Читать книгу Spuren im Sand - Sieglinde Breitschwerdt - Страница 4
Julia und Jessica
ОглавлениеWie durch Watte vernahm Julia die Hinweise, die Herr Bölt, der Mathematiklehrer, für die nächste Klausur gab. Seufzend lehnte sie sich zurück. Ob sie nun aufpasste oder nicht, es hatte sowieso keinen Zweck. In Mathe war und blieb sie eben eine Niete, wie Jessica...
Jessica Blumenhagen, der Star in der täglichen Serie ‚Spuren im Sand‘..
Ruhelos huschten ihre Augen zur Uhr. In zehn Minuten begann die neue Folge.
Sie dachte an Jessica, die gestern von ihrem Pferd abgeworfen wurde. Aufgeregt begann ihr Herz zu klopfen. In Gedanken tauchte sie in die gestrige Folge ein...
Wiehernd und schnaubend stieg das Pferd und schüttelte die Reiterin gnadenlos ab. Verzweifelt versuchte sich Jessica festzuhalten, griff in die Zügel, doch es half nichts. Sie stürzte aus dem Sattel und blieb im Steigbügel hängen.
„Marquis“, schrie sie gellend, doch ihr Pferd verfiel von einer Sekunde zur anderen in einen mörderischen Galopp. Jessicas Körper wurde hinterhergeschleift - plötzlich riss der Steigbügel, und sie wurde ins Gebüsch geschleudert. Hart schlug ihr Kopf gegen den Baumstumpf. Blutüberströmt sackte das junge Mädchen zusammen und blieb reglos liegen.
Eine dunkel gewandte Gestalt näherte sich vorsichtig, so als wollte sie sicher gehen, dass Jessica wirklich ohne Bewusstsein war. Für den Bruchteil einer Sekunde beugte sie sich über die schwer verletzte Reiterin und legte ihr eine weiße Lilie in den Schoß...
Das war das Ende der gestrigen Folge. In Julias Kopf dröhnte noch der schrille Ton des Martinshorn, das die Titelmelodie übertönte, dann folgte der Abspann. Jessica! Nein, sie durfte nicht sterben! Jessica war schließlich der Star in ‚Spuren im Sand‘.
Julia Brandt saß wie auf Kohlen, ignorierte die herablassenden Blicke ihrer Mitschüler und blickte wie hypnotisiert zur Uhr.
„Los!“, flüsterte sie ihrer Freundin Tanja zu, die neben ihr saß. Sven Kramer, der in der anderen Bankreihe hockte, grinste breit.
Noch zwanzig Sekunden... nur noch zehn! Endlich! Die dämliche Schulglocke klingelte zur großen Pause. Gleichzeitig sprangen Julia und Tanja auf, schlängelten sich durch die Bänke, stolperten über Taschen und Rucksäcke und hätten beinahe Herrn Bölt angerempelt.
„Sorry“, murmelte Julia verlegen.
„Auch sorry“, feixte Tanja.
„He, Ladys, ich komm‘ mit“, rief Sven und heftete sich an ihre Fersen. Ein amüsiertes Gekicher schwoll durch das Klassenzimmer.
„Viele Grüße an Jessi“, säuselte Manuel.
„Wir sollten eine Selbsthilfegruppe für Soapsüchtige gründen“, kicherte Doro, dem ein vergnügtes Gekreische folgte.
„Mann, leg ‚nen Zahn zu!“, feuerte Julia ihre Freundin an.
„Schneller kann ich nicht!“ keuchte Tanja.
„He, bleibt mal ganz cool“, brüllte Sven hinter ihnen her. „Ihr habt noch mindestens 30 Sekunden Zeit!“
„Verpiss dich!“, hechelte Julia.
„Vergiss es! Ich will dabei sein, wenn ihr beide ausflippt, weil Jessi vielleicht abkratzt!“
Sven grinste und schien kein bisschen außer Atem zu sein.
Julia verkniff sich jede Bemerkung. Der Gute hatte ja keine Ahnung – außer in Mathe und am Computer. Sie kannte ihn erst ein paar Monate, seit sie mit ihrer Schwester in diese Stadt gezogen war. Sofort hatte er sie in Beschlag genommen und sich selbst zu ihrem persönlichen Begleiter auserkoren. Sven und seine Eltern bewohnten das Haus auf dem Nachbargrundstück.
„Was gibt’s denn diesmal?“, erkundigte er sich scheinheilig. Mit einer Hand hielt er Julia fest und ließ seinen Bizep spielen.
„Ein neuer Lover? Oder Jessis erste Big-Love-Night mit so ‚nem aufgepepptem Gay?“
Verärgert riss sie sich los und sprintete los. Die letzten Meter bis zum Hausmeisterbüro rannte sie, schoss durch die Tür und eilte schnurstracks zum Fernseher. Die Titelmusik von ‚Spuren im Sand“ lief schon...
Die Kamera zoomte auf Jessica, die von den Sanitätern in die Notaufnahme des Krankenhauses geschoben wurde. Auf ihrer Brust lag eine weiße Lilie...
Julia atmete auf. Sie hatte also noch nichts versäumt.
„Tag“, grüßte sie, lächelte flüchtig und heftete sofort ihren Blick wieder auf den Bildschirm.
„Setz dich lieber dorthin, Julia. Tanja, hier ist noch Platz. Macht‘ s euch bequem!“
Mann, wann hörte der Alte endlich auf zu quatschen, keifte Julia in sich hinein.
Willi Hahn, der Hausmeister, lächelte Sven an und hob bedauernd die Schultern.
„Tut mir Leid! Hatte keine Ahnung, dass du auch kommst.“
„No Problem“, erwiderte Sven und hockte sich im Schneidersitz auf den Boden. Unwillig entdeckte er einen kleinen, angetrockneten Sketchupfleck und versuchte ihn mit dem Fingernagel abzukratzen. Willi Hahn verschränkte die Arme vor die Brust. „Schlimme Sache, der Unfall gestern“, kommentierte er.
Julia nickte, ohne den Blick vom Bildschirm zu nehmen. Jessica sah so furchtbar aus. Ob von den vielen Verletzungen Narben zurückblieben? Ihre Reithose und der beigefarbene Pullover waren mit Blut verschmiert.
Lächelnd strich sie sich über die Ärmel ihres Pullovers, der fast so aussah wie der Jessicas...
Die Schwingtüren der Notaufnahme öffnete sich und Lutz eilte zu der Schwerverletzten.Lutz Berger, der neu in der Belegschaft der Serie ‘Spuren im Sand’ war...
„O wow“, flüsterte Julia erwartungsvoll. Jessica und Lutz! Erleichtert atmete sie auf. Gott sei dank, Jessica würde überleben. Lutz war gewiss nur wegen ihr engagiert worden.
Kichernd stieß ihr Tanja in die Rippen.
„Na, was hab‘ ich dir gesagt?“, flüsterte sie. „Die beiden, das gibt ‚ne heiße Nummer!“
„Echtes Glück, dass der aufgetaucht ist!“, äußerte sich Willi Hahn. „Wenn der nicht wäre, dann...“
Gereizt blickten die Mädchen in seine Richtung und er verstummte sofort.
Polternd betrat Herr Professor Dr. Stolpe die Notaufnahme. Mit einem Blick erfasste er die Situation, teilte Befehle aus, sagte jedem, was zu tun sei. Krankenschwestern und Assistenten schwirrten aufgeregt umher, um seine Anweisungen auszuführen. Plötzlich bemerkte der Professor die weiße Lilie.
„Was soll das?“, knurrte er.
Einer der Sanitäter zuckte die Schultern.
„Als wir die junge Frau fanden, lag sie in ihrem Schoß!“
Der Professor kratzte sich nachdenklich am Kinn.
„Merkwürdig“, murmelte er. „Aber ich denke, wir sollten die Polizei einschalten!“...
Julia tauchte voll und ganz in die Serie ein. Jessica Blumenhagen. Julia Brandt. Sie hatte die gleichen Initialen wie sie. Warum war sie nicht Jessica? Jessica besaß alles, was sie sich auch wünschte.Jessica lebte in einer Villa. Sie lebte mit ihrer älteren Schwester Stefanie in einem kleinen und stark renovierungsbedürftigen Häuschen.Jessica hatte so viel Geld. Sie bekam nur ein knappes Taschengeld, das hinten und vorne nicht reichte. Natürlich besaß Jessica ein eigenes Pferd, während sie sich jede Reitstunde mühsam mit Babysitten zusammensparte.Das Geschehen auf dem Bildschirm holte sie zurück...
Jessica wurde aus dem OP in ihr Zimmer gerollt. Lutz beugte sich zu ihr herunter und griff nach ihrer Hand. Jessicas Lippen zitterten...
Julia fühlte, wie ihre eigenen Lippen zu zittern begannen. Sie bemerkte nicht einmal, dass sie seufzte, bis sie Sven abfällig murmeln hörte: „Und ihr seid wie die Bekloppten hierher gezischt, um diesen Schwachsinn zu glotzen?“
„Wer wollte denn absolut dabei sein?“, konterte Julia gereizt.
„Ladys, ich versteh‘ euch nicht, wie ihr euch das antun könnt?“ Sven säuselte affektiert mit angehobener Stimme: „O Darling, ich bin ganz groggy!“
Seine Stimme fiel in eine tiefere Tonlage, und er imitierte Lutz Berger: „O Baby, bleib cool!“
Sven verdrehte die Augen und seine Stimme wurde wieder hoch.
„O Darling, warum hast du...“
„Halt endlich die Klappe, du Arsch!“, wies ihn Tanja scharf zurecht.
Julia starrte gebannt auf den Bildschirm.
Die Kamera zoomte auf den Pferderücken und zeigte eine klaffende, blutende Wunde, dann fuhr sie weiter auf den Sattel und endete in einem Close-up. Im Sattel steckte ein spitzer, grell funkelnder Nagel. Ein weiteres Close-up zeigte, dass der Riemen des Steigbügels eine frische Schnittstelle aufwies...
Entsetzt presste Julia die Hand vor den Mund, um nicht hysterisch loszuschreien. Jemand wollte Jessica umbringen.
„Na, was hab‘ ich gesagt“, feixte Sven. „Jessi kratzt bald ab!“
„Halt endlich die Klappe!“, schnauzte Julia ihn an. Außerdem benahm er sich ihr gegenüber seit einiger Zeit seltsam. Tief in ihrem Inneren wusste Julia warum. Nach der Karnevalsfete versuchte er sie zu küssen – und sie hatte ihn kichernd abgewiesen. Allein der Gedanke, sich von Sven küssen zu lassen, fand sie zu komisch. Er war ein Kumpel, höchstens noch ein großer Bruder – mehr nicht.
„Julia, sieh mal! Gleich knutscht er...“
„Wenn’s dir nicht gefällt, Sven, dann zieh Leine!“, zischte Julia aufgebracht und blickte rasch wieder zum Bildschirm.
Mit zärtlichem Lächeln griff Lutz nach Jessicas Hand...