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Eigentlich war es Giorgio da Ponte – Jörg aus Innsbruck –, der Galvano auf diese Idee gebracht hatte. Ursprünglich war ja geplant gewesen, dass sie zusammen als waffenlose Rompilger den von den Päpsten seit Jahrhunderten gewährten Generalablass gewinnen sollten. Da musste man sich die entsprechende Kleidung besorgen, Mantel, Hut und Stab, um dann in den sieben Pilgerkirchen die vorgeschriebenen Gebete zu sprechen.

Jörg wiegte zweifelnd seinen vierkantigen Bauernschädel.

„Die Kirchen liegen zum Teil weit auseinander, habe ich mir sagen lassen.“

Galvano nickte.

„Das stimmt, von San Giovanni zur Peterskirche ist man Stunden unterwegs und San Paolo liegt sogar außerhalb der Stadtgrenze, aber dafür gibt es einen Generalablass. Jörg, führe dir das vor Augen: Sämtliche Sünden, die du bisher begangen hast, sind wie ausgelöscht! Da bist du unschuldig wie ein neugeborenes Kind …“

Jörg, etwa doppelt so alt wie sein Herr, seufzte leise.

„Ja, ja, bei mir mag sich das lohnen, aber bei Euch? Mit Euren achtzehn Jahren kann da noch nicht viel gewesen sein. Habt Ihr schon eine Frau gehabt?“

Da errötete Galvano. Ja, der junge Mann, Erbe und späteres Haupt der gräflichen Familie Lancia errötete wie ein Nönnchen, wenn ein Mann es ansah. Er hatte noch nie mit einer Frau geschlafen, aber das lag an ihm und seiner Schüchternheit gegenüber dem weiblichen Geschlecht.

„Was geht dich das an?“

Das klang recht schroff, aber der lebenserfahrene Jörg nahm es nicht krumm.

„Da habt Ihr wohl recht, Don Galvano, aber mir ist da eine Idee gekommen …“

Er grinste vielsagend und zog Galvano beiseite, weil einige der anderen Männer sichtlich die Ohren spitzten. Die räumliche Entfernung von seiner strengen Frau Berta hatte in dem rauen Söldner etwas entfacht, was er schon verloren glaubte, nämlich eine sich steigernde Lust auf den Umgang mit Frauen, mit willfährigen, anschmiegsamen Frauen. Sogar seine Wortkargheit war einer Redseligkeit gewichen, die Galvano sonst an ihm nicht kannte. Sie setzten sich auf niedrige Feldhocker und Jörg rückte seinem Herrn ganz nahe.

„Verzeiht, aber was ich zu sagen habe, soll nicht nach draußen dringen.“

Galvano zog eine spöttische Miene.

„Da bin ich aber neugierig …“

Das klang eher so, als sei er es nicht, aber Jörg ließ sich nicht beirren.

„Fahrt nicht gleich aus der Haut bei dem, was ich jetzt vorschlage. Eines aber vorweg: Wenn wir um die Weihnachtszeit nach Hause kommen, steht Eure Verlobung zu erwarten – oder irre ich mich?“

Galvano wurde ungeduldig.

„Nein, du irrst dich nicht, aber was soll diese Frage?“

„Ich habe noch eine: Wie stellt Ihr Euch die Hochzeitsnacht mit Eurer jungen Frau vor?“

„Jörg, jetzt vergisst du dich!“

Galvano war zornig und laut geworden.

„Don Galvano, denkt an meine Bitte – Ihr sollt nicht aus der Haut fahren. Darf ich eine Vermutung äußern? Ihr steigt da zu Eurer Braut ins Bett und wisst nicht genau, was dann anzufangen ist. Freilich, Ihr habt Hunde, Rinder und Pferde bei der Begattung gesehen, aber ich kann Euch versichern, bei uns Menschen ist das doch ein wenig anders.“

„Ja, ja, das mag schon sein, aber ich habe bisher nicht den Eindruck gewonnen, dass es bei Berta und dir ein reges Liebesleben gibt.“

Da zeigte sich Jörg etwas verlegen.

„Ja, schon, aber das hat andere Gründe. Jetzt versucht einmal, mir ohne Zorn die folgende Frage zu beantworten: Wäre es Euch nicht lieber, Eurer Braut als kenntnisreicher Liebhaber zu begegnen, als ein Mann, der weiß, worauf es ankommt? Das kann für den Beginn einer Ehe schon wichtig sein …“

Galvanos Zorn war verflogen und einer gewissen Neugier gewichen – worauf wollte der Kerl hinaus?

„Ja, schon, du hast recht, aber wie …“

Da wurde Jörg ganz eifrig.

„Bin schon dabei, es Euch zu erklären. Mein Vorschlag geht dahin, zwei Fliegen mit einer Klappe zu schlagen. Jetzt komme ich wieder auf unsere Pilgerfahrt zurück. Wenn ein Generalablass sämtliche Sünden löscht, dann doch auch solche, die man zuvor, also sozusagen in letzter Minute begeht?“

„Ja, gewiss …“

Jörg grinste verschlagen.

„Dann würde ich meinen, wir sollten das nutzen und zuvor noch kräftig einer der sieben Todsünden huldigen, nämlich der Unzucht. Während Eurer Abwesenheit sind hier Männer aufgetaucht, die man auf gut italienisch als mezzani bezeichnen kann, Kuppler also, die sogar bereit sind, ihre Damen hierher auf den Monte Mario zu bringen. Einige der Männer hatten davon Gebrauch gemacht, aber für unsere Zwecke würde ich doch vorschlagen …“

Galvano unterbrach ihn.

„Für unsere Zwecke? Wie meinst du das?“

„Ich meine, Ihr sollt Euch, ehe wir die Pilgerfahrt antreten, eine erfahrene Kurtisane suchen, die Euch halbwegs zu dem macht, was Eure künftige Frau erwarten kann, nämlich zu einem erfahrenen Liebhaber.“

Vielleicht sollte noch gesagt werden, dass Jörg aus Innsbruck seine Erklärungen und Vorschläge in stockender, ungeschickter, mit deutschen Worten untermengter Sprache vorgebracht hatte und sie hier in gleichsam gereinigter Form wiedergegeben sind. Galvano hatte seinen Hauptmann jedenfalls verstanden und er war zuletzt von dessen Vorschlägen recht angetan, mochte es aber nicht zu erkennen geben. Ein dummer Jungmännerstolz, gewiss, aber Galvano glaubte es sich schuldig zu sein.

„Ich weiß nicht recht … Ob ich meiner Braut damit wirklich einen Gefallen tue? Und was ist mit dir? Schließlich bist du verheiratet …“

„Ja, das schon, aber Ihr habt vorhin selber mein nicht sehr reges Liebesleben erwähnt. Nun, auch unsereiner hat Bedürfnisse und da wir nun schon hier sind …“

„Gut, mir soll’s recht sein, aber was ist mit den anderen?“

Die Männer wurden befragt, aber jeder hatte anderes im Sinn. Der eine wollte nur die Peterskirche sehen, einige begnügten sich mit dem, was die Kuppler herbeischafften. Zwei hätten schon gerne die sündentilgende Pilgerfahrt gemacht, aber die Kosten waren ihnen zu hoch. Galvano, schon dabei, ihnen unter die Arme zu greifen, hörte aus dem Hintergrund Jörgs laute Stimme.

„Da hätte ich einen Vorschlag: Wir schließen eure Namen in unsere Gebete mit ein, dann kostet es nur zwei grossi.“

„Und das gilt?“, kam die misstrauische Frage.

„Fragt doch einen Pfaffen!“

Nun gut, sie glaubten ihrem Capitano und Galvano mischte sich nicht weiter ein. Ehe sie aufbrachen, bestimmte er einen Unterführer und gab den Männern zu bedenken:

„Wenn einer von euch sich entschließen sollte, in die Stadt hinunterzugehen, dann lautet mein Befehl: ohne Waffe! Sollte es zu irgendwelchen Händeln kommen, dann kann euch keiner mehr helfen! Die päpstlichen sbirri hängen jeden sofort auf, der offen oder heimlich eine Waffe trägt – verstanden?“

Da war nur ein unwilliges Gemurmel zu hören, denn dieses Verbot traf die Männer im Innersten. Die meisten von ihnen hatten sich schon jung zur Kriegerlaufbahn entschlossen und seither kannten sie nichts anderes, als eine Waffe zu tragen und sie notfalls zu gebrauchen. Ohne das vertraute Schwert, ohne Lanze oder Köcher und Bogen kamen sie sich nackt vor. Jörg wusste das besser als sein Herr und flüsterte ihm ins Ohr, wenigstens einen Dolch müsste man ihnen lassen. Galvano nickte und fügte seinem Befehl hinzu:

„Ich weiß, dass ihr euch ohne die vertrauten Waffen schutzlos fühlt, und ich kann mir denken, dass ihr vielleicht einen kurzen Dolch unter der Kleidung mitführt. Das ist aber weder eine Aufforderung noch ein Rat – verstanden?“

„Verstanden!“, schallte es zurück.

Der Kaiser hatte es eilig mit seiner Abreise und machte sich schon am Morgen des fünften Tages nach seiner Krönung auf den Weg nach Süden. Als Grund der Eile wurde das gute Reisewetter genannt, denn selten hatte es in dieser Jahreszeit so sonnige und fast spätsommerlich milde Tage gegeben. Mit dem Kaiser sei die Sonne gekommen, hieß es beim römischen Volk. Der tatsächliche Anlass zur Eile waren die schlechten Nachrichten aus dem Königreich Sizilien gewesen, denn während Friedrichs langer Abwesenheit hatte sich beim sizilischen Adel eine Art Faustrecht eingeschlichen und das war mit dem geltenden Recht nicht zu vereinbaren.

So warteten Galvano und Jörg bis zur Abreise des Kaisers, ließen Pferde und Waffen auf dem Monte Mario und suchten eine der zahlreichen Pilgerkanzleien auf. Schon auf den Weg dorthin überlegte Galvano sich im Stillen, wo in Rom diese käuflichen Damen zu finden seien, während Jörg laut darüber nachdachte.

„Das Beste ist, wir suchen im Borgo eine dieser Schenken auf, ich kann mir kaum vorstellen, dass ein Kneipenwirt da nicht Bescheid weiß.“

„Ja, gut, aber vergiss die Hauptsache nicht – wir wollen eine Pilgerfahrt antreten.“

„Eines nach dem anderen, Don Galvano.“

Doch dieses Problem löste sich ganz von selber, als sie in der Pilgerkanzlei die entsprechende Kleidung anlegten und der Gehilfe mit halblauter Stimme murmelte:

„Wenn die Herren vor dem pellegrinaggio noch ein wenig sündigen wollen …“

Jörg schien es nicht richtig verstanden zu haben und machte ein fragendes Gesicht, doch Galvano sagte laut:

„Ein guter Vorschlag, den wir vielleicht bei einem Becher Wein erläutern sollten.“

Der secondo verstand sofort und ging mit den beiden – durch Mantel, Stab und Hut als Pilger kenntlich – in die nächstgelegene Kneipe. Dann saßen sie vor einem Krug Wein und der Gehilfe begann mit den Worten:

„Mein Rat kostet zwei grossi, aber er ist es auch wert.“

Galvano legte wortlos das Geld auf den Tisch und die Münzen verschwanden wie durch einen Zauber.

„Kann einer der Herren lesen?“

Galvano nickte und der Mann zog einen schmutzigen Zettel aus der Tasche.

„Hier sind die Häuser mit Namen und Ort notiert, und zwar in der Reihenfolge der Kostenhöhe und somit der Qualität. Wirklich empfehlen kann ich nur die ersten zwei. Sollten die Herren aber mit dem Geld etwas knapp sein, dann …“

„Wir kommen schon zurecht“, meinte Galvano steif.

Der Mann erhob sich.

„Muss wieder an die Arbeit zurück. Die Casa Gioia findet ihr am leichtesten, sie ist allerdings die teuerste. Immer den Fluss entlang nach Süden bis in Höhe des Kapitols, da führt der Ponte Fabricio zur Tiberinsel. Hart am Ufer steht ein kleines Haus, hinter Bäumen gut verborgen, da geht ihr zur Pforte, dann hebt eine Hand …“

Galvano schmunzelte.

„Ihr wisst ja überraschend gut Bescheid.“

„Werde ja ständig danach gefragt.“

„Unsere Pilgerkleidung stört dort nicht?“

„Die sind das gewohnt.“

Immer den Tiber entlang – das war einfach gesagt, aber nicht so leicht getan. Ständig mussten sie ummauerten Grundstücken, mit Macchia bewachsenen Ruinenhügeln oder Häusergruppen ausweichen, die das Ufer verstellten. Jörg schien es recht eilig zu haben, seine Augen glänzten und ständig strich er sich über den Bart, den er heute Morgen sorgsam gestutzt hatte. Galvano aber ergriff ein Gefühl, das er zuletzt als halbwüchsiger Junge empfunden hatte, wenn er es den Erwachsenen wieder einmal nicht recht machen konnte: Er kam sich blöd vor. Anstatt seinen Blick auf die Heimreise und die bevorstehende Hochzeit zu richten, strebte er einem dieser Häuser zu, wo vermutlich Krankheiten und Überfälle drohten. Am liebsten hätte er kehrtgemacht, aber er wollte vor Giorgio das Gesicht nicht verlieren. Gerade von ihm, dem alten Haudegen, hätte er solche Bedürfnisse nicht erwartet.

Endlich waren sie da und von dem kleinen Haus waren nur einige gelbe Mauerflecken hinter Bäumen und Sträuchern zu erkennen. Als sie an der Gartentür stehen blieben, rannten zwei riesige Hunde herbei und begannen fürchterlich zu bellen und zu knurren. Da sie nicht damit aufhörten, war es für den portiere das Zeichen, dass jemand Einlass begehrte. Er brüllte die beiden Köter so lange an, bis sie kuschten und sich Leinen anlegen ließen.

„Pilger?“, fragte er mürrisch, „da seid ihr wohl am falschen Ort.“

Galvano schluckte und stotterte: „Pi-Pilger sind wir erst momorgen …“

Da lachte der Pförtner rau und herzlich.

„Aber heute wollt ihr noch einen draufmachen, oder? Geld ist doch hoffentlich vorhanden?“

Galvano nickte und wollte die Börse ziehen, doch der andere sagte schnell:

„Lasst das, ich glaube es auch so. Ist das Euer Diener?“

„Ja, nein, sagen wir ein Freund.“

Die mezzana – eine schwarz gekleidete Dame unbestimmten Alters mit stechenden Augen – führte sie in eine Art Vorzimmer, wo sie auf gepolsterten Stühlen Platz nahmen.

„Ehe wir ins Geschäft kommen, möchte ich Euch mit den Gepflogenheiten unseres Hauses vertraut machen.“

Sie hatte gleich erkannt, dass Galvano der Herr war, und sprach nur zu ihm gewandt.

„Wir bitten drum“, sagte Galvano höflich.

Die stechenden Augen blickten auf seine linke Schulter, als sie sagte:

„Bezahlung im Voraus, pro Mann anderthalb Dukaten.“

Galvano erschrak und Jörg zeigte eine besorgte Miene. Zwar hatte ihm sein Herr versichert, ihn bei den Damen freizuhalten, aber jetzt sollte der dafür drei Goldstücke berappen …

Galvano gab sich einen Ruck und sagte:

„Viel Geld! Was schließt diese Summe mit ein?“

Ein kaltes Lächeln huschte über das Gesicht der mezzana.

„Vor und nach dem Damenbesuch ein Bad, eine Mahlzeit mit reichlich Wein und natürlich die freie Wahl unter den Damen – soweit sie gerade frei sind.“

„Ein Bad!“ Jörg konnte den erstaunten Ausruf nicht unterdrücken. „Wozu soll das gut sein?“

Galvano schämte sich ein wenig für ihn und sagte belehrend:

„Du stellst aber seltsame Fragen! Willst du dich den Damen des Hauses vielleicht ungewaschen nähern? Also, ich muss schon bitten!“

Jörg wusste, dass er etwas Falsches gesagt hatte, nickte mehrmals ergeben und schwieg von da an. Die mezzana räusperte sich und es klang ein wenig ungeduldig.

„Wollen die Herren gemeinsam wählen oder jeder für sich?“

„Gemeinsam“, sagte Galvano schnell.

„Gut, darf ich die Herren dann ins Bad bitten?“

„Aber …“, setzte Jörg an, doch Galvano trat ihm gegen das Schienbein und sagte schnell:

„Aber gerne, padrona!“

Sie erhoben sich.

„Dort beginnt auch gleich die Auswahl“, setzte sie noch hinzu.

„Wir lassen uns überraschen“, scherzte Galvano, obwohl ihm nicht danach zumute war.

Die schwarz gekleidete mezzana verschwand nach einer flüchtigen Verneigung und ein vielleicht zwölfjähriges Mädchen tauchte auf, ging voran und führte sie hinab in den Keller.

„Das könnte eine Falle sein …“, murmelte Jörg auf Deutsch vor sich hin, aber dann kamen vernünftige Gedanken, die ihm sagten, dass ein solcher Betrieb nicht durch Raubmord, sondern durch Wohlverhalten auf die Vorschlagsliste des Vermittlers gekommen war.

Das Mädchen öffnete die Tür zu einem fensterlosen, nur mit zwei Öllampen spärlich erleuchteten Raum.

„Die Auskleidekammer“, erläuterte sie, deutete auf die gegenüberliegende Tür und fügte hinzu: „Das Bad!“

Stumm legten sie ihre Kleider ab, doch Galvano behielt den Lendenschurz an. Er mochte nicht einfach so nackt herumlaufen … Jörg schüttelte leicht sein bärtiges Haupt und deutete auf das Kleidungsstück.

„Ich glaube nicht, dass sie so etwas gestatten …“

„Gestatten, gestatten, wer bin ich denn?“

Aber dann legte er das gute Stück doch ab, hielt aber gleich eine Hand wie schützend vor sein Geschlecht.

„Geh du voraus …“

Jörg nickte und öffnete die Tür, aus der sogleich ein Schwall heißen Dampfes wölkte, als hätte man den Deckel eines riesigen Kochtopfes gehoben. Er zögerte etwas und musste daran denken, wie er manchmal mit erhobenem Schwert in fremde Häuser eingedrungen war. Jetzt stand er da, nackt und bloß, mit leeren Händen. Er gab sich einen Ruck und tauchte ein in den warmen Nebel, dicht gefolgt von Galvano, der noch immer mit der rechten Hand seine Körpermitte bedeckt hielt.

Attenzione!“

Erschrocken blieben beide stehen und da kamen zwei locker und luftig gekleidete Wesen herbei – sie trugen nur ganz kurze Tuniken – und wiesen in die Tiefe, wo undeutlich das Wasser glänzte. Jede der Quellnymphen nahm eine Männerhand und sie wurden zu der Stelle geführt, wo Stufen hinab in das kleine marmorgefasste Becken führten. Das Wasser war nicht heiß, aber gut warm und Galvano spürte, wie sich in seinem Körper die Spannung löste, während Jörg sich boshaft seine Frau als heimliche Zuschauerin herbeiwünschte.

Sie mussten dann auf der untersten Stufe Platz nehmen, sodass nur noch Kopf und Schultern aus dem Wasser schauten. Die Quellnymphen begannen ihr Reinigungswerk mit Schwämmen und duftender Seife, ließen dabei auch keine Stelle aus. Hatte nicht die Hurenwirtin gesagt, schon hier beginne die Auswahl? Galvano hätte sich gleich für sein Nymphchen entschieden, ein schlankes Mädchen mit feurigen, schalkhaft blitzenden Augen und einem großen frechen Mund, der Unverständliches plapperte und dabei ständig lächelte. Als sie mit ihrem Schwamm über seinen Penis fuhr, richtete sich der sofort auf, worauf sie ihm einen spielerischen Klaps versetzte und lachend sagte:

Pazienza, caro mio, più tardi!“

Das war nicht misszuverstehen und Galvano hatte nichts gegen dieses „später“.

Das mit Jörg beschäftigte Mädchen nahm die Waschung sehr gründlich vor, denn da gab es einiges nachzuholen … Danach wurden sie abgetrocknet und in knielange wollene Mäntel gehüllt.

Im Speiseraum war der Tisch schon mit verschiedenen kalten Speisen gedeckt, dazu gab es heißen Würzwein, der nicht nur zu Kopf stieg, sondern auch die unteren Regionen so erhitzte, dass die beiden Männer glänzende Augen bekamen und immer weniger ans Essen dachten. Dazu kam, dass jeder Handgriff von einem anderen Mädchen ausgeführt wurde; jedes blieb nur kurz, drehte sich, lächelte und ein ganz freches zog sogar blitzschnell die kurze Tunika hoch, wohl um zu zeigen, was die Herren erwartete.

Ohne dass man es ihnen sagen musste, trafen sie dabei eine Auswahl. Galvano entschied sich für ein schlankes, braunhäutiges Mädchen mit langer dunkler Haarflut, die weit über ihre Brüste reichte. Jede von ihnen hatte sich mit ihrem Namen vorgestellt und sie deutete mit einer neckischen Geste auf sich und eine dunkle Stimme sagte: „Sono Julia.

Galvano staunte über Jörgs Wahl, denn sie fiel auf eine kleine, etwas dickliche, nicht mehr ganz junge Frau. Sie hieß Tulla und hatte tatsächlich nur Blicke für Jörg gehabt, als wisse sie schon, dass sie seine Erwählte sei. Doch er verschluckte, was er sagen wollte, nämlich dass dieses Mädchen Jörgs Ehefrau am ähnlichsten sah. Jörg hingegen machte sich Sorgen, ob diese doch sehr junge Julia die Rechte sei, um Galvano mit Liebeskünsten vertraut zu machen.

„Don Galvano“, flüsterte er, „diese Julia ist ja fast noch ein Kind und ich glaube nicht, dass – dass, also ich will damit sagen, dass ich daran zweifle, ob sie für Euch die Geeignete ist. Verzeiht, wenn ich es sage, aber schließlich sollt Ihr ja bei dieser Gelegenheit etwas – etwas Erfahrung sammeln …“

Galvano hörte nur mit halbem Ohr hin; das heisere Geflüster seines Capitano war ohnehin kaum zu verstehen. So nickte er nur versonnen und murmelte vor sich hin: „Julia, oder keine …“

Erst später fiel ihm ein, dass die von den Eltern für ihn erkorene Braut Giulia hieß, aber war zwischen ihrem italienischen Namen und einem lateinischen Julia nicht doch ein Unterschied?

Wie viele Mädchen hatten sie im Laufe ihrer Mahlzeit gesehen? Fünf, sechs – oder waren es nur vier? Ja, die Casa Gioia bot etwas für das viele Geld und zu allem ließ man sich Zeit.

Ob die Herren noch ein wenig ruhen wollten, wurde gefragt, wenn nicht, dann stünden die Erwählten jederzeit zur Verfügung. Galvano schaute Jörg fragend an, doch der hob unschlüssig die Schultern. Galvano aber war durch den Würzwein in eine feurige Stimmung versetzt worden und bei Julias Anblick hatte sein Penis eine Art Habachtstellung angenommen, in Erwartung der kommenden Freuden. So sagte er im strengen Ton eines Vorgesetzten:

„Capitano, Ihr solltet nicht vergessen, dass wir noch vor Einbruch der Dunkelheit auf dem Monte Mario sein müssen. Unsere Männer würden sich Sorgen machen, wenn …“

„Jawoll, Don Galvano, ich habe es nicht vergessen!“

Doch Galvano hatte Glück. Julia war zwar jung, aber keineswegs unerfahren. Ein muselmanischer Großgrundbesitzer – solche gab es noch auf Sizilien – hatte sie als kindliche Sklavin gekauft und, als sie mit zwölf mannbar geworden war, zur Kebse genommen. Als hochgebildeter, auch in Liebesdingen vielerfahrener Mann hatte er das Mädchen nicht missbraucht, sondern behutsam in die Geheimnisse eines erfüllten Liebeslebens eingeführt. Nach seinem Tod – da war sie gerade sechzehn – kam sie laut testamentarischer Verfügung frei, doch die Erben wollten diesen Wunsch nicht anerkennen. Julia wurde gewarnt und ergriff als junger Mann verkleidet die Flucht in den christlichen Teil Siziliens. In Messina kam sie in einem Frauenkloster unter, ließ sich taufen und verrichtete als Laienschwester niedrige Dienste. Da war sie freilich anderes gewohnt und als sie auf dem Markt ein Hurenanwerber ansprach und ihr die Schönheiten und Verlockungen der Ewigen Stadt beschrieb, ging sie mit ihm auf das Festland. Schönheit und Liebreiz, verbunden mit gesittetem Benehmen brachten sie in die Casa Gioia, wo sie hoffte, sich in kurzer Zeit eine Mitgift für eine spätere Ehe zu verdienen. Sie wollte heiraten, Kinder kriegen – ein normales, unauffälliges Leben führen. Ja, sie hatte schon ihren eigenen Kopf, diese Giulia da Messina, wie sie sich nannte. Eine Reihe meist älterer, sehr wohlhabender Stammkunden schätzten sie als cortigiana der gehobenen Art, die mehr zu bieten hatte als geöffnete Schenkel. Auf Wunsch griff sie zur Laute und sang arabische Liebeslieder, auch eine Art Schleiertanz hatte sie erfunden, nachdem einer der Herren ihr von der biblischen Salome erzählt hatte. Sie erkannte auf den ersten Blick, dass dieser giovanetto aus gutem Hause kam und seine sexuellen Erfahrungen über pubertäre Wunschvorstellungen nicht hinausgekommen waren.

Galvano, vom Wein erhitzt und von Julias Anblick entzündet, griff kühn nach ihren Brüsten, doch sie schüttelte lächelnd ihren schönen, von dunkler Haarflut umspielten Kopf. Als sie hörte, dass ihr junger Kunde bald eine Giulia heiraten würde, scherzte sie:

„Dann veranstalten wir jetzt eine Probe-Hochzeitsnacht, sozusagen eine Vorübung für die tatsächliche. Da deine künftige Frau mit Sicherheit noch eine virgo ist, musst du ihr zuerst die Angst nehmen, die sie vor deinem männlichen Körper empfindet. Begatte sie nicht wie ein Hengst die Stute, sondern mache sie zuerst mit deinem Körper vertraut. Führe ihre Hand dahin und dorthin, damit sie die Unterschiede erkennt und später gewiss auch zu schätzen weiß. Wir aber werden es umgekehrt machen.“

Und so erkannte Galvano durch Julias geduldige und geschickte Führung, wie eine Frau beschaffen war und welche Körperstellen besonders beachtet und erkundet sein wollten. Als er dabei war, ihre Brüste mit plump-feuchten Küssen zu bedecken, schüttelte sie wieder den Kopf und brachte ihn dazu, dass er ihre Brustwarzen mit der Zunge sanft liebkoste. Ja, Galvano lernte viel an diesem denkwürdigen Tag – mehr als bei zehn einfachen puttane, die es immer eilig und anderes im Sinn haben, als einen jungen Mann auf seine Ehe vorzubereiten.

Als Galvano und Julia am Ende eines langen Spiels tatsächlich zu- und ineinanderfanden, war das, was er und die meisten Männer unter Begriffen wie „ficken“ oder „rammeln“ verstanden, nur der krönende Abschluss gewesen. Nach einer langen Ruhepause wiederholten sie – um einiges verkürzt – die schöne Übung, doch diesmal war Julia der Reiter und Galvano entzückte schon allein das Spiel ihrer schlanken braunen Schenkel, die klammernd seine Hüften umfassten.

Jörg erwartete keine Lehrstunde, sondern solide Kost, um das lange Angestaute schnell und genussvoll loszuwerden. Sie trieben es dreimal, doch beim zweiten Mal war es am schönsten und Jörg presste, vom Orgasmus angefeuert, einen Namen heraus: Berta! Tulla unterließ es, ihn zurechtzuweisen, denn sie ahnte die Zusammenhänge. Auf dem Höhepunkt der Lust hatte Jörg tatsächlich geglaubt, seiner Frau beizuliegen, doch musste er sich später eingestehen, dass er mit ihr niemals eine solche Ekstase erlebt hatte. Für Berta war das Beiliegen immer eine Pflicht gewesen und im Laufe der Jahre ließ sie ihn fühlen, dass es ihr eine lästige geworden war.

Die Tage Ende November sind kurz und so dunkelte es schon, als Galvano und Jörg den Monte Mario erreichten. Sorgen hatte sich offenbar niemand gemacht, ein Teil der Männer war betrunken und Huren aus der Stadt trieben sich auch noch herum. Galvano ließ es auf sich beruhen – nicht weil er sich selber schuldig fühlte, sondern weil er einfach zu müde und entschlusslos war. Ein Teil von Julia steckte noch in ihm, sie war keine Frau, die man so schnell vergaß.

Jörg empfand es anders: Tulla war für ihn Vergangenheit und seine Erinnerung an sie glich der an eine leckere Mahlzeit, an die man noch ein paar Tage genussvoll zurückdenkt und die man beim nächsten guten Essen vergisst. Ja, das war ein Punkt, den Jörg künftig beachten wollte. Von Zeit zu Zeit wollte er sich dieses Vergnügen gönnen und es würde gewiss auch in Pisa nicht an entsprechenden Gelegenheiten fehlen. Er konnte nicht einmal behaupten, dass Berta sich ihm verweigerte, sie setzte dann nur ein solches Gesicht auf, dass ihm jede Lust auf ein Liebesspiel verging.

Ein Gedanke jedoch vereinte den Capitano mit seinem Herrn: Beiden fehlte das Bewusstsein, in der Casa Gioia gesündigt zu haben. Für Galvano war es fast ein gottgewollter, längst überfälliger Akt gewesen, der ihm lustvoll vor Augen führte, warum der Schöpfer Mann und Frau so unterschiedlich gestaltet hatte. Für Jörg war es eine Notwendigkeit gewesen, sich anderswo das zu verschaffen, was die eigene Ehefrau … nein, nicht verweigerte, aber doch unmöglich machte. So gab es in dieser Hinsicht auch keine Reue, als sie ihre Pilgerfahrt antraten, mit langem Mantel, Stab und breitem Hut. Sie führte durch sieben Kirchen und es wurde schon erwähnt, wie weit manche davon auseinanderlagen. Ja, sie kürzten es etwas ab, haspelten die notwendigen Gebete herunter, spendeten knapp und schafften es in zwei Tagen.

Auf der Heimreise musste Galvano öfters an Kaiser Friedrich denken, der schon seit Jahren verheiratet war und so unendlich mehr von Frauen wusste als die meisten anderen Männer. Übrigens sprachen weder Galvano noch der Capitano Giorgio da Ponte jemals von ihrem Erlebnis in der Casa Gioia – nicht miteinander und auch nicht zu anderen.

Für Galvano begann mit dem nächsten Jahr ein neues Leben an der Seite seiner Frau Giulia. Auch sie trug den Familiennamen Lancia, doch die Verwandtschaft war nicht sehr eng, da sich schon vor etwa zwei Jahrhunderten die Zweige dieser Sippe geteilt hatten. Die einen waren Krieger und Gefolgsleute der Staufer geworden und hatten von Kaiser Friedrich Barbarossa die Grafenwürde erhalten. Der andere Zweig hatte sich auf den Handel verlegt, sie waren Kauffahrer und durch glückliche Fügung sehr reich geworden. Weniger glücklich verlief das Familienleben, denn es gab keine Kinder. Über mehrere Generationen hatte es gerade immer zu einem Sohn gereicht, zuletzt aber war nur Giulia geblieben. So hielten es beide Familien für richtig, die beiden Zweige wieder zu vereinen, und der Brautvater konnte sich damit trösten, dass sein Name auch über die Tochter erhalten blieb.

Es wäre noch zu fragen, ob Galvano aus der Probe-Hochzeitsnacht mit der Kurtisane Julia die entsprechenden Lehren zog. Das ist schwer zu sagen, denn Giulia war von ihrem Vater schon früh in seine Geschäfte mit einbezogen worden, hatte an Verhandlungen teilgenommen und dabei ein heiter-furchtloses Wesen erworben. Die Hochzeitsnacht fand sie nicht angstvoll zitternd oder demütig-ergeben in der Erwartung ihres Gatten, sondern fest entschlossen, alles so gut und richtig wie möglich zu machen. Von Galvanos rücksichtsvollem Verhalten war sie nicht überrascht, es hatte nur ihre Erwartungen bestätigt. Sie fand die Brautnacht recht vergnüglich, öffnete sich weit und willig Galvanos Begehren und so wurde schon damals ein Sohn gezeugt, der nach Galvanos unbeugsamen Willen den Namen des Kaisers erhielt, freilich in der italischen Form Federico.

Der Hauptmann Jörg aus Innsbruck aber betrachtete von dieser Reise an seine Frau mit mehr Nachsicht. In Pisa fand er eine Witwe, die ein kleines Haus zu unterhalten und für drei Kinder zu sorgen hatte. Er mietete dort eine Dachkammer und besuchte als „guter Onkel“ seine Ersatzfamilie von Zeit zu Zeit. Die Witwe hatte nichts dagegen, dass seine Besuche meist in ihrem Bett endeten, sie war noch keine dreißig und schätzte durchaus die kräftige Hausmannskost, die dieser bärtige Deutsche zu bieten hatte.

Aus Giulia Lancia – jetzt Biancas cognata – wurde bald die Herrin des Hauses. Don Bartolomeo, dem Großvater der drei Kinder, war das ganz recht und er zog sich mehr und mehr auf seine Bücher zurück.

Der frühe kriegerische Geist des Hauses, vom Jäger Tommaso und seinem gelehrten Vater eher vernachlässigt, fand durch Giordano eine neue Belebung. Kaum mündig geworden, ging er zur Bürgerwehr, die alle waffenfähigen Männer von vierzehn bis vierzig aufnahm und durch erfahrene Krieger gründlich ausbilden ließ. Schon mit sechzehn gehörte Giordano zu den geschicktesten Armbrustschützen und war bei den alljährlichen Wettbewerben regelmäßig unter den fünf Besten. Mit dem Wurfbeil traf er einen Kürbis auf zwanzig Ellen, den Speer schleuderte er mit achtzehn so weit, dass keiner mehr gegen ihn antreten wollte. Sein jugendliches Ungestüm milderte sich allmählich, tobte sich bei den Waffenübungen aus.

Berta und Giulia, die neue Herrin des Hauses, konnten sich anfangs nicht ausstehen. Giulia hätte sich nicht gescheut, dieses Hindernis zu beseitigen, wären nicht Biancas Protest und Don Bartolomeos Einlenken gewesen. Er gab der Schwiegertochter zu verstehen, dass Berta von Anfang an Biancas eigentliche Mutter gewesen war, und so fand sich die Regelung, dass die Amme dem weiblichen Hausgesinde vorstand und dabei Giulia gegenüber verantwortlich war. Dazu erzog sie Bianca in allem, was den weiblichen Körper betraf. Don Bartolomeo aber fühlte sich für die geistige Entwicklung seiner überaus wissensdurstigen Enkelin zuständig und tat alles, um aus ihr einen rundum gebildeten Menschen zu machen.

Sie hatte den Bericht des Großvaters über die denkbare Herkunft ihrer Familie niemals vergessen, aber sowohl Lancelot wie auch der mögliche Urahn aus der kaiserlichen Leibwache waren lange tot und gesichtslos im Dunkel einer fernen Vergangenheit verschwunden. Dafür gab es den Kaiser Friedrich, der lebte und dessen Gesicht auf einer schweren Goldmünze zu sehen war, die der Großvater ihr zum zehnten Geburtstag geschenkt hatte. Die Münze war noch nicht im Umlauf, doch der Kaiser hatte Probeprägungen schlagen lassen, die er an seine treuesten Anhänger verteilte. Nach antiker Manier war sein Gesicht im Profil zu sehen, bartlos, mit strengem herrscherlichen Blick, das Haupt mit Lorbeer umwunden, die Schultern von einem altrömischen Gewand bedeckt. Die Rückseite des Augustalis – so nannte man diese Prägung – zeigte einen stolzen kaiserlichen Adler mit ausgebreiteten Flügeln. Bianca hütete die Münze als ihren größten Schatz und hatte für sie ein purpurfarbenes Kästchen anfertigen lassen, innen mit blauem Samt ausgeschlagen. Immer wieder musste ihr Bruder Galvano sich fragen lassen, ob dieses Bildnis mit der tatsächlichen Erscheinung des Kaisers übereinstimme.

„Schließlich“ – wie oft musste er das hören! – „hast du Seine Majestät von nahem gesehen.“

Dann fiel ihm etwas ein, das ihre Fragerei beenden konnte.

„Nicht so ganz nah, denn stets war er von vielen Menschen umgeben, aber halt! Warum bin ich da nicht eher draufgekommen? Großvater hat mit dem Kaiser ein längeres Gespräch unter vier Augen geführt – frag doch ihn!“

Für seine Enkelin war Don Bartolomeo immer zu sprechen, für seine Söhne nur in dringenden Fällen. Allerlei Altersbeschwerden machten ihm zu schaffen und immer häufiger hatte er das Gefühl, die ihm noch bleibenden Lebensjahre seien wie Sand, der schneller und schneller aus seinen immer kraftloser werdenden Händen rann.

Nonno, du bist der einzige aus unserer Familie, der den Kaiser aus allernächster Nähe gesehen hat – das stimmt doch?“

„Ja, Bianca, ich saß ihm an einem Tisch gegenüber.“

Sie hatte das Münzkästchen mitgebracht, öffnete es und legte es vor ihn hin.

„Stimmt dieses Bildnis mit dem überein, was du damals gesehen hast?“

Don Bartolomeo beugte sich über die Goldmünze, ja, er nahm sogar sein geschliffenes Vergrößerungsglas zur Hilfe. Er hatte es von Giulias Vater erhalten, der auch mit arabischen Ländern Handel trieb und dabei manches Seltsame zutage brachte. Dann legte er die Lupe behutsam beiseite, dachte nach und sagte schließlich:

„Ja und nein. Es gibt so etwas wie eine äußere und eine innere Ähnlichkeit. Die äußere Ähnlichkeit ist zwar da, denn der Kaiser ist bartlos, seine Augen sind groß und ausdrucksvoll, seine Nase gerade und von antiker Schönheit, sein Kinn kräftig. Größer jedoch ist die innere Ähnlichkeit, auch wenn es nicht jedem gegeben ist, sie zu erkennen. Da kann ich den Münzmeister nur loben, denn ihm ist es gelungen, die erhabene Majestät dieses Menschen darzustellen, sodass ich dir versichern kann: Die innere Ähnlichkeit des Münzbildes mit diesem Mann ist groß.“

Hatte Bianca verstanden, was der Großvater damit sagen wollte? Vielleicht nicht im Einzelnen, aber die Antwort hatte sie zufriedengestellt, es blieben keine Fragen mehr offen, die das Aussehen des Kaisers betrafen. Andere wohl, und die stellte Bianca von Zeit zu Zeit und Don Bartolomeo – über das Wirken des Kaisers meist gut informiert – versuchte sie nach bestem Wissen zu beantworten.

Bianca Lancia

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