwendig war. Nick telefonierte, und ich beschloss zu warten, bis Nick das Gespräch beendet hatte. Solange wanderte ich ein Stück auf und ab und beobachtete die Beamten bei der Arbeit. Ich konnte sehen, wie Doktor Luhrmaier sich indes über die Tote beugte, um sie zu begutachten. Man musste wohl dafür geboren sein und über ein verdammt starkes Nervenkostüm verfügen, um diesen Job machen zu können, überlegte ich. Jetzt kehrte Nick seinen Kollegen den Rücken und kam – das Handy am Ohr – auf mich zu.
»Alles okay mit dir?«, fragte er, nachdem er aufgelegt hatte, und streichelte mir mit dem Handrücken behutsam über meine eisige Wange.
»Bis auf die Tatsache, dass ich mich zunehmend in einen Eisblock verwandle, geht es mir gut.« Seine dunklen Augen unterzogen mich einem prüfenden Blick. »Ehrlich, Nick. Es geht schon wieder. Braucht ihr mich noch? Sonst würde ich gerne zu den anderen zurückgehen. Christopher ist bestimmt schon unruhig.«
»Geh ruhig.« Nick küsste mich auf die Stirn. Am liebsten hätte ich mit ihm gemeinsam den Heimweg angetreten, doch momentan war er unabkömmlich. Das ist der Preis dafür, mit einem Polizisten verheiratet zu sein, fielen mir die Worte meiner Mutter ein, wenn ich mich ab und zu in ihrer Gegenwart bedauernd über Nicks Abwesenheit geäußert hatte.
»Am besten nehmen euch Britta und Jan mit, dann kann ich den Wagen behalten. Es wird eine Weile dauern, bis wir fertig sind.«
»Das machen sie bestimmt. Bis dann!«
Mit hochgezogenen Schultern, die Arme zum Schutz gegen die Kälte um meinen Körper geschlungen, machte ich mich auf den Weg zu Britta und den anderen. Um das prasselnde Feuer, das ein ganzes Stück heruntergebrannt war, standen Dutzende Besucher. Sie feierten ausgelassen und fröhlich und ahnten nicht, was keine 100 Meter von ihnen entfernt in der kalten Dunkelheit geschehen war.
»Anna! Da bist du ja!«, rief mir Britta entgegen. »Alles in Ordnung? Wisst ihr, wer die Tote ist?«, fragte sie nun wesentlich leiser.
»Sie gehört zum Team des Rettungswagens, Genaueres weiß ich nicht«, erklärte ich und nahm ihr Christopher ab, der auf ihrem Arm eingeschlafen war.
»Ist sie ermordet worden?«
»Wie gesagt, Tina, ich kenne keine Details, aber alles deutet auf ein Gewaltverbrechen hin.«
»Das ist schrecklich«, bestätigte Doktor Luhrmaiers charmante Begleitung Ellen Seiler.
Für einen Moment standen wir ratlos und schweigend da und starrten ins lodernde Feuer, dessen züngelnde Flammen nach allem gierig griffen, was in ihre Nähe kam.
»Traurig, dass der Abend so endet«, befand Britta. »Ich nehme an, Nick wird eine Weile hier bleiben müssen. Aber du kommst mit zum Essen, oder?«
»Ehrlich gesagt, ist mir der Appetit vergangen. Ich wäre euch dankbar, wenn ihr mich und Christopher nach Hause bringen könntet. Nick behält den Wagen.«
»Natürlich bringen wir euch nach Hause«, bot Jan prompt an.
»Du musst etwas essen, Anna. Ich glaube nicht, dass es gut ist, wenn du allein zu Hause sitzt und vor dich hin grübelst«, hielt Britta dagegen.
»Na gut, aber lange bleiben wir nicht. Christopher schläft, und ich bin vollkommen durchgefroren.«
»Dann lasst uns gleich aufbrechen. Ich bringe nur eben die leeren Becher weg.« Mit diesen Worten machte sich Jan auf den Weg zum Getränkestand. Erste Schneeflocken fielen in Zeitlupe vom Himmel.