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Das Hochhaus am Krähenbach
ОглавлениеHinter dem Forstmeisterhaus sind es nur noch ein paar Schritte, bis der Pflaumenweg in einen schmalen, aber geteerten Feldweg übergeht. Dieser Weg hat keinen richtigen Namen mehr, sondern ist nur noch der Feldweg Nummer 3. Ab hier ist Brommelshausen dann wirklich zu Ende. Für den alten Forstmeister Sägebrecht ist dieser geteerte Feldweg Nummer 3 eine gute Sache, denn er führt direkt zum Brommelshausener Stadtwald und ist praktischerweise genauso breit wie sein Geländewagen. Wer aber keinen Geländewagen besitzt und trotzdem zum Wald will, kann eigentlich auch ganz gut zu Fuß gehen, denn vom Forstmeisterhaus im Pflaumenweg bis zum Waldrand ist es nur ein kleiner Spaziergang durch ein paar Obstwiesen und Getreidefelder. Kurz vor dem Wald überquert man auf einer Brücke mit massivem Holzgeländer einen kleinen Bach, den Krähenbach. Die Bezeichnung „Bach“ ist bei diesem Rinnsal fast übertrieben, denn der Krähenbach ist, vor allem in den trockenen Sommermonaten, höchstens ein Bächlein oder auch nur ein Graben. Kleine Jungs und Mädchen und vielleicht sogar der alte Forstmeister Sägebrecht könnten mit Anlauf leicht darüberspringen, was aber bestimmt keiner machen würde, denn beide Ufer des Krähenbaches sind dicht mit hohen Brennnesseln und Weidengestrüpp bewachsen. Zumindest die Landung auf der anderen Seite des Baches könnte leicht in einem Brennnesselbusch enden und das wäre alles andere als angenehm.
Das Bächlein schlängelt sich mitsamt Brennnesseln und Weidengestrüpp mitten durch ein breites Wiesental, welches den Wald in eine nördliche und eine südliche Hälfte aufteilt. Wie es der winzige Krähenbach bloß geschafft hat, sich so ein großes Flusstal zuzulegen, ist mir schleierhaft, aber das muss ja nicht heißen, dass es dafür keine plausible Antwort gibt. Bei einer mächtigen, allein stehenden Kiefer biegt der Krähenbach dann scharf nach Süden ab und erreicht nach ungefähr zwei Kilometern den Rand des Stadtwaldes. Dort folgt ein weiterer scharfer Knick nach Westen, wo das Bächlein dann am Waldrand entlangplätschert, irgendwann den uns schon bekannten Feldweg Nummer 3 unterquert und schließlich im Zentrum von Brommelshausen in den großen Stadtfluss, nämlich in die Brommel, mündet.
Aber gehen wir zurück zu der mächtigen, allein stehenden Kiefer. Wen es interessiert, wieso diese Kiefer als einzelner Baum so mutterseelenallein mitten im Wiesental steht, der sollte vielleicht mal den Forstmeister Sägebrecht fragen, denn der weiß ja alles über den Wald und seine Bäume und mit Sicherheit weiß er auch, warum diese riesige Kiefer ausgerechnet hier ihren Platz gefunden hat. Auf jeden Fall hat dieser einsame Standort dem Wachstum der Kiefer in keiner Weise geschadet. Im Gegenteil, denn die Kiefer ist fast so hoch wie eines der beiden Brommelshausener Hochhäuser, oben in der Siedlung am Brommelberg.
Die Kiefer als Hochhaus zu sehen, dieser Vergleich ist eigentlich gar nicht so abwegig. Genauso wie die Hochhäuser auf dem Brommelberg bietet auch die mächtige, allein stehende Kiefer erstklassige Wohnungen für eine ganze Menge grabender, krabbelnder, kriechender, kletternder und fliegender Gäste. Ganz unten, tief im Wurzelwerk der Kiefer, ist Familie Rötelmaus zu Hause. Die Rötelmausfamilie lebt ziemlich zurückgezogen in ihren selbst gegrabenen Wohnhöhlen. Die Nachbarn wissen nicht viel von diesen Mitbewohnern, nicht einmal wie sie heißen. Es wird aber gemunkelt, dass sie eine Menge Kinder haben sollen und diese manchmal vor lauter Hunger an den Wurzeln der Kiefer nagen müssen. Gesehen hat das aber bisher noch keiner und man weiß ja, von dem, was in der Nachbarschaft so alles geredet wird, muss nicht immer alles wahr sein.
Im unteren Drittel der Kiefer erkennt man sofort den Anflieger. Das ist der große, kahle Ast, der aus dem Nadelgewirr herausragt und für alles, was Flügel hat, einen hervorragenden Landeplatz abgibt.
Ein ganzes Stück weiter oben, so in den mittleren Stockwerken des Kiefernhochhauses, befindet sich die Spechtsiedlung. Auf der Wetterseite des Stammes, dort, wo das Stammholz immer etwas morsch und weich ist, hat der eigenbrötlerische, immer etwas mürrische Schwarzspecht Fidelius Klopfer bereits vor zwei Sommern drei übereinanderliegende Spechtwohnungen gezimmert. Irgendjemand nannte diesen Teil der Kiefer damals Spechtsiedlung und der Name ist bis heute geblieben. Warum der ewig schlecht gelaunte Schwarzspecht ausgerechnet hier drei übereinanderliegende Wohnungen gebaut hat, darüber haben sich schon damals alle Bewohner der Kiefer gewundert. Denn Fidelius Klopfer war unverheiratet und wie sollte er drei Wohnungen gleichzeitig bewohnen? Vielleicht, so wurde getuschelt, wollte er auf diese Weise als dreifacher Hausbesitzer auch nur den Schwarzspechtdamen imponieren. Genützt hat es leider nichts, denn Fidelius Klopfer blieb damals den ganzen Sommer über trotzdem unverheiratet. Er blieb sozusagen auf seinen Wohnungen sitzen. Wahrscheinlich war er auch den Schwarzspechtdamen zu eigenbrötlerisch und zu mürrisch.
Offenbar hatte auch Fidelius Klopfer selbst eingesehen, dass seine Besitztümer bei der Schwarzspechtdamenwelt keinen Eindruck hinterlassen, denn gegen Ende des Sommers war er eines Morgens einfach verschwunden und die drei übereinanderliegenden Spechtwohnungen auf einmal ohne Besitzer.
Aber nicht für lange Zeit, denn im Umkreis der mächtigen Kiefer hatten schon viele Wohnungssuchende immer wieder mit begehrlichen Blicken auf die leer stehenden Wohnungen geschielt. So lange der Schwarzspecht die Wohnungen noch überwachte, traute sich natürlich keiner der Interessenten auch nur einen Gedanken daran zu verschwenden, eine davon in Besitz zu nehmen. Dazu war der Respekt vor dem Schwarzspecht einfach zu groß. Erstens, weil er immer so mürrisch war, und zweitens natürlich auch deshalb, weil er einen riesigen spitzen Schnabel besitzt und mit diesem Spechtwerkzeug wollte niemand Bekanntschaft machen.
Einige Tage nach dem plötzlichen Wegzug von Fidelius Klopfer begannen manche der Wohnungssuchenden so langsam etwas mutiger zu werden. Allen voran die Spechtmeise Herr Kleiber. Eigentlich ist so eine Spechtwohnung viel zu geräumig für eine Kleiberfamilie, aber Herr Kleiber war schon immer ein Vogel mit einem speziellen Geschmack und einer Vorliebe für großzügige Räumlichkeiten. Auf jeden Fall schwirrte Herr Kleiber schon länger um die Spechtsiedlung herum, tat aber immer so, als käme er nur so ganz zufällig vorbei, um in der Rinde der Kiefer nach leckeren Käferlarven zu suchen.
Herr Kleiber ist ein kleiner, bunter Vogel, so eine Art Mischung aus einem kleinen Specht und einer Meise. Er beherrscht das seltene Kunststück, einen Baumstamm nicht nur hinauf-, sondern auch hinunterrennen zu können und dies mit einer halsbrecherischen Geschwindigkeit, dass es einem schon vom Zuschauen schwindlig werden kann. Wie gesagt, Herr Kleiber ist von kleiner Gestalt, was ihn aber in keiner Weise daran hindert, ein sehr ausgeprägtes Selbstbewusstsein an den Tag zu legen. Die Selbstsicherheit dieses Winzlings gipfelt nicht nur darin, riesige Spechtwohnungen in Besitz zu nehmen, sondern auch in dem seltsamen Tick, darauf zu bestehen, vom Rest der Welt nur mit Herr Kleiber angeredet zu werden. Als zivilisierter Vogel legt er ja schließlich Wert auf gepflegte Umgangsformen. Einen Vornamen hat Herr Kleiber anscheinend nicht oder er ist so komisch, dass er ihn bis heute niemandem verraten will. Egal wie es ist, wer gegen die Anredevorschrift des Kleibers verstößt, wird sofort mit den Worten zurechtgewiesen: „Herr Kleiber, bitte. So viel Zeit muss sein!“ Die Betonung liegt dann unüberhörbar auf dem Wort „Herr“.
Kurz und gut, Herr Kleiber fing an, die unterste der Spechtwohnungen immer öfters zu besuchen, blieb dann einmal für eine Nacht, wahrscheinlich um auszutesten, ob wirklich alles im Reinen war, dann blieb er noch einmal eine Nacht und noch eine Nacht und eine Woche später begann er zu bauen. Nach genauer Untersuchung des Eingangstores hatte Herr Kleiber nämlich festgestellt, dass dieses Tor vielleicht für einen zu groß geratenen Schwarzspecht angemessen sein möge, aber nicht für einen anständigen Vertreter der Kleibersippe. Also musste der Eingang unbedingt verkleinert werden, und zwar so weit, dass wirklich nur noch die kleinen Leute aus der Kleibersippe hindurchpassen. Ein kleibermaßgerechtes Einflugloch hat natürlich den Vorteil, dass andere Wohnungssuchende, wie die lästigen Verwandten aus dem Meisenvolk, die Wohnung nicht so einfach besetzen können, denn auch für diese Herrschaften wäre das verkleiberte Loch dann leider zu eng.
„Zit, zit, selber schuld“, pflegte Herr Kleiber dann zu sagen, „zit, zit, wer so groß und vollgefressen ist wie dieser dumpfbackige Konrad Kohlmeise und seine noch vollgefressenere Gattin Carolina Kohlmeise, na ja, der hat eben Pech gehabt und muss draußenbleiben, zit, zit.“
Ein Eingangstor zu verkleinern, ist für Herrn Kleiber von Haus aus eine leichte Übung, denn wie der Name Kleiber schon aussagt, ist er ein Meister im Zukleben oder Zukleibern. Vor allem mit dem Baustoff Lehm kennt Herr Kleiber sich glänzend aus und er weiß daher natürlich auch, wo es den besten Lehm im ganzen Brommelshausener Stadtwald gibt. Natürlich weiß er auch, wie man den feuchten Lehm mithilfe von eigenem Speichel und anderen Zutaten fachgerecht an den Rändern eines zu großen Einflugloches anklebt und wie man auf die erste Schicht Lehm eine zweite, eine dritte und, wenn es sein muss, noch viele weitere Schichten aufträgt. Selbstverständlich weiß Herr Kleiber auch, wie lange der Lehm trocknen muss, bis aus dem weichen Lehmbrei eine steinharte Mauer entstanden ist.
Trotz all dieser meisterlichen handwerklichen Fertigkeiten von Herrn Kleiber war die Durchführung dieser Torverkleinerung mehr als eine Mammut-Heidenarbeit, denn das Tor war riesig und Herr Kleiber dagegen winzig klein. So sahen die staunenden Nachbarn einen lehmverschmierten Herrn Kleiber mehrere Tage emsig hin und her fliegen. Jedes Mal, wenn Herr Kleiber zurückkam, hatte er ein kleines Kügelchen Lehm in seinem spitzen Schnabel. Er klebte dieses Kügelchen sorgfältig an die vorgesehene Stelle am Eingangsloch, flog wieder davon, kam mit einem neuen Kügelchen zurück, klebte dieses Kügelchen an eine andere Stelle und hörte erst dann mit dem Gekleibere auf, bis wirklich nur noch er selbst sich durch die enge Einflugöffnung zwängen konnte. Kopfunter am Stamm der Kiefer hängend, betrachtete Herr Kleiber nun stolz und zufrieden sein Werk.
„Zet, zet, ich muss wirklich sagen, das Bauwerk ist mir meisterlich gelungen. Das ist jetzt mein Heim und meine Burg, zet, zet!“
Nachdem er dieses der Nachbarschaft lautstark mitgeteilt hatte, verschwand ein sichtlich erschöpfter Herr Kleiber für den Rest des Tages hinter seinen Burgmauern, die ihm jetzt niemand mehr streitig machen konnte.
Seither gehört Herr Kleiber zu den Bewohnern der Spechtsiedlung und hat hier in den Frühlings- und Sommermonaten, zusammen mit einer gewissen Frau Kleiber, auch schon mehrere Generationen kleiner, lärmender Spechtmeisen aufgezogen. Sobald die kleinen Kleiberlinge jedoch selbstständig geworden waren, war auch diese Frau Kleiber auf einmal verschwunden. Angeblich flog sie dann immer auf Kur, um sich von den Strapazen der Kindererziehung zu erholen. Nun gut, am Anfang wurde in der Nachbarschaft noch ein bisschen über die Kleibers und speziell über diese Frau Kleiber getratscht, dann immer weniger und irgendwann überhaupt nicht mehr und da fing man an die Kleibers zu akzeptieren. Denn trotz seiner Eigenheiten und seiner etwas gewöhnungsbedürftigen Art erwies sich Herr Kleiber letztendlich doch als umgänglicher und verträglicher Mitbewohner in der Wohngemeinschaft der mächtigen, allein stehenden Kiefer.
Die anderen beiden Wohnungen in der Spechtsiedlung blieben ohne feste Bewohner, wenn auch ab und zu eine namenlose Fledermaus den Tag in einer der beiden Höhlen verdöste. Bei Einbruch der Dämmerung verschwanden diese scheuen Besucher aber so heimlich, wie sie gekommen waren. Einmal übernachtete eine durchreisende Dohle in einer Spechtwohnung, aber auch dieser Gast blieb nur eine Nacht und flog am nächsten Morgen wieder seiner Wege.
Neben einer Vielzahl anderer Wohnungen und Nester gibt es in der Hochhaussiedlung der mächtigen, allein stehenden Kiefer auch eine Art von Supermarkt, ganz ähnlich dem großen Supermarkt in der Brommelshausener Hochhaussiedlung, und in beiden Märkten finden die hungrigen Besucher alles, was an Nahrungsmitteln für den täglichen Bedarf notwendig ist.
Die Abteilung für verpackte Lebensmittel befindet sich direkt unter der borkigen Rinde der Kiefer. Sie enthält ein sehr reichhaltiges Angebot an köstlichen, knackigen Käfern, leckeren Maden und delikaten Spinnen in allen Sorten, Größen und Geschmacksrichtungen. Der hungrige Besucher des Kiefern-Supermarktes braucht nur die Rinde mit dem Schnabel etwas anzuheben, dann vielleicht noch ein kurzer gezielter Schnabelhieb und schon liegt die Ware ausgepackt und schnabelfertig zubereitet vor ihm.
Wem das Auspacken zu anstrengend ist, kann sich auch mit unverpackten Lebensmitteln begnügen. Diese bestehen aus gefüllten Raupenspezialitäten, appetitlichen Fliegen, wunderbar süß schmeckenden Läusen, sauer zubereiteten Ameisen und manch anderen Leckereien. Die offene Ware ist für jeden gut sichtbar im Nadelwerk und auf den Ästen der Kiefer verteilt, allerdings muss der Kunde ein wenig beweglich sein, da manche der Leckereien die Angewohnheit haben, einfach davonzufliegen, sobald ein Schnabel oder eine Kralle nach ihnen greifen will.
Für Vegetarier hat der Supermarkt auch noch die Samen der Kiefernzapfen auf Lager, aber die sind so gut verpackt, dass nicht jeder diese schmackhaften Happen erreichen kann, außer man heißt zufällig Eichhörnchen oder Rötelmaus. Manchmal kann sich auch ein vegetarisch gesinnter Specht oder sogar ein Kleiber an den Samen-Leckereien erfreuen, aber das ist dann mehr die Ausnahme und passiert eigentlich nur im Herbst oder Winter, wenn die fleischliche Küche anfängt knapp zu werden.
Natürlich wird der Kiefern-Supermarkt tagein und tagaus von vielen Kunden besucht, schon allein, weil ja alles umsonst ist und wer kann dann schon solchen geschmackvollen Gratisangeboten widerstehen? Da sind natürlich die Kleibers, die sich hier bestens auskennen und genau wissen, wo sie die leckersten Spezialitäten mit ihren spitzen Schnäbeln ergattern können. Meike Himmelblau, die Blaumeise, die neuerdings den Nistkasten bei der Lichtung Tannengrün bezogen hat, ist ebenfalls ein häufiger Kunde im Supermarkt der Kiefer. Ebenso ihre Verwandtschaft aus den Sippen der Kohlmeisen und Tannenmeisen. Grünspechte, Buntspechte und Schwarzspechte bevorzugen ausschließlich die Ware, die verpackt unter der Rinde gelagert ist. Übrigens: Fidelius Klopfer ist seit seinem überhasteten Auszug kein Kunde mehr im Supermarkt.
Weil das Lebensmittelangebot so reichhaltig ist, genehmigen sich auch Emil Elster und seine Gefährtin Ella Elster ab und zu ein paar besondere Leckerbissen aus dem Angebot der Kiefer, aber nur wenn es sich gerade so ergibt. Ansonsten suchen sie ihr Essen lieber auf den Feldern und Wiesen in der Umgebung. Das gemächliche Abschreiten der Wiesen im Tal, wobei jeder Stein umgedreht wird, um an die dicken Asseln und Spinnen zu gelangen, oder das Stochern nach saftigen Regenwürmern im Morast beim Krähenbach macht einfach viel mehr Spaß. Zwischendurch können es auch ruhig mal ein Pilz, ein paar heruntergefallene Beeren oder, wenn es schon mal passiert, auch eine unvorsichtige Feldmaus sein. Vogeleier und kleine Vogelkinder schmecken zwar auch nicht schlecht, aber erstens bekommt man sie nicht alle Tage und zweitens sind diese Dinge in der Wohngemeinschaft des Hochhauses absolut tabu. Emil und Ella Elster stammen aus dem Geschlecht der Rabenvögel und in dieser großen Familie ist es eigentlich üblich, dass alle Mitglieder rabenschwarze Anzüge tragen, und das nicht etwa, weil alle Krähen und Raben ausgesprochene Trauerklöße sind, sondern weil es sich einfach so gehört und weil es schon immer so war. Raben und Krähen mögen Elstern schon deshalb nicht leiden, weil Elstern sich weigern, schwarze Anzüge zu tragen, sondern schwarz und weiß gemusterte Federkombinationen vorziehen. Aber ich glaube, das alles wurde schon einmal erwähnt und braucht deshalb nicht mehr weiter vertieft zu werden.
Emil und Ella Elster wohnen schon lange im Kiefernhochhaus, länger als die ganze Nachbarschaft zusammen. Hoch oben, im wogenden Wipfel der Kiefer, hat das Elsternpaar schon vor Jahren die riesige, mit derben Zweigen und Ruten überdachte Elsternburg bezogen. Die Bezeichnung „Burg“ ist dabei wirklich nicht übertrieben, denn dieses stolze Bauwerk ist bestimmt mehr als fünfmal so groß wie ein gewöhnliches Elsternnest. Das ursprüngliche Nest, so sagt man, wurde gar nicht von Elstern gebaut, sondern soll vor langer Zeit die Heimstätte des letzten großen Greifvogelpaares im Brommelshausener Forst gewesen sein (ob es wirklich Adler waren, konnte mir keiner bestätigen). Erst nach dem endgültigen Verschwinden der großen Vögel wurde der riesige Horst von einem baufreudigen Elsternpaar in Besitz genommen und mit viel Müh und Plage elsterngerecht überdacht und umgestaltet. Das ist, wie gesagt, schon sehr lange her und seither hat jede Elsterngeneration die Burgwände immer mehr erweitert und verstärkt.
Das war aber noch nicht alles, denn von einem besonders geschickten und sicherheitsliebenden Elsternpaar wurde irgendwann einmal der Eingang in die Burg mit spiralförmig gebogenen und verflochtenen Zweigen so weit nach außen verlängert, dass eine Eingangsröhre entstand, ähnlich einem schmalen Windfang in einem Brommelshausener Wohnhaus. Diese Röhre ist länger als eine Elsternlänge und so bemessen, dass sich ein Elsternkörper gerade noch so hindurchbewegen kann. Eindringlinge mit größeren Körperabmessungen kommen entweder erst gar nicht hinein oder bleiben spätestens auf halber Strecke in dem Astgewirr innerhalb der Röhre stecken.
Kurz gesagt, die Elsternburg auf der allein stehenden Kiefer ist die größte und mächtigste Burg in der ganzen Gegend und wer weiß, vielleicht sogar die größte im ganzen Land. In dieser luftigen Höhe zu wohnen, hat natürlich seinen besonderen Reiz, denn von dort können die scharfen Elsternaugen das Wiesental, den Krähenbach und den Wald, fast bis zur Lichtung Tannengrün, überblicken. So ein Weitblick ist ganz nützlich, denn es ist doch immer gut, anreisende Gäste frühzeitig zu sichten.
In der gemütlichen, mit Moos und trockenen Gräsern ausgepolsterten Nestmulde haben Emil und Ella Elster schon einige Generationen an jungen Schwarzweißen aufgezogen. In diesem Jahr waren es zwei Mädchen und zwei Buben und nach langem Überlegen haben Emil und Ella sich entschieden, ihren Kindern typische Elsternnamen zu geben. Die Buben heißen Edgar und Erich, die Mädchen Elfriede und Elsa. Der Nachname ist natürlich Elster, denn alle Schwarzweißen heißen mit Nachnamen Elster, egal wo sie zu Hause sind, sei es in Europa, in Amerika oder sonst irgendwo. Das ist nun einmal uralte Elsterntradition.
Die kleine Elsa wurde allerdings von Anfang an nur Elschen genannt, weil sie eben die Kleinste von allen war und übrigens immer noch ist.
Erich, Edgar, Elfriede und Elsa haben das ganze Frühjahr und einen Teil des Sommers in der Nestmulde verbracht und ihre Eltern in dieser Zeit ganz schön auf Trab gehalten.
„Tschääck, tschääck, wir haben Hunger, tschääck, tschääck!“, schrien Edgar, Elfriede und Elschen und rissen gierig die Schnäbel auf. „Tschiick, tschiick, ich habe auch Hunger!“, jammerte dann der kleine Erich, der einen Sprachfehler hat und deshalb kein richtiges tschääck, tschäck oder täk schäckern kann, was aber keinen stört.
So klang es den ganzen Tag in den Ohren der geplagten Eltern und Emil und Ella Elster sind kaum nachgekommen, die weit aufgesperrten Schnäbel mit allerlei Essbarem zu stopfen. Vor Kurzem sind die lieben Kleinen aber selbstständig geworden und an einem sonnigen Morgen sind sie alle miteinander ausgezogen. Jetzt wohnen sie zusammen mit anderen Elstern-Teenagern auf einem schönen Schlafbaum, eine gute Strecke bachaufwärts im östlichen Teil des Wiesentales.
Nur Elschen, das kleine, quirlige Elsternmädchen, hat sich noch nicht so ganz entwöhnt und kommt öfters mal auf einen Sprung vorbei, um sich zu vergewissern, dass es Mama und Papa auch wirklich gut geht. Bevor sie dann wieder zu ihrem Schlafbaum zurückfliegt, kuschelt sie sich jedes Mal, nur für eine kurze Flügelschlaglänge, in die weich ausgepolsterte Nestmulde und genießt dabei das wohlige Gefühl, wieder ein kleines, umsorgtes Elsternkind zu sein.
Ach ja, der Elstern-Teenager-Schlafbaum, der übrigens gar nicht mehr so heißt, weil er von den Jungelstern neulich kurzerhand in „Schlafbaum der wilden Vorwaldbande“ umbenannt wurde. Elstern-Teenager-Schlafbaum klang doch wirklich so was von langweilig und altmodisch. Den Gangnamen „Wilde Vorwaldbande“ hatten sie sich schon vorher ausgedacht. „Wilde Vorwaldbande“ war dann einigen doch zu lang, deshalb nennen sie sich jetzt meistens nur noch „Vorwaldbande“.
Der ehrwürdigen Linde ist es egal. Sie beherbergt schon seit vielen Elstern-Generationen die Jungelstern aus der ganzen Umgebung und hat dabei schon einiges erlebt. Nur sie allein kann den Anspruch erheben, die angesagteste Jugendherberge im ganzen Stadtwald zu sein. Ihre Exklusivangebote sind Waldrandlage, bequeme waagerechte Äste zum Sitzen und Schlafen und ein bevorzugter Ausblick auf den Krähenbach. Leider ist der Krähenbach in diesem Teil des Tales im Sommer meistens ausgetrocknet, was Elsternaugen aber nicht im Geringsten stört.
Jetzt könnte sich doch mancher fragen, was die Jungelstern von der wilden Vorwaldbande den ganzen Tag eigentlich so treiben. Kämpfen sie tollkühn gegen grimmige Feinde? Retten sie unter Einsatz ihres Lebens kleine hilflose Elsternküken?
Ganz so dramatisch ist der Alltag der Vorwaldbande sicherlich nicht, trotzdem gäbe es viel zu erzählen. Wir beschränken uns aber erst einmal auf eine kleine Episode, die sich vor einiger Zeit an einem heißen Augusttag zugetragen hat.