Читать книгу Syltmond - Sibylle Narberhaus - Страница 5
Kapitel 1
ОглавлениеDer Bahnhof von Niebüll lag in dichten Nebel gehüllt, der sämtliche Geräusche der Umgebung zu verschlucken schien. Es war Ende Februar, aber selbst der nahende meteorologische Frühlingsanfang schien in Anbetracht der Kälte in weite Ferne gerückt. Der Winter hatte das Land mit seinen eisigen Krallen seit Wochen fest im Griff. Über Nacht hatte der strenge Frost die kahlen Bäume und Sträucher mit Raureif überzogen. Selbst um den kleinsten Zweig lag ein filigraner weißer Stachelpanzer. Lediglich eine Handvoll Fahrgäste wartete auf dem beinahe verwaist anmutenden Bahnsteig auf den nächsten Zug. Wenige Stunden zuvor hatte es an diesem Ort von Pendlern, die mit der Bahn zu ihrem Arbeitsplatz auf die Insel fuhren, nur so gewimmelt. Er griff in die rechte Jackentasche, und seine Finger tasteten nach der Zigarettenschachtel. Obwohl er vor einem Monat mit dem Rauchen aufgehört hatte, war dieses Verhaltensmuster nach wie vor tief in ihm verankert. Doch auch diese Angewohnheit würde er im Laufe der Zeit ablegen. Schritt für Schritt würde er ein neues Leben beginnen und die Vergangenheit hinter sich lassen – so gut es eben ging. Einen konkreten Plan, wie sich seine nahe Zukunft gestalten sollte, hatte er bislang nicht. Eher eine vage Vorstellung, die von einigen nicht unerheblichen Faktoren abhing, die es im Vorfeld zu klären gab. Nachdenklich ließ er seinen Blick über den nahezu menschenleeren Bahnsteig schweifen, bis seine Augen auf einer jungen Frau hängen blieben, die wenige Meter von ihm entfernt ihre Aufmerksamkeit vollends auf das Smartphone in ihrer Hand gerichtet hatte. Bekleidet war sie mit einer gesteppten Winterjacke und einem dicken Wollschal, den sie fest um den Hals gewickelt hatte. Sie schien zu frieren, denn sie trat mit hochgezogenen Schultern von einem Fuß auf den anderen. Plötzlich bemerkte sie, dass sie beobachtet wurde, denn sie drehte ihren Kopf direkt in seine Richtung und sah zu ihm herüber. Ihre dunklen Augen hielten seinem Blick für einige Sekunden stand, und sie schenkte ihm ein zaghaftes Lächeln, bevor sie ihre Aufmerksamkeit erneut ihrem Smartphone widmete. Sie besaß ein ausgesprochen hübsches Gesicht und langes Haar, das sich durch die Feuchtigkeit in der Luft zu Locken kringelte. Er konnte sich nicht erinnern, wann er zuletzt mit einer Frau mehr als drei Worte gewechselt hatte, geschweige denn mit einer näher zusammen war. Würde es ihm jemals gelingen, sich ein weiteres Mal ernsthaft auf eine Frau einzulassen? War es überhaupt eine gute Idee, auf die Insel zurückzukehren nach allem, was passiert war? Bei diesem Gedanken spürte er eine eisige Kälte in sich emporkriechen, was nicht allein der Witterung geschuldet war. Umgehend stellte er den Kragen seiner Jacke auf. Erneut schenkte er der jungen Frau neben sich einen verstohlenen Seitenblick. Sollte er sie ansprechen? Ganz unverfänglich, nur ein belangloses Gespräch unter Reisenden. Ehe er seinen Gedanken nachhängen konnte, tauchte wie aus dem Nichts der einfahrende Zug auf und kam mit quietschenden Bremsen zum Stehen. Mit einem Zischen öffneten sich die Türen automatisch. Er schwang sich seinen Seesack über die Schulter und stieg ein. Der Zug war kaum besetzt, sodass er mühelos einen freien Sitzplatz fand. Er stellte sein Gepäck auf den leeren Platz ihm gegenüber ab und ließ sich schließlich entgegen der Fahrtrichtung in seinen Sitz sinken. Draußen auf dem Bahnsteig sah er, wie sich zwei Frauen voneinander verabschiedeten. Eine der beiden hatte einen Koffer bei sich, während die andere außer einer Handtasche kein Gepäck mit sich führte. Sie winkte der anderen nach, die nunmehr den bereitstehenden Zug bestieg. Für die nächsten Minuten schloss er die Augen. Ein seltsames Gefühl überkam ihn, als er sich mit jedem Meter Schiene mehr und mehr seiner Heimat näherte. Er konnte die Reaktionen einiger bestimmter Personen auf sein Auftauchen kaum erwarten. Niemand wusste von seiner Rückkehr, die er bewusst für sich behalten hatte, denn es gab noch eine offene Rechnung zu begleichen. Diese Vorstellung entlockte ihm ein kurzes Lächeln. Dann lehnte er sich in seinem Sitz zurück, schloss erneut die Augen und ließ seine Gedanken vom gleichmäßigen Schaukeln des Zuges treiben.