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Mit dem Zurückerinnern ist es so eine Sache. Die einen behaupten, sie könnten sich der Zeit entsinnen, da sie an der Mutterbrust lagen, bei anderen setzt die Erinnerung erst mit dem dritten oder vierten Lebensjahr ein. Freilich gehen die meisten dabei irre und halten, was sie später von Eltern und Geschwistern erfahren, für im eigenen Gedächtnis Bewahrtes.

Bianca aber war ganz sicher, ihr sei der traurige Tag im Gedächtnis geblieben, als der Vater starb. Wenige Tage später, am neunten Oktober, sollte nämlich ihr dritter Geburtstag gefeiert werden und ihr ganzes kindliches Sinnen und Trachten war auf diesen Festtag gerichtet. Ihre nutrice unterstützte sie dabei nach Kräften und gemeinsam heckten sie Geburtstagswünsche aus. Das konnten sie – vom Spott der älteren Brüder verschont – ganz unbehelligt tun, denn die Amme Berta stammte aus Innsbruck, und sie unterhielten sich in einem bairisch gefärbten Deutsch. Bertas Mann Jörg war Söldner im Dienst der gräflichen Familie Lancia, mochte sich von seiner Frau nicht trennen und hatte sie über die Alpen geholt. Biancas Milchschwester starb bald nach der Geburt und so war Berta zu ihrer zweiten Mutter geworden.

Biancas Vater, Tommaso Lancia, war ein begeisterter Waidmann und er fieberte alljährlich der herbstlichen Jagdzeit entgegen. Die gräfliche Familie Lancia war in und um Pisa reich begütert und wenn Don Tommaso jagte, dann tat er es im Gebiet des Monte Pisano auf eigenem Grund und Boden. Er hatte seine Jagdlust nicht ererbt, denn sein Vater, Don Bartolomeo, war eher ein Gelehrter, der sich viel mit Familien- und Stadtgeschichte befasste. Freilich, auch er war ein Lehnsmann und somit dem Kaiser verpflichteter Waffenträger, aber unter Heinrich VI. war hier kein Kriegsdienst zu leisten und der Gefolgschaft Ottos des Welfen hatte er sich geschickt entzogen. Nun aber musste sein Sohn den Waffendienst leisten, aber vorerst sah es so aus, als würden unter dem neuen König friedliche Zeiten heraufziehen. So hatte sich der zum Krieger verpflichtete Bartolomeo Lancia in einen Gelehrten verwandelt. Mit heiterer Ironie betrachtete er den Jagdeifer seines Sohnes und meinte einmal, in seiner Familie habe es Feldherren, Bürgermeister, auch Notare und Richter gegeben, da könne man einen Jäger schon einmal verkraften. Er hoffe nur, sein Enkel Galvano werde sich einmal nützlicheren Dingen zuwenden. Das war Biancas älterer Bruder, Don Tommasos Erstgeborener. Mit seinen vierzehn Jahren erschien er Bianca fast schon wie ein Erwachsener. Aber es gab noch den damals achtjährigen Giordano, der – wenn es ihm gerade gefiel – grimmig über das Wohl seiner kleinen Schwester wachte.

Biancas Mutter, Donna Gaetana, entstammte einem uralten piemontesischen Adelsgeschlecht, eine dünnblütige, häufig kränkelnde Schönheit, von Mann und Söhnen vergöttert, stets zerstreut und ihren Kindern gegenüber eher nachsichtig. Die beiden Söhne, vor allem Galvano, hielten sich mehr an den Vater, während Bianca von Berta mit Liebe und der gebotenen Strenge erzogen wurde. Donna Gaetana war das ganz recht – zwar liebte sie ihre Kinder, doch sie hatte nie so recht gewusst, was sie mit ihnen anfangen sollte.

Zurück zu jenem schwarzen Tag, da Don Tommaso Lancia im Valgraziosa nahe der Ortschaft Calci seiner Lieblingsbeschäftigung nachging. Als Adliger übte er ausschließlich die Hohe Jagd aus, stellte nur dem sogenannten edlen Wild nach, also Hirsch und Reh, Steinbock und Gemse; von den Raubtieren waren es Bär, Wolf und Luchs. Dazu hätten auch Fasane, Auerhähne, Kraniche, Reiher und Schwäne gehört, doch die Pirsch auf jede Art von Vögeln lehnte er ab, auch die vom Adel besonders geschätzte Jagd mit dem abgerichteten Falken. Es entsprach seinem Wesen, beim Waidwerk den ganzen Menschen einzusetzen und nicht einem dressierten Vogel die Arbeit zu überlassen.

Nun war in diesen Tagen aus dem seiner Herrschaft unterstehenden Calci die Klage gekommen, eine Bärenplage nehme so überhand, dass die Schweinehirten sich weigerten, ihr Vieh auf die alljährliche Eichelmast in die Wälder zu treiben. Zwei von ihnen seien dabei auf gräßliche Weise schon umgekommen. Der podestà in eigener Person war nach Pisa gekommen und hatte bei der Herrschaft die Beschwerde vorgebracht.

Don Tommaso, ohnehin schon dabei, alles für die herbstliche Jagd vorzubereiten, nahm auch einige der schweren, langen Spieße mit, mit denen man den Bären zu Leibe rückte. Galvano, der Erstgeborene, sollte ihn begleiten, aber da fiel von Donna Gaetana alle Zerstreutheit ab.

„Nein, mein Lieber“, so forderte sie mit fester, entschlossener Stimme, „eine Bärenhatz ist mir für den Jungen zu gefährlich. Lasst ihn erst einmal erwachsen werden!“

Natürlich fügte sich Don Tommaso, aber Galvano fühlte sich in seinem Stolz verletzt.

„Ich bin erwachsen, Frau Mutter! Mit vierzehn ist man nach dem Gesetz …“

Da wurde Don Tommaso zornig.

„Halte deinen Mund! Deine Mutter hat recht und es war unbedacht von mir, dich auf eine Bärenjagd mitnehmen zu wollen.“

„Ihr hättet mich wenigstens zuschauen lassen können.“

Da musste Don Tommaso laut lachen.

„Auch das hat schon so manchen das Leben gekostet. Nein, mein Sohn, da warten wir noch ein paar Jahre. Ich aber darf die guten Leute nicht mehr warten lassen …“

Eilig brach Don Tommaso mit seinen Gehilfen auf, bezog im Palazzo della Città Quartier und ließ sich von den Betroffenen genau erklären, in welchem Gebiet die Hirten getötet oder wo Bären gesichtet worden waren. Auch Jörg, Bertas Mann, war unter seinen Begleitern. Seit seine Frau Biancas Amme geworden war, hatte sich auch sein Ansehen gehoben. Jörg war ein gutmütiges Raubein und fürchtete nichts, ausgenommen seine Frau. Von simplem Geist und dürftiger Sprache, war auf ihn dennoch unbedingter Verlass. Da einfache Leute nur einen Vornamen tragen und dazu meist die Bezeichnung ihrer Herkunft, ihres Berufs oder den Vornamen des Vaters, hatten italische Zungen aus ihm einen Giorgio da Ponte gemacht. An Innsbruck hätten seine Kameraden sich die Zunge zerbrochen und so wurde „Bruck“ daraus – in der Landessprache ponte.

Am nächsten Morgen brachen sie dann auf und ein paar Mutige begleiteten Don Tommaso und zeigten ihm die Stellen, wo man die zerfleischten Hirten gefunden hatte. Die Fundorte lagen nicht weit auseinander in einer kleinen Waldlichtung. Don Tommaso hatte bis jetzt keinen Bären erlegt und so wollte er sich kundig machen. Vor allem bewegte ihn die Frage, ob der Bär die Hirten getötet hatte, um an Nahrung zu gelangen. Ein alter Jägersmann aus Calci – er hatte sich sofort Don Tommaso angeschlossen – schüttelte heftig seinen Kopf.

„Nein, Herr, Bären sind keine Menschenfresser. Es ist aber so, dass sie im Spätherbst ihre bevorzugte Nahrung nicht mehr finden, sich aber für den Winterschlaf rüsten wollen. Den überstehen sie nur, wenn sie feist genug sind.“

„Du sprichst von ihrer gewohnten Nahrung? Was ist das?“

Der alte Jäger grinste.

„Bei so großen Tieren klingt es schon seltsam, aber sie bevorzugen Obst, Waldbeeren, Getreide, Pilze, Schnecken – lauter Kleinzeugs. Geht das aber zu Ende und sie fühlen sich nicht dick genug, dann reißen sie irgendwelche gerade erreichbaren Tiere. Das können Schafe sein, auch Ziegen, Kälber, sogar Pferde. In diesem Fall liefen ihnen die Schweine über den Weg und die Hirten stellten sich ihnen vermutlich entgegen. Da richtet sich dann der Bär zu seiner vollen Größe auf – das können über drei Ellen sein – und schlägt mit den Pranken zu. Zwei oder drei Hiebe genügen und der Mensch liegt da wie ein Stück Hackfleisch.“

Don Tommaso schüttelte den Kopf und fragte ärgerlich: „Sind denn diese Hirten nicht bewaffnet?“

„Nein, das hat Euer Vater verboten – die Anweisung liegt beim podestà.“

„Mein Vater? Aber der hat doch mit der Jagd …“

„Nein, Don Tommaso, da geht es nicht um die Jagd, sondern darum, die Hirten vom Wilddiebstahl abzuhalten. Ich selber war dreißig Jahre lang im Dienst Eures Vaters Jagdaufseher und habe darauf geachtet, dass dieser Befehl befolgt wurde.“

„Hm“, sagte Don Tommaso und blickte etwas verlegen drein, „da werde ich wohl mit meinem Vater reden müssen.“

Zwei Tage lang gingen sie auf die Pirsch und am Abend des dritten – auf Anraten des alten Jägers hatten sie eine tote Ziege ausgelegt – sahen sie, wie ein riesiger Braunbär sich dem Aas näherte. Er richtete sich auf und blickte schnaubend um sich. Da war Don Tommaso nicht mehr zu halten, gab seinen Gehilfen ein Zeichen und zu dritt drangen sie mit vorgestreckten Spießen auf ihn ein. Das Tier reagierte sofort. Mit schnellen Prankenhieben fegte es die Lanzen beiseite und griff den ihm Nächststehenden wütend an. Das aber war Don Tommaso, den sein Jagdeifer vorwärtstrieb. Die langen Krallen des Bären schlitzten ihm die Halsschlagader auf und noch während die anderen das Tier zu töten versuchten, verblutete Don Tommaso Lancia auf dem Waldboden. Das geschah im Jahr des Herrn 1216 am sechsten Oktober.

Auch Jörg war dabei schwer verletzt worden, die messerscharfen Krallen des Bären hatten ihm den linken Oberarm und einen Teil der Brust aufgerissen. Als Jörg in Bertas Obhut kam, war er halb verblutet und tief bewusstlos. Ihre Heilkenntnisse hatte sie von der Mutter übernommen und da hieß es bei Blutverlust und großflächigen Wunden die Blutbildung zu fördern und die Wunde so sauber wie möglich zu halten. Sie mischte starken Rotwein mit feingestoßenem Eisenrost und flößte dem Fiebernden so viel wie möglich davon ein. Das Fieber, so meinte sie, habe eher eine heilende Wirkung, solange es nicht zu hoch steige. Die Wunden behandelte sie mit einem Absud von Beinwell, wie sie diese Pflanze nannte, die auch hier auf sumpfigen Wiesen häufig zu finden war. Zwei Wochen später war Jörg schon wieder auf den Beinen und meinte, die paar Kratzer hätte er auch ohne besondere Pflege leicht überstanden. Da tippte sich Berta an die Stirn und schüttelte den Kopf. Bianca brachte diese Geste zum Lachen und Jörg ergriff die Flucht. Eine Frau und ein Mädchen, das hielt er nicht lange aus.

Donna Gaetana verfiel in tiefe Trauer, seelischer Schmerz verdunkelte ihre Tage und zeitlebens fand sie nicht mehr ans Licht zurück. Sie siedelte in ein Klosterhospiz über und starb zwei Jahre nach ihrem Gemahl. Da war Bianca gerade fünf geworden und wenn sie es auch nicht eingestand, so hielt sich ihre Trauer über den Tod der Mutter doch in Grenzen. Sie hatte ja ihre Amme Berta, mit der zusammen sie eine verschworene Gemeinschaft bildete.

Wenn sich der jetzt sechzehnjährige Galvano als zweites Familienoberhaupt besonders spreizte, dann begann Bianca in deutscher Sprache über diesen „dummstolzen Gockel“, dem „noch die Eierschalen hinter den Ohren kleben“, zu lästern. War Berta zugegen, dann gab es ein großes Gekichere auf Kosten der „Männer“ – auch der jetzt zehnjährige Giordano zählte sich dazu – und je wütender sie sich dieses „Kauderwelsch“ verbaten, umso mehr musste Bianca lachen. Natürlich wagte keiner der Brüder die Schwester anzurühren, denn sie war nun der einzige weibliche Spross in der Lancia-Familie.

Das eigentliche Familienoberhaupt war Don Bartolomeo, der die beiden schweren Schicksalsschläge mit stoischem Gleichmut ertragen hatte. In seiner Einstellung orientierte sich der Hochgebildete eher an den alten Philosophen als an der christlichen Lehre. Seneca bedeutete ihm mehr als Augustinus, aber das behielt er für sich, denn schließlich stand er einem christlichen Hauswesen vor.

Seinen beiden Enkeln versuchte er den Vater zu ersetzen, was bei Galvano leichter war als bei Giordano, aus dem ein rechter Wildfang geworden war. Dem Zehnjährigen fiel es besonders schwer, sich irgendeiner Disziplin zu unterwerfen und als er in einem Anfall von Jähzorn seinem Hauslehrer an die Gurgel ging, sah sich der sonst eher nachsichtige Großvater gezwungen, harte Maßnahmen zu ergreifen. Giordano musste vor dem Maestro niederknien und um Verzeihung bitten. Danach verabreichte ihm ein kräftiger Hausknecht dreißíg Stockhiebe und er wurde bei Wasser und Brot drei Tage lang in einen lichtlosen Kellerraum gesperrt. Ein wenig half das schon, denn Don Bartolomeo drohte seinem Enkel an, im Wiederholungsfall das Strafmaß zu verdoppeln. Sechzig Stockhiebe und sechs Tage Kellerhaft wollte der Junge doch nicht riskieren, sodass er alles daransetzte, sich wenigstens im Haus gesittet zu benehmen. Um seine Wildheit abzureagieren, fand er den Ausweg, sich draußen mit anderen, meist älteren Jungen herumzuprügeln. Da zog er nicht selten den Kürzeren, kam aus mehreren Wunden blutend und mit zahlreichen blauen Flecken nach Hause. Galvano, mit der Autorität des älteren Bruders, schalt und hänselte ihn dann, doch Don Bartolomeo mischte sich da nicht ein.

„Später wird seine Wildheit vergehen“, meinte er dann.

In diesem Fall sollte er nicht ganz recht behalten.

Auf Geheiß des Großvaters nahm Bianca ebenfalls am Unterricht des Hauslehrers teil, doch das sollte – wie er stets betonte – weder Zwang noch Pflicht sein, sondern ihr freiwilliger Entschluss. Was sie sonst selten tat: Diesmal schlug sie den Rat ihrer Amme in den Wind. Berta hatte gemeint, ein Mädchen habe die Gelehrsamkeit nicht nötig, es gebe für Frauen so viele andere, auch wichtigere Dinge, mit denen sie sich befassen sollten. Bianca blickte sie neugierig an.

„So? Dann nenne mir doch diese wichtigen Dinge.“

Die kleine, rundliche Berta geriet in einige Verlegenheit.

„Na ja, da du doch später als Haus- und Ehefrau das Gesinde beaufsichtigen musst, solltest du dich mit Dingen aus Küche und Keller befassen, solltest Gutes vom Schlechten zu unterscheiden wissen – also, ich meine zum Beispiel, wenn Fleisch oder Fisch nicht mehr genießbar sind, die essbaren Pilze von den giftigen …“

Da musste Bianca lachen.

„Aber Berta, dies alles lernt man doch mit der Zeit ganz von selber. Aber Schreiben und Lesen, Geographie und Geschichte, dieses Wissen fliegt einem nicht zu, das muss von kundigen Menschen gelehrt werden. Nachdem diese wegen meiner Brüder ohnehin ins Haus kommen, wäre es doch dumm, eine solche Gelegenheit nicht zu nutzen. Ich nehme ja keinem etwas weg und Großvater ist auch einverstanden.“

Ja, das war nun der entscheidende Punkt, denn ihre Beziehung zu Don Bartolomeo war eine ganz besondere. Bianca war sein Schatz. Die Nachfolge war durch Galvano und Giordano gesichert, die Enkelin aber konnte später in eine wichtige Familie einheiraten, natürlich eine ghibellinische.

Es wäre hier anzumerken, dass die Lancia von alters her kaiserlich gesinnt waren, wie übrigens die ganze Stadt Pisa seit Jahrhunderten auf Seiten des Kaisers stand, auch wenn er kein Staufer war. Nach der Ermordung König Philipps von Schwaben hatte sich Otto, der Welf, als deutscher König behauptet, aber dann – es war wie ein Wunder – hatte der siebzehnjährige Friedrich, bisher nur König von Sizilien, sich in Aachen die deutsche Krone aufs Haupt gesetzt, mit fast einhelliger Zustimmung der Reichsfürsten. Was nun die Heiratspläne betraf, so war das eine notwendige Familienpolitik, besaß jedoch einen weichen Kern. In Wahrheit nämlich wollte Don Bartolomeo seine Enkelin so lange wie möglich um sich haben – solange er lebte, wie er sich insgeheim eingestand. Oft führten sie ausgedehnte Gespräche, wobei Don Bartolomeo nicht selten vergaß, dass er mit einem siebenjährigen Kind über Dinge redete, die weit über dessen Verständnis lagen.

Der mehrfach vergrößerte Lancia-Palazzo – viele Generationen hatten daran gebaut – lag am nordöstlichen Stadtrand auf einem sanften Hügel zu Füßen des Monte Pisano. Früher mochte der Blick auf die Stadt noch frei gewesen sein, jetzt aber versperrten Pappeln, Platanen und mächtige Eichen die Sicht. Der Vater hatte da immer eine Schneise schlagen wollen, aber der nonno sperrte sich dagegen mit den Worten:

„Wenn wir von oben die Stadt nicht sehen, bleibt auch von unten unser Haus verborgen. Gerade das schätze ich …“

Da Don Tommaso nun tot war, gab es keine Auseinandersetzungen mehr darüber.

An einem milden, sonnigen Spätherbsttag saßen sie nach dem Mittagsmahl im Freien. Galvano und Giordano hatten sich nach dem Essen schnell verdrückt, weil sie Gespräche mit dem Großvater wegen seiner strengen Gelehrsamkeit fürchteten. Bei Bianca war das freilich nicht der Fall. Sie war gerade sieben geworden, als Don Bartolomeo plötzlich von seiner Familie zu sprechen begann.

„Deinen Brüdern habe ich es schon erklärt, sie werden ja zeitlebens Träger unseres Namens sein, während du später den deines Gatten übernehmen wirst. Trotzdem wirst du – so gut kenne ich dich – deine Herkunft niemals verleugnen und nie vergessen, dass du eine geborene Lancia bist. Was hat es also mit diesem Namen auf sich? Sprachlich gesehen, kann man ganz Verschiedenes daraus ableiten. Der Begriff einer bestimmten Waffe liegt am nächsten und wir denken an Lanze, Spieß, Speer. Aber auch für schmale Boote wird dieses Wort gebraucht, also für Kahn oder Nachen. Ebenso lässt es sich auf einen Menschen übertragen, etwa lancia für Speerwerfer. Damit nähern wir uns dem Bezug zu unserer Familie. Bei den alten Römern gab es die lancea, das war eine Wurfwaffe, welche die dafür gründlich Ausgebildeten mit tödlicher Sicherheit handhaben konnten. Die kaiserliche Leibwache nannte sich lanceari und nahm nur Männer aus angesehenen Familien auf – wenigstens in den Glanzzeiten des Römischen Reiches. Eine Familienlegende spricht davon, dass ein verdienter Centurio dieser Leibwache nach Ablauf seiner Dienstzeit mit Land in der Gegend von Pisa beschenkt wurde. Er könnte unser Urahn geworden sein. Weniger wahrscheinlich, dafür aber viel schöner, viel aufregender ist eine Herkunft vom Ritter Lancelot aus der Artussage.“

In sein beherrschtes, kluges und sorgfältig barbiertes Gesicht trat etwas wie Neugierde, eine Eigenschaft, die er sonst weniger schätzte. Aber jetzt wollte er wohl erkunden, ob Bianca von dieser Sage schon gehört hatte.

Sie lächelte verschmitzt, auf eine Weise, die keiner der Jungen zustande brachte. Die konnten nur frech grinsen oder schallend lachen.

„Habe ich davon gehört? Ich glaube schon, der Lehrer hat es einmal erwähnt.“

„Erwähnt? Ganz kurz, in Umrissen oder ausführlich?“

„Kurz nur, glaube ich.“

„Glaube, Donzella Bianca, ist ein Mangel an Wissen. Aber wie dem auch sei, du wirst dich an die berühmte Tafelrunde dieses englischen Königs erinnern können. Einer der daran teilnehmenden Ritter war Sir Lancelot. Als er am Hofe dieses Königs in Erscheinung trat, war um ihn eine Aura des Geheimnisvollen. Er kam aus der Bretagne, soll dort an einem See von einer Zauberin großgezogen worden sein. Später stellte sich heraus, dass er der Sohn des bretonischen Königs Ban und seiner Frau Alene war. Seinen Ritterschlag erhielt er von König Artus auf der Burg Kamalot, da war er gerade achtzehn Jahre alt. Von nun an musste er alle Rechte und Pflichten eines christlichen Ritters übernehmen.

Da setzt wieder unsere Familiengeschichte ein, die davon spricht, dass Lancelot in ganz jungen Jahren, kurz nach dem Ritterschlag, im Zorn einen Mann getötet hat. Bei Verstößen konnte er nur von seinesgleichen gerichtet werden und unser Lancelot wurde zu einer Pilgerfahrt ins Heilige Land verurteilt. Man könnte nun sagen, dass das Adelsgericht es einem der ihren sehr leicht machte mit dem Schuldspruch. Eine Fahrt ins Heilige Land – was ist das schon? Noch dazu waren damals die heiligen Stätten alle in christlicher Hand, beherrscht vom Oströmischen Reich. Sir Lancelot brauchte also von den Britischen Inseln bis Jerusalem christlichen Boden nicht zu verlassen. Jetzt, da die Muselmanen Palästina beherrschen, ist es viel schwieriger, wenn nicht gar unmöglich. Dem steht entgegen, dass von zehn Jerusalempilgern vielleicht einer zurückkam. Die anderen starben an irgendwelchen Krankheiten, nicht wenige fielen auf ihrer monatelangen Fahrt Piraten oder Wegelagerern in die Hände, ihre Schiffe konnten im Sturm untergehen oder an Klippen zerschellen. So betrachtet, sieht der Schuldspruch gleich anders aus, nicht wahr?“

Bianca nickte.

„Schön, dass du mir das alles erzählst, nonno. Von unserem Lehrer hätte ich es nicht so … so genau erfahren.“

Übrigens durfte nur Bianca ihn duzen; die Jungen mussten seit ihrem sechsten Lebensjahr die Höflichkeitsform benutzen.

Don Bartolomeo begann sich Sorgen zu machen, ob er seine erst siebenjährige Enkelin damit nicht überforderte. Aber sie hörte gespannt zu, während die jungen Herren zu gähnen begannen oder einwandten, dies sei alles lange, lange her, und es sei besser – so Galvano –, nach vorne zu blicken. Dabei trug der Kerl den Namen eines Ritters der Tafelrunde: Gauvain!

Biancas Stimme riss ihn aus seinen Gedanken.

„Aber wie geht die favola dann weiter?“

Er drohte ihr mit dem Finger.

„Das Wort Märchen gefällt mir in diesem Zusammenhang nicht! Könntest es ruhig storia nennen …“

„Gut, also, wie geht die Geschichte weiter?“

Er blickte sie liebevoll an und meinte in ihrem Kindergesicht den Sohn und dessen Gemahlin vereinigt zu sehen.

„Ich glaube, dass du einmal eine schöne Frau wirst …“

Sie lächelte.

„Glaube, lieber nonno, ist ein Mangel an Wissen – deine Worte.“

Da musste auch er lachen.

„Da es sich um die Zukunft handelt, ist meine Wortwahl zu entschuldigen. Die Geschichte geht so weiter, dass Sir Lancelot sich von Cornwall – das ist eine Grafschaft im äußersten Südwesten von England – auf den Weg nach Süden, ins Heilige Land machen musste. Er wird mit einem Küstensegler die französische Westküste entlanggefahren sein, vermutlich bis Bordeaux, dem Hauptort von Aquitanien und seit Römerzeiten ein wichtiger Hafen. Er hätte sonst mit dem Schiff um die Iberische Halbinsel herumsegeln müssen – ein gewaltiger Zeitverlust. So ritt er von Bordeaux die Garonne entlang bis Narbonne und von dort in zwei Tagen nach Marseille, dem alten Massilia. Wieder mit einem Küstensegler wollte er von da bis Sizilien reisen, aber in Pisa – so unsere Familiengeschichte – erkrankte er schwer. Nun, er war ein adliger Herr, mit Geld und Dienerschaft, da brachten sie ihn ins Bürgerhospiz. Dort wie auch anderswo war es christlicher Brauch, dass Bürgerfrauen sich in der Pflege der Kranken abwechselten, um Gotteslohn. Eine dieser Damen – ihren Namen kennen wir nicht – brachte ihre Tochter ins Hospiz mit, damit die vielleicht Sechzehnjährige eine Vorstellung von Krankheit und Elend bekam, sozusagen eine pädagogische Maßnahme.“

„Gibt es das heute auch noch? Ich meine, dass vornehme Damen …“

„Heute haben Nonnen diese Dienste übernommen. Zurück zu Sir Lancelot. Langsam genas er wieder und kaum war er auf den Beinen, stattete er seiner Pflegerin einen Höflichkeitsbesuch ab, der freilich mehr ihrer Tochter Julia galt. Irgendwie muss er Julias Eltern von seiner vornehmen Abstammung überzeugt haben, denn sie stimmten einer Heirat zu. Es heißt, da seien noch mehr Töchter gewesen und Lancelot habe auf eine Mitgift verzichtet. Natürlich sollte seine junge Frau mit ihm nach England gehen, wo er später seinen Platz an der Tafelrunde des Königs Artus wieder einnehmen musste. Aber da war der Schuldspruch und Lancelot hätte sein christliches Rittertum verleugnet, wäre er ihm nicht nachgekommen. Gleich nach der Hochzeitsnacht, äh, also unmittelbar nach der Trauung machte er sich auf den Weg. Wir wissen nicht, wie es ihm auf dieser gefahrvollen Reise ergangen ist, aber nach über einem Jahr kehrte er zurück. Da war sein Sohn schon einige Monate alt, doch Julia hatte die Geburt nicht überlebt. Sir Lancelot hatte wenig Zeit für Trauer, denn der Ruf des Königs Artus war hierhergedrungen; wegen eines bevorstehenden Krieges brauchte der König seine Lehensmänner im Land. So ließ Lancelot den Sohn bei den Großeltern, bat sie aber, ihn auf einen keltischen Namen zu taufen: Walwain – so hieß der Neffe seines Königs, die Bretonen sagen Gauvain. Dieser Name, mit dem bei uns unbekannten W, wurde hier in Galvanus abgeändert, denn damals sprach die kultivierte Welt noch Latein. Aus Lancelot wurde Lancia und als der Knabe mündig war, ging die Rede davon, ihn ins Land seiner Väter zu schicken, doch man fand heraus, dass dort mehrere Könige sich bis aufs Blut bekämpften. So blieb Galvano Lancia im Land seiner Mutter, ließ sich später die adlige Herkunft bestätigen und war der Stammvater unseres Geschlechts – vielleicht …“

Don Bartolomeo lächelte in die vor Staunen weit geöffneten Bernsteinaugen seiner Enkelin. Warum, so fragte er sich im Stillen, ist dieses zarte Kind meinem Herzen näher als die ganze übrige Familie? Bianca muss wohl damals schon etwas von dem Zauber besessen haben, der sie später mit einem magischen Schein umgab und dem sich kaum ein Mann entziehen konnte. Zuletzt stellte sie ihrem Großvater noch eine überraschende Frage.

„Wie mag dieser Sir Lancelot wohl ausgesehen haben? Vielleicht wie unser junger König? Du hast ihn doch gesehen?“

Er nickte.

„Ja, ich war bei der Pisaner Abordnung, die Federico in Modena begrüßte.“

Biancas Augen glänzten wie im Fieber.

„Wie sah er aus?“

„Mittelgroß, von ebenmäßiger Gestalt, rotblondes Haar, ein Antlitz voll Adel und Majestät mit leuchtend blauen Augen. Ein richtiger Staufer …“

Bei späteren Gesprächen über König Friedrich benutzte Bianca hartnäckig die deutsche Form, während der nonno und ihre Brüder bei Federico blieben. Es wurde dann zu einer Art Wettkampf, dass sie „Friedrich“ sagte und ihr das deutsche „ch“ makellos über die Lippen ging, während die anderen grinsend „Federico, Federico, Federico“ skandierten.

Bianca Lancia

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