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Kapitel 3

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Das letzte Stück von der Bushaltestelle bis zu dem Haus ging er zu Fuß. Er brauchte die Bewegung, außerdem konnte er unterwegs seine Gedanken ordnen. Der Nebel hielt sich nach wie vor zäh, sodass man keine 50 Meter weit sehen konnte, den Weg aber hätte er selbst mit verbundenen Augen gefunden. Als er sein Ziel erreicht hatte, zögerte er kurz und sah sich um. Ringsherum war niemand zu erblicken. Dann atmete er tief durch, straffte die Schultern und drückte schließlich beherzt die Türklinke nach unten. Wie eh und je war die Haustür nicht verschlossen, sondern ließ sich ohne Weiteres öffnen. Drinnen roch es genauso wie damals. Auch die Einrichtung hatte sich kaum verändert, als wäre die Zeit stehen geblieben. Die alten Dielen unter seinen Füßen knarrten bei jedem seiner Schritte.

»Hallo? Jemand zu Hause?«, rief er in die Stille, erhielt jedoch keine Antwort. Es herrschte absolute Ruhe bis auf das gleichmäßige Geräusch der alten Standuhr, deren Pendel unermüdlich im Takt schlug. An der Garderobe hing eine dunkelgrüne Jacke, der man deutlich ansehen konnte, dass sie ihrem Besitzer seit langer Zeit ein treuer Begleiter sein musste. Er ging die Treppe hinauf. Vor einer verschlossenen Zimmertür blieb er stehen, dann öffnete er sie. Die Luft in dem Raum roch muffig, als wäre seit ewigen Zeiten nicht gelüftet worden. Sein Blick fiel zunächst auf das große Bett, auf dem eine glatt gezogene Tagesdecke lag, als hätte heute Morgen jemand das Bett frisch gemacht. Er sah sich weiter in dem Zimmer um und hatte das Gefühl, als sei die Zeit stehen geblieben. Bilder tauchten vor seinem inneren Auge auf, von denen er sich gewünscht hätte, sie für immer aus seiner Erinnerung zu löschen. Ein Geräusch aus dem Erdgeschoss ließ ihn aufhorchen. Es waren Schritte, gefolgt von einer leisen weiblichen Stimme. Als er sie erkannte, entspannte er sich und machte sich auf den Weg nach unten. Auf einer der letzten Stufen blieb er abrupt stehen, denn am Fuße der Treppe stand ein imposanter Schäferhund und fixierte ihn neugierig.

»Na, wer bist du denn?«, sprach er das Tier an.

»Isco, komm her! Futter!«, hörte er zeitgleich aus der Küche rufen. Gleich darauf näherten sich abermals Schritte. »Da steckst du, was …« Augenblicklich blieb sie wie angewurzelt stehen. »Sönke!«, hauchte sie und fasste sich mit der Hand an den Hals.

Er nickte. Zögerlich näherte sie sich ihm und betrachtete ihn, als stehe ein Gespenst vor ihr. In ihren Augen standen Tränen. Zaghaft berührte sie ihn am Arm, als müsse sie prüfen, ob nicht alles bloß ein Traum wäre.

»Ich kann es kaum glauben, dass du es wirklich bist.«

»Moin, Mutter. Ja, es ist lange her«, erwiderte er und bewegte sich keinen Zentimeter von der Stelle.

»Ich habe nicht gewusst, dass du heute kommen würdest«, räumte sie ein.

»Das wusste niemand. Ich will nur ein paar Sachen holen, dann bin ich verschwunden«, unterbrach er sie, und sein Ton klang barscher als beabsichtigt.

»Warum willst du wieder gehen?« Verständnislos sah sie ihren Sohn an.

»Ich glaube, es wäre nicht gut, wenn ich bleiben würde.« Er nahm die letzten drei Stufen und stand nun unmittelbar vor ihr. Der Hund schnupperte an seinen Hosenbeinen, während er ihm den Kopf kraulte.

»Sonderbar, er ist Fremden gegenüber sonst nicht so zutraulich.« Im selben Moment, da sie die Worte aussprach, bemerkte sie die unglücklich gewählte Formulierung und versuchte, sie umgehend zu korrigieren. »Ich meine Menschen, die er nicht kennt.«

»Ich verstehe schon. Ein sehr schönes Tier. Hast du ihn schon länger?«

»Seit einem knappen Jahr. Früher hatten wir immer Hunde auf dem Hof, es war an der Zeit.«

»Ich dachte, Rieke hätte eine Tierhaarallergie?« Auf seine Frage erhielt er lediglich ein müdes Achselzucken.

»Bitte bleib, Sönke. Meinetwegen musst du nicht gehen. Falls es mit deinem Vater zu tun haben sollte, brauchst du dir keine Gedanken zu machen.« Er legte fragend seine Stirn in Falten. »Er ist tot.«

»Seit wann?« Die Nachricht überraschte ihn nicht sonderlich, da sein Vater seit Langem gesundheitliche Probleme hatte.

»Seit zwei Monaten. Ich weiß, ich hätte dich informieren müssen, aber ich wusste nicht, wie«, gestand sie.

Seine Miene wirkte wie versteinert. »Da, wo ich herkomme, gibt es sogar Telefon.« Der gleichermaßen zynische wie anklagende Ton in seiner Stimme war unüberhörbar.

»Es tut mir sehr leid, Sönke«, sagte sie leise und senkte schuldbewusst den Kopf. »Dein Vater hat dich sehr geliebt.«

»Seltsame Art, das zu zeigen. Wo ist Ole?«, erkundigte sich Sönke und richtete seinen Blick durch das Fenster nach draußen in die Hofeinfahrt.

»Dein Bruder ist heute früh auf das Festland gefahren, um sich mit einem potenziellen Abnehmer für die Schafwolle zu treffen. Seine Frau begleitet ihn.« Als sie sah, wie ihr Sohn die Augenbrauen nach oben zog, fügte sie erklärend hinzu: »Friederike und er haben im vergangenen Jahr geheiratet.«

»Ich merke, während meiner Abwesenheit hat sich eine Menge verändert. Wie gesagt, ich wollte nur schnell ein paar Sachen von mir abholen, sofern sie nicht längst entsorgt wurden. Dann werde ich euch nicht länger mit meiner Anwesenheit belästigen.«

»Aber Junge, natürlich habe ich all deine Sachen aufgehoben. Bitte, Sönke, gehe nicht gleich wieder weg, es gibt so viel zu sagen«, bat sie ihn und legte ihre Hand auf seinen Unterarm.

»Nicht jetzt, Mutter. Ein anderes Mal vielleicht. Ich brauche Zeit«, entgegnete er, wobei seine Gesichtszüge für den Bruchteil einer Sekunde Milde ausstrahlten, bevor sie abermals zu Stein wurden.

»Dann komm wenigstens heute Abend zum Essen, es gibt Grünkohl so wie früher. Den mochtest du immer gern.«

»Nichts ist mehr wie früher, Mutter.«

»Bitte, Sönke! Mir zuliebe.« Sie sah ihn flehend an und hätte sich am liebsten fest an ihn geklammert.

»Ich kann es nicht versprechen.«

»Wo willst du jetzt hin? Hast du eine Bleibe?«

»Mach dir um mich keine Sorgen, ich komme zurecht«, beruhigte er sie und löste sich von ihr. Er hatte vorhin mit seinem alten Freund Lorenz telefoniert, der ihm eine Unterkunft organisieren wollte. Für die kommende Nacht hatte er sich ein Zimmer in einer günstigen Pension gemietet. Dort kannte man ihn nicht, und niemand stellte unnötige Fragen.

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