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I. KAPITEL

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Inhaltsverzeichnis

Wenn die seelenärztliche Forschung, die sich sonst mit schwächlichem Menschenmaterial begnügt, an einen der Großen des Menschengeschlechts herantritt, so folgt sie dabei nicht den Motiven, die ihr von den Laien so häufig zugeschoben werden. Sie strebt nicht danach, »das Strahlende zu schwärzen und das Erhabene in den Staub zu ziehen«; es bereitet ihr keine Befriedigung, den Abstand zwischen jener Vollkommenheit und der Unzulänglichkeit ihrer gewöhnlichen Objekte zu verringern. Sondern sie kann nicht anders, als alles des Verständnisses wert finden, was sich an jenen Vorbildern erkennen läßt, und sie meint, es sei niemand so groß, daß es für ihn eine Schande wäre, den Gesetzen zu unterliegen, die normales und krankhaftes Tun mit gleicher Strenge beherrschen.

Als einer der größten Männer der italienischen Renaissance ist Leonardo da Vinci (1452–1519) schon von den Zeitgenossen bewundert worden und doch bereits ihnen rätselhaft erschienen, wie auch jetzt noch uns. Ein allseitiges Genie, »dessen Umrisse man nur ahnen kann – nie ergründen«, übte er den maßgebendsten Einfluß auf seine Zeit als Maler aus; erst uns blieb es vorbehalten, die Größe des Naturforschers (und Technikers) zu erkennen, der sich in ihm mit dem Künstler verband. Wenngleich er Meisterwerke der Malerei hinterlassen, während seine wissenschaftlichen Entdeckungen unveröffentlicht und unverwertet blieben, hat doch in seiner Entwicklung der Forscher den Künstler nie ganz freigelassen, ihn oftmals schwer beeinträchtigt und ihn vielleicht am Ende unterdrückt. Vasari legt ihm in seiner letzten Lebensstunde den Selbstvorwurf in den Mund, daß er Gott und die Menschen beleidigt, indem er in seiner Kunst nicht seine Pflicht getan. Und wenn auch diese 92 Erzählung Vasaris weder die äußere noch viel innere Wahrscheinlichkeit für sich hat, sondern der Legende angehört, die sich um den geheimnisvollen Meister schon zu seinen Lebzeiten zu bilden begann, so verbleibt ihr doch als Zeugnis für das Urteil jener Menschen und jener Zeiten ein unbestreitbarer Wert.

Was war es, was die Persönlichkeit Leonardos dem Verständnis seiner Zeitgenossen entrückte? Gewiß nicht die Vielseitigkeit seiner Anlagen und Kenntnisse, die ihm gestattete, sich am Hofe des Lodovico Sforza, zubenannt il Moro, Herzogs von Mailand, als Lautenspieler auf einem von ihm neugeformten Instrumente einzuführen, oder ihn jenen merkwürdigen Brief an eben denselben schreiben ließ, in dem er sich seiner Leistungen als Bau-und Kriegsingenieur berühmte. Denn an solche Vereinigung vielfältigen Könnens in einer Person waren die Zeiten der Renaissance wohl gewöhnt; allerdings war Leonardo selbst eines der glänzendsten Beispiele dafür. Auch gehörte er nicht jenem Typus genialer Menschen an, die, von der Natur äußerlich karg bedacht, ihrerseits keinen Wert auf die äußerlichen Formen des Lebens legen und in der schmerzlichen Verdüsterung ihrer Stimmung den Verkehr der Menschen fliehen. Er war vielmehr groß und ebenmäßig gewachsen, von vollendeter Schönheit des Gesichts und von ungewöhnlicher Körperkraft, bezaubernd in den Formen seines Umgangs, ein Meister der Rede, heiter und liebenswürdig gegen alle; er liebte die Schönheit auch an den Dingen, die ihn umgaben, trug gern prunkvolle Gewänder und schätzte jede Verfeinerung der Lebensführung. In einer für seine heitere Genußfähigkeit bedeutsamen Stelle des Traktats über Malerei hat er die Malerei mit ihren Schwesterkünsten verglichen und die Beschwerden der Arbeit des Bildhauers geschildert: »Da hat er das Gesicht ganz beschmiert und mit Marmorstaub eingepudert, so daß er wie ein Bäcker ausschaut, und ist mit kleinen Marmorsplittern über und über bedeckt, daß es aussieht, als hätte es ihm auf den Buckel geschneit, und seine Behausung, die ist voll Steinsplitter und Staub. Ganz das Gegenteil von alle diesem ist beim Maler der Fall – … denn der Maler sitzt mit großer Bequemlichkeit vor seinem Werke, wohlgekleidet, und regt den ganz leichten Pinsel mit den anmutigen Farben. Mit Kleidern ist er 93 geschmückt, wie es ihm gefällt. Und seine Behausung, die ist voll heiterer Malereien und glänzend reinlich. Oft hat er Gesellschaft, von Musik, oder von Vorlesern verschiedener schöner Werke, und das wird ohne Hammergedröhn oder sonstigen Lärm mit großem Vergnügen angehört.«

Es ist ja sehr wohl möglich, daß die Vorstellung eines strahlend heiteren und genußfrohen Leonardo nur für die erste, längere Lebensperiode des Meisters recht hat. Von da an, als der Niedergang der Herrschaft des Lodovico Moro ihn zwang, Mailand, seinen Wirkungskreis und seine gesicherte Stellung zu verlassen, um ein unstetes, an äußeren Erfolgen wenig reiches Leben bis zum letzten Asyl in Frankreich zu führen, mag der Glanz seiner Stimmung verblichen und mancher befremdliche Zug seines Wesens stärker hervorgetreten sein. Auch die mit den Jahren zunehmende Wendung seiner Interessen von seiner Kunst zur Wissenschaft mußte dazu beitragen, die Kluft zwischen seiner Person und seinen Zeitgenossen zu erweitern. Alle die Versuche, mit denen er nach ihrer Meinung seine Zeit vertrödelte, anstatt emsig auf Bestellung zu malen und sich zu bereichern, wie etwa sein ehemaliger Mitschüler Perugino, erschienen ihnen als grillenhafte Spielereien oder brachten ihn selbst in den Verdacht, der »schwarzen Kunst« zu dienen. Wir verstehen ihn hierin besser, die wir aus seinen Aufzeichnungen wissen, welche Künste er übte. In einer Zeit, welche die Autorität der Kirche mit der der Antike zu vertauschen begann und voraussetzungslose Forschung noch nicht kannte, war er, der Vorläufer, ja ein nicht unwürdiger Mitbewerber von Bacon und Kopernikus, notwendig vereinsamt. Wenn er Pferde-und Menschenleichen zerlegte, Flugapparate baute, die Ernährung der Pflanzen und ihr Verhalten gegen Gifte studierte, rückte er allerdings weit ab von den Kommentatoren des Aristoteles und kam in die Nähe der verachteten Alchymisten, in deren Laboratorien die experimentelle Forschung wenigstens eine Zuflucht während dieser ungünstigen Zeiten gefunden hatte.

Für seine Malerei hatte dies die Folge, daß er ungern den Pinsel zur Hand nahm, immer weniger und seltener malte, das Angefangene meist unfertig stehenließ und sich um das weitere Schicksal seiner Werke wenig kümmerte. Das war es auch, was ihm seine Zeitgenossen zum Vorwurf machten, denen sein Verhältnis zur Kunst ein Rätsel blieb.

Mehrere der späteren Bewunderer Leonardos haben es versucht, den Makel der Unstetigkeit von seinem Charakter zu tilgen. Sie machen geltend, daß das, was man an Leonardo tadle, Eigentümlichkeit der großen 94 Künstler überhaupt sei. Auch der tatkräftige, sich in die Arbeit verbeißende Michelangelo habe viele seiner Werke unvollendet gelassen, und es sei so wenig seine Schuld gewesen wie die Leonardos im gleichen Falle. Auch sei so manches Bild nicht so sehr unfertig geblieben, als von ihm dafür erklärt worden. Was dem Laien schon ein Meisterwerk scheine, das sei für den Schöpfer des Kunstwerks immer noch eine unbefriedigende Verkörperung seiner Absichten; ihm schwebe eine Vollkommenheit vor, die er im Abbild wiederzugeben jedesmal verzage. Am wenigsten ginge es aber an, den Künstler für das endliche Schicksal verantwortlich zu machen, das seine Werke träfe.

So stichhaltig manche dieser Entschuldigungen auch sein mögen, so decken sie doch nicht den ganzen Sachverhalt, der uns bei Leonardo begegnet. Das peinliche Ringen mit dem Werke, die endliche Flucht vor ihm und die Gleichgültigkeit gegen sein weiteres Schicksal mag bei vielen anderen Künstlern wiederkehren; gewiß aber zeigte Leonardo dies Benehmen im höchsten Grade. Edm. Solmi zitiert (1910, 12) die Äußerung eines seiner Schüler: »Pareva, che ad ogni ora tremasse, quando si poneva a dipingere, e però non diede mal fine ad alcuna cosa cominciata, considerando la grandezza dell’ arte, tal che egli scorgeva errori in quelle cose, che ad altri parevano miracoli.« Seine letzten Bilder, die Leda, die Madonna di Sant’ Onofrio, der Bacchus und der San Giovanni Battista giovane seien unvollendet geblieben »come quasi intervenne di tutte le cose sue…« Lomazzo, der eine Kopie des Abendmahls anfertigte, berief sich auf die bekannte Unfähigkeit Leonardos, etwas fertig zu malen, in einem Sonett:

»Protogen che il penel di sue pitture

Non levava, agguaglio il Vinci Divo,

Di cui opra non è finita pure.«

Die Langsamkeit, mit welcher Leonardo arbeitete, war sprichwörtlich. Am Abendmahl im Kloster zu Santa Maria delle Grazie zu Mailand malte er nach den gründlichsten Vorstudien drei Jahre lang. Ein Zeitgenosse, der Novellenschreiber Matteo Bandelli, der damals als junger Mönch dem Kloster angehörte, erzählt, daß Leonardo häufig schon früh 95 am Morgen das Gerüst bestiegen habe, um bis zur Dämmerung den Pinsel nicht aus der Hand zu legen, ohne an Essen und Trinken zu denken. Dann seien Tage verstrichen, ohne daß er Hand daran anlegte, bisweilen habe er stundenlang vor dem Gemälde verweilt und sich damit begnügt, es innerlich zu prüfen. Andere Male sei er aus dem Hofe des Mailänder Schlosses, wo er das Modell des Reiterstandbildes für Francesco Sforza formte, geradewegs ins Kloster gekommen, um ein paar Pinselstriche an einer Gestalt zu machen, dann aber unverzüglich aufgebrochen. An dem Porträt der Mona Lisa, Gemahlin des Florentiners Francesco del Giocondo, malte er nach Vasaris Angabe vier Jahre lang, ohne es zur letzten Vollendung bringen zu können, wozu auch der Umstand stimmen mag, daß das Bild nicht dem Besteller abgeliefert wurde, sondern bei Leonardo verblieb, der es nach Frankreich mitnahm. Von König Franz I. angekauft, bildet es heute einen der größten Schätze des Louvre.

Wenn man diese Berichte über die Arbeitsweise Leonardos mit dem Zeugnis der außerordentlich zahlreich von ihm erhaltenen Skizzen und Studienblätter zusammenhält, die jedes in seinen Bildern vorkommende Motiv auf das vielfältigste variieren, so muß man die Auffassung weit von sich weisen, als hätten Züge von Flüchtigkeit und Unbeständigkeit den mindesten Einfluß auf Leonardos Verhältnis zu seiner Kunst gewonnen. Man merkt im Gegenteile eine ganz außerordentliche Vertiefung, einen Reichtum an Möglichkeiten, zwischen denen die Entscheidung nur zögernd gefällt wird, Ansprüche, denen kaum zu genügen ist, und eine Hemmung in der Ausführung, die sich eigentlich auch durch das notwendige Zurückbleiben des Künstlers hinter seinem idealen Vorsatz nicht erklärt. Die Langsamkeit, die an Leonardos Arbeiten von jeher auffiel, erweist sich als ein Symptom dieser Hemmung, als der Vorbote der Abwendung von der Malerei, die später eintrat. Sie war es auch, die das nicht unverschuldete Schicksal des Abendmahls bestimmte. Leonardo konnte sich nicht mit der Malerei al fresko befreunden, die ein rasches Arbeiten, solange der Malgrund noch feucht ist, erfordert; darum wählte er Ölfarben, deren Eintrocknen ihm gestattete, die Vollendung des Bildes nach Stimmung und Muße hinauszuziehen. Diese Farben lösten sich aber von dem Grunde, auf dem sie aufgetragen wurden 96 und der sie von der Mauer isolierte; die Fehler dieser Mauer und die Schicksale des Raumes kamen hinzu, um die, wie es scheint, unabwendbare Verderbnis des Bildes zu entscheiden.

Durch das Mißglücken eines ähnlichen technischen Versuchs scheint das Bild der Reiterschlacht bei Anghiari untergegangen zu sein, das er später in einer Konkurrenz mit Michelangelo an eine Wand der Sala del Consiglio in Florenz zu malen begann und auch im unfertigen Zustand im Stiche ließ. Es ist hier, als ob ein fremdes Interesse, das des Experimentators, das künstlerische zunächst verstärkt habe, um dann das Kunstwerk zu schädigen.

Der Charakter des Mannes Leonardo zeigte noch manche andere ungewöhnliche Züge und anscheinende Widersprüche. Eine gewisse Inaktivität und Indifferenz schien an ihm unverkennbar. Zu einer Zeit, da jedes Individuum den breitesten Raum für seine Betätigung zu gewinnen suchte, was nicht ohne Entfaltung energischer Aggression gegen andere abgehen kann, fiel er durch ruhige Friedfertigkeit, durch Vermeidung aller Gegnerschaften und Streitigkeiten auf. Er war mild und gütig gegen alle, lehnte angeblich die Fleischnahrung ab, weil er es nicht für gerechtfertigt hielt, Tieren das Leben zu rauben, und machte sich einen besonderen Genuß daraus, Vögeln, die er auf dem Markte kaufte, die Freiheit zu schenken. Er verurteilte Krieg und Blutvergießen und hieß den Menschen nicht so sehr den König der Tierwelt als vielmehr die ärgste der wilden Bestien. Aber diese weibliche Zartheit des Empfindens hielt ihn nicht ab, verurteilte Verbrecher auf ihrem Wege zur Hinrichtung zu begleiten, um deren von Angst verzerrte Mienen zu studieren und in seinem Taschenbuche abzuzeichnen, hinderte ihn nicht, die grausamsten Angriffswaffen zu entwerfen und als oberster Kriegsingenieur in die Dienste des Cesare Borgia zu treten. Er erschien oft wie indifferent gegen Gut und Böse, oder er verlangte mit einem besonderen Maße gemessen zu werden. In einer maßgebenden Stellung machte er den Feldzug des Cesare mit, der diesen rücksichtslosesten und treulosesten aller Gegner in den Besitz der Romagna brachte. Nicht eine Zeile der Aufzeichnungen Leonardos verrät eine Kritik oder Anteilnahme an den Vorgängen jener Tage. Der Vergleich mit Goethe während der Campagne in Frankreich ist hier nicht ganz abzuweisen.

97 Wenn ein biographischer Versuch wirklich zum Verständnis des Seelenlebens seines Helden durchdringen will, darf er nicht, wie dies in den meisten Biographien aus Diskretion oder aus Prüderie geschieht, die sexuelle Betätigung, die geschlechtliche Eigenart des Untersuchten mit Stillschweigen übergehen. Was hierüber bei Leonardo bekannt ist, ist wenig, aber dieses wenige bedeutungsvoll. In einer Zeit, die schrankenlose Sinnlichkeit mit düsterer Askese ringen sah, war Leonardo ein Beispiel von kühler Sexualablehnung, die man beim Künstler und Darsteller der Frauenschönheit nicht erwarten würde. Solmi zitiert von ihm folgenden Satz, der seine Frigidität kennzeichnet: »Der Zeugungsakt und alles, was damit in Verbindung steht, ist so abscheulich, daß die Menschen bald aussterben würden, wäre es nicht eine althergebrachte Sitte und gäbe es nicht noch hübsche Gesichter und sinnliche Veranlagungen.« Seine hinterlassenen Schriften, die ja nicht nur die höchsten wissenschaftlichen Probleme behandeln, sondern auch Harmlosigkeiten enthalten, welche uns eines so großen Geistes kaum würdig erscheinen (eine allegorische Naturgeschichte, Tierfabeln, Schwänke, Prophezeiungen, sind in einem Grade keusch – man möchte sagen: abstinent –, der in einem Werke der schönen Literatur auch heute wundernehmen würde. Sie weichen allem Sexuellen so entschieden aus, als wäre allein der Eros, der alles Lebende erhält, kein würdiger Stoff für den Wissensdrang des Forschers. Es ist bekannt, wie häufig große Künstler sich darin gefallen, ihre Phantasie in erotischen und selbst derb obszönen Darstellungen auszutoben; von Leonardo besitzen wir zum Gegensatze nur einige anatomische Zeichnungen über die inneren Genitalien des Weibes, die Lage der Frucht im Mutterleibe und dgl.

98 Es ist zweifelhaft, ob Leonardo jemals ein Weib in Liebe umarmt hat; auch von einer intimen seelischen Beziehung zu einer Frau, wie die Michelangelos zur Vittoria Colonna, ist nichts bekannt. Als er noch als Lehrling im Hause seines Meisters Verrocchio lebte, traf ihn mit anderen jungen Leuten eine Anzeige wegen verbotenen homosexuellen Umganges, die mit seinem Freispruch endete. Es scheint, daß er in diesen Verdacht geriet, weil er sich eines übel beleumundeten Knaben als Modells bediente. Als Meister umgab er sich mit schönen Knaben und Jünglingen, die er zu Schülern annahm. Der letzte dieser Schüler, Francesco Melzi, begleitete ihn nach Frankreich, blieb bis zu seinem Tode bei ihm und wurde von ihm zum Erben eingesetzt. Ohne die Sicherheit seiner modernen Biographen zu teilen, die die Möglichkeit eines sexuellen Verkehrs zwischen ihm und seinen Schülern natürlich als eine grundlose Beschimpfung des großen Mannes verwerfen, mag man es für weitaus wahrscheinlicher halten, daß die zärtlichen Beziehungen Leonardos zu den jungen Leuten, die nach damaliger Schülerart sein Leben teilten, nicht in geschlechtliche Betätigung ausliefen. Man wird ihm auch von sexueller Aktivität kein hohes Maß zumuten dürfen.

Die Eigenart dieses Gefühls-und Geschlechtslebens läßt sich im Zusammenhalt mit Leonardos Doppelnatur als Künstler und Forscher nur in einer Weise begreifen. Von den Biographen, denen psychologische Gesichtspunkte oft sehr ferne liegen, hat meines Wissens nur einer, Edm. Solmi, sich der Lösung des Rätsels genähert; ein Dichter aber, der Leonardo zum Helden eines großen historischen Romans gewählt hat, Dmitry Sergewitsch Mereschkowski, hat seine Darstellung auf solches Verständnis des ungewöhnlichen Mannes gegründet und seine Auffassung, wenn auch nicht in dürren Worten, so doch nach der Weise des Dichters in plastischem Ausdruck unverkennbar geäußert. Solmi urteilt über Leonardo: »Aber das unstillbare Verlangen, alles ihn Umgebende zu erkennen und mit kalter Überlegenheit das tiefste Geheimnis alles Vollkommenen zu ergründen, hatte Leonardos Werke dazu verdammt, stets unfertig zu bleiben.« In einem Aufsatze der Conference Fiorentine wird die Äußerung Leonardos zitiert, die sein Glaubensbekenntnis und den Schlüssel zu seinem Wesen ausliefert:

»Nessuna cosa si può amare nè odiare, se prima non si ha cognition di quella.«

Also: Man hat kein Recht, etwas zu lieben oder zu hassen, wenn man sich nicht eine gründliche Erkenntnis seines Wesens verschafft hat. Und dasselbe wiederholt Leonardo an einer Stelle des Traktats von der Malerei, wo er sich gegen den Vorwurf der Irreligiosität zu verteidigen scheint:

»Solche Tadler mögen aber stillschweigen. Denn jenes (Tun) ist die Weise, den Werkmeister so vieler bewundernswerter Dinge kennenzulernen, und dies der Weg, einen so großen Erfinder zu lieben. Denn wahrlich, große Liebe entspringt aus großer Erkenntnis des geliebten Gegenstandes, und wenn du diesen wenig kennst, so wirst du ihn nur wenig oder gar nicht lieben können …«

Der Wert dieser Äußerungen Leonardos kann nicht darin gesucht werden, daß sie eine bedeutsame psychologische Tatsache mitteilen, denn was sie behaupten, ist offenkundig falsch, und Leonardo mußte dies ebensogut wissen wie wir. Es ist nicht wahr, daß die Menschen mit ihrer Liebe oder ihrem Haß warten, bis sie den Gegenstand, dem diese Affekte gelten, studiert und in seinem Wesen erkannt haben, vielmehr lieben sie impulsiv auf Gefühlsmotive hin, die mit Erkenntnis nichts zu tun haben und deren Wirkung durch Besinnung und Nachdenken höchstens abgeschwächt wird. Leonardo konnte also nur gemeint haben, was die Menschen üben, das sei nicht die richtige, einwandfreie Liebe, man sollte so lieben, daß man den Affekt aufhalte, ihn der Gedankenarbeit unterwerfe und erst frei gewähren lasse, nachdem er die Prüfung durch das Denken bestanden hat. Und wir verstehen dabei, daß er uns sagen will, bei ihm sei es so; es wäre für alle anderen erstrebenswert, wenn sie es mit Liebe und Haß so hielten wie er selbst.

Und bei ihm scheint es wirklich so gewesen zu sein. Seine Affekte waren gebändigt, dem Forschertrieb unterworfen; er liebte und haßte nicht, sondern fragte sich, woher das komme, was er lieben oder hassen solle, und was es bedeute, und so mußte er zunächst indifferent erscheinen gegen Gut und Böse, gegen Schönes und Häßliches. Während dieser Forscherarbeit warfen Liebe und Haß ihre Vorzeichen ab und wandelten sich gleichmäßig in Denkinteresse um. In Wirklichkeit war Leonardo nicht leidenschaftslos, er entbehrte nicht des göttlichen Funkens, der mittelbar oder unmittelbar die Triebkraft – il primo motore – alles menschlichen Tuns ist. Er hatte die Leidenschaft nur in Wissensdrang verwandelt; er ergab sich nun der Forschung mit jener Ausdauer, Stetigkeit, Vertiefung, die sich aus der Leidenschaft ableiten, und auf der Höhe der geistigen Arbeit, nach gewonnener Erkenntnis, läßt er den lange zurückgehaltenen Affekt losbrechen, frei abströmen wie einen vom Strome abgeleiteten Wasserarm, nachdem er das Werk getrieben hat. Auf der Höhe einer Erkenntnis, wenn er ein großes Stück des Zusammenhanges überschauen kann, dann erfaßt ihn das Pathos und er preist in schwärmerischen Worten die Großartigkeit jenes Stückes der Schöpfung, das er studiert hat, oder – in religiöser Einkleidung – die Größe seines Schöpfers. Solmi hat diesen Prozeß der Umwandlung bei Leonardo richtig erfaßt. Nach dem Zitat einer solchen Stelle, in der Leonardo den hehren Zwang der Natur (»O mirabile necessità…«) gefeiert hat, sagt er: Tale trasfigurazione della scienza della natura in emozione, quasi direi, religiosa, è uno dei tratti caratteristici de’ manoscritti vinciani, e si trova cento e cento volte espressa ...

Man hat Leonardo wegen seines unersättlichen und unermüdlichen Forscherdranges den italienischen Faust geheißen. Aber von allen Bedenken gegen die mögliche Rückverwandlung des Forschertriebs in Lebenslust abgesehen, die wir als die Voraussetzung der Fausttragödie annehmen müssen, möchte man die Bemerkung wagen, daß die Entwicklung Leonardos an spinozistische Denkweise streift.

Die Umsetzungen der psychischen Triebkraft in verschiedene Formen der Betätigung sind vielleicht ebensowenig ohne Einbuße konvertierbar wie die der physikalischen Kräfte. Das Beispiel Leonardos lehrt, wie vielerlei anderes an diesen Prozessen zu verfolgen ist. Aus dem Aufschub, erst zu lieben, nachdem man erkannt hat, wird ein Ersatz. Man liebt und haßt nicht mehr recht, wenn man zur Erkenntnis durchgedrungen ist; man bleibt jenseits von Liebe und Haß. Man hat geforscht, anstatt zu lieben. Und darum vielleicht ist Leonardos Leben so viel ärmer an Liebe gewesen als das anderer Großer und anderer Künstler. Die stürmischen Leidenschaften erhebender und verzehrender Natur, in denen andere ihr Bestes erlebten, scheinen ihn nicht getroffen zu haben.

Und noch andere Folgen. Man hat auch geforscht, anstatt zu handeln, zu schaffen. Wer die Großartigkeit des Weltzusammenhanges und dessen Notwendigkeiten zu ahnen begonnen hat, der verliert leicht sein eigenes kleines Ich. In Bewunderung versunken, wahrhaft demütig geworden, vergißt man zu leicht, daß man selbst ein Stück jener wirkenden Kräfte ist und es versuchen darf, nach dem Ausmaß seiner persönlichen Kraft ein Stückchen jenes notwendigen Ablaufes der Welt abzuändern, der Welt, in welcher das Kleine doch nicht minder wunderbar und bedeutsam ist als das Große.

Leonardo hatte vielleicht, wie Solmi meint, im Dienste seiner Kunst zu forschen begonnen, er bemühte sich um die Eigenschaften und Gesetze des Lichts, der Farben, Schatten, der Perspektive, um sich die Meisterschaft in der Nachahmung der Natur zu sichern und anderen den gleichen Weg zu weisen. Wahrscheinlich überschätzte er schon damals den Wert dieser Kenntnisse für den Künstler. Dann trieb es ihn, noch immer am Leitseil des malerischen Bedürfnisses, zur Erforschung der Objekte der Malerei, der Tiere und Pflanzen, der Proportionen des menschlichen Körpers, vom Äußeren derselben weg zur Kenntnis ihres inneren Baues und ihrer Lebensfunktionen, die sich ja auch in ihrer Erscheinung ausdrücken und von der Kunst Darstellung verlangen. Und endlich riß ihn der übermächtig gewordene Trieb fort, bis der Zusammenhang mit den Anforderungen seiner Kunst zerriß, so daß er die allgemeinen Gesetze der Mechanik auffand, daß er die Geschichte der Ablagerungen und Versteinerungen im Arnotal erriet und bis daß er in sein Buch mit großen Buchstaben die Erkenntnis eintragen konnte: Il sole non si move. Auf so ziemlich alle Gebiete der Naturwissenschaft dehnte er seine Forschungen aus, auf jedem einzelnen ein Entdecker oder wenigstens Vorhersager und Pfadfinder. Doch blieb sein Wissensdrang auf die Außenwelt gerichtet, von der Erforschung des Seelenlebens der Menschen hielt ihn etwas fern; in der »Academia Vinciana«, für die er kunstvoll verschlungene Embleme zeichnete, war für die Psychologie wenig Raum.

Versuchte er dann von der Forschung zur Kunstübung zurückzukehren, von der er ausgegangen war, so erfuhr er an sich die Störung durch die neue Einstellung seiner Interessen und die veränderte Natur seiner psychischen Arbeit. Am Bild interessierte ihn vor allem ein Problem, und hinter diesem einen sah er ungezählte andere Probleme auftauchen, wie er es in der endlosen und unabschließbaren Naturforschung gewohnt war. Er brachte sich nicht mehr dazu, seinen Anspruch zu beschränken, das Kunstwerk zu isolieren, es aus dem großen Zusammenhang zu reißen, in den er es gehörig wußte. Nach den erschöpfendsten Bemühungen, alles in ihm zum Ausdruck zu bringen, was sich in seinen Gedanken daran knüpfte, mußte er es unfertig im Stiche lassen oder es für unvollendet erklären.

Der Künstler hatte einst den Forscher als Handlanger in seinen Dienst genommen, nun war der Diener der Stärkere geworden und unterdrückte seinen Herrn.

Wenn wir im Charakterbilde einer Person einen einzigen Trieb überstark ausgebildet finden, wie bei Leonardo die Wißbegierde, so berufen wir uns zur Erklärung auf eine besondere Anlage, über deren wahrscheinlich organische Bedingtheit meist noch nichts Näheres bekannt ist. Durch unsere psychoanalytischen Studien an Nervösen werden wir aber zwei weiteren Erwartungen geneigt, die wir gern in jedem einzelnen Falle bestätigt finden möchten. Wir halten es für wahrscheinlich, daß jener überstarke Trieb sich bereits in der frühesten Kindheit der Person betätigt hat und daß seine Oberherrschaft durch Eindrücke des Kinderlebens festgelegt wurde, und wir nehmen ferner an, daß er ursprünglich sexuelle Triebkräfte zu seiner Verstärkung herangezogen hat, so daß er späterhin ein Stück des Sexuallebens vertreten kann. Ein solcher Mensch würde also zum Beispiel forschen mit jener leidenschaftlichen Hingabe, mit der ein anderer seine Liebe ausstattet, und er könnte forschen, anstatt zu lieben. Nicht nur beim Forschertrieb, sondern auch in den meisten anderen Fällen von besonderer Intensität eines Triebes würden wir den Schluß auf eine sexuelle Verstärkung desselben wagen.

Die Beobachtung des täglichen Lebens der Menschen zeigt uns, daß es den meisten gelingt, ganz ansehnliche Anteile ihrer sexuellen Triebkräfte auf ihre Berufstätigkeit zu leiten. Der Sexualtrieb eignet sich ganz besonders dazu, solche Beiträge abzugeben, da er mit der Fähigkeit der Sublimierung begabt, das heißt imstande ist, sein nächstes Ziel gegen andere, eventuell höher gewertete und nicht sexuelle, Ziele zu vertauschen. Wir halten diesen Vorgang für erwiesen, wenn uns die Kindergeschichte, also die seelische Entwicklungsgeschichte, einer Person zeigt, daß zur Kinderzeit der übermächtige Trieb im Dienste sexueller Interessen stand. Wir finden eine weitere Bestätigung darin, wenn sich im Sexualleben reifer Jahre eine auffällige Verkümmerung dartut, gleichsam als ob ein Stück der Sexualbetätigung nun durch die Betätigung des übermächtigen Triebes ersetzt wäre.

Die Anwendung dieser Erwartungen auf den Fall des übermächtigen Forschertriebes scheint besonderen Schwierigkeiten zu unterliegen, daman gerade den Kindern weder diesen ernsthaften Trieb noch bemerkenswerte sexuelle Interessen zutrauen möchte. Indes sind diese Schwierigkeiten leicht zu beheben. Von der Wißbegierde der kleinen Kinder zeugt deren unermüdliche Fragelust, die dem Erwachsenen rätselhaft ist, solange er nicht versteht, daß alle diese Fragen nur Umschweife sind und daß sie kein Ende nehmen können, weil das Kind durch sie nur eine Frage ersetzen will, die es doch nicht stellt. Ist das Kind größer und einsichtsvoller geworden, so bricht diese Äußerung der Wißbegierde oft plötzlich ab. Eine volle Aufklärung gibt uns aber die psychoanalytische Untersuchung, indem sie uns lehrt, daß viele, vielleicht die meisten, jedenfalls die bestbegabten Kinder etwa vom dritten Lebensjahr an eine Periode durchmachen, die man als die der infantilen Sexualforschung bezeichnen darf. Die Wißbegierde erwacht bei den Kindern dieses Alters, soviel wir wissen, nicht spontan, sondern wird durch den Eindruck eines wichtigen Erlebnisses geweckt, durch die erfolgte oder nach auswärtigen Erfahrungen gefürchtete Geburt eines Geschwisterchens, in der das Kind eine Bedrohung seiner egoistischen Interessen erblickt. Die Forschung richtet sich auf die Frage, woher die Kinder kommen, geradeso, als ob das Kind nach Mitteln und Wegen suchte, ein so unerwünschtes Ereignis zu verhüten. Wir haben so mit Erstaunen erfahren, daß das Kind den ihm gegebenen Auskünften den Glauben verweigert, zum Beispiel die mythologisch so sinnreiche Storchfabel energisch abweist, daß es von diesem Akte des Unglaubens an seine geistige Selbständigkeit datiert, sich oft in erstem Gegensatze zu den Erwachsenen fühlt und diesen eigentlich niemals mehr verzeiht, daß es bei diesem Anlasse um die Wahrheit betrogen wurde. Es forscht auf eigenen Wegen, errät den Aufenthalt des Kindes im Mutterleibe und schafft sich, von den Regungen der eigenen Sexualität geleitet, Ansichten über die Herkunft des Kindes vom Essen, über sein Geborenwerden durch den Darm, über die schwer zu ergründende Rolle des Vaters, und es ahnt bereits damals die Existenz des sexuellen Aktes, der ihm als etwas Feindseliges und Gewalttätiges erscheint. Aber wie seine eigene Sexualkonstitution der Aufgabe der Kinderzeugung noch nicht gewachsen ist, so muß auch seine Forschung, woher die Kinder kommen, im Sande verlaufen und als unvollendbar im Stiche gelassen werden. Der Eindruck dieses Mißglückens bei der ersten Probe intellektueller Selbständigkeit scheint ein nachhaltiger und tief deprimierender zu sein.

Wenn die Periode der infantilen Sexualforschung durch einen Schub energischer Sexualverdrängung abgeschlossen worden ist, leiten sich für das weitere Schicksal des Forschertriebes drei verschiedene Möglichkeiten aus seiner frühzeitlichen Verknüpfung mit sexuellen Interessen ab. Entweder die Forschung teilt das Schicksal der Sexualität, die Wißbegierde bleibt von da an gehemmt und die freie Betätigung der Intelligenz vielleicht für Lebenszeit eingeschränkt, besonders da kurze Zeit nachher durch die Erziehung die mächtige religiöse Denkhemmung zur Geltung gebracht wird. Dies ist der Typus der neurotischen Hemmung. Wir verstehen sehr wohl, daß die so erworbene Denkschwäche dem Ausbruch einer neurotischen Erkrankung wirksamen Vorschub leistet. In einem zweiten Typus ist die intellektuelle Entwicklung kräftig genug, um der an ihr zerrenden Sexualverdrängung zu widerstehen. Einige Zeit nach dem Untergang der infantilen Sexualforschung, wenn die Intelligenz erstarkt ist, bietet sie eingedenk der alten Verbindung ihre Hilfe zur Umgehung der Sexualverdrängung, und die unterdrückte Sexualforschung kehrt als Grübelzwang aus dem Unbewußten zurück, allerdings entstellt und unfrei, aber mächtig genug, um das Denken selbst zu sexualisieren und die intellektuellen Operationen mit der Lust und der Angst der eigentlichen Sexualvorgänge zu betonen. Das Forschen wird hier zur Sexualbetätigung, oft zur ausschließlichen, das Gefühl der Erledigung in Gedanken, der Klärung, wird an die Stelle der sexuellen Befriedigung gesetzt; aber der unabschließbare Charakter der Kinderforschung wiederholt sich auch darin, daß dies Grübeln nie ein Ende findet und daß das gesuchte intellektuelle Gefühl der Lösung immer weiter in die Ferne rückt.

Der dritte, seltenste und vollkommenste, Typus entgeht kraft besonderer Anlage der Denkhemmung wie dem neurotischen Denkzwang. Die Sexualverdrängung tritt zwar auch hier ein, aber es gelingt ihr nicht, einen Partialtrieb der Sexuallust ins Unbewußte zu weisen, sondern die Libido entzieht sich dem Schicksal der Verdrängung, indem sie sich von Anfang an in Wißbegierde sublimiert und sich zu dem kräftigen Forschertrieb als Verstärkung schlägt. Auch hier wird das Forschen gewissermaßen zum Zwang und zum Ersatz der Sexualbetätigung, aber infolge der völligen Verschiedenheit der zugrunde liegenden psychischen Prozesse (Sublimierung anstelle des Durchbruchs aus dem Unbewußten) bleibt der Charakter der Neurose aus, die Gebundenheit an die ursprünglichen Komplexe der infantilen Sexualforschung entfällt, und der Trieb kann sich frei im Dienste des intellektuellen Interesses betätigen. Der Sexualverdrängung, die ihn durch den Zuschuß von sublimierter Libido so stark gemacht hat, trägt er noch Rechnung, indem er die Beschäftigung mit sexuellen Themen vermeidet.

Wenn wir das Zusammentreffen des übermächtigen Forschertriebes bei Leonardo mit der Verkümmerung seines Sexuallebens erwägen, welches sich auf sogenannte ideelle Homosexualität einschränkt, werden wir geneigt sein, ihn als einen Musterfall unseres dritten Typus in Anspruch zu nehmen. Daß es ihm nach infantiler Betätigung der Wißbegierde im Dienste sexueller Interessen dann gelungen ist, den größeren Anteil seiner Libido in Forscherdrang zu sublimieren, das wäre der Kern und das Geheimnis seines Wesens. Aber freilich der Beweis für diese Auffassung ist nicht leicht zu erbringen. Wir bedürften hiezu eines Einblickes in die seelische Entwicklung seiner ersten Kinderjahre, und es erscheint töricht, auf solches Material zu hoffen, wenn die Nachrichten über sein Leben so spärlich und so unsicher sind und wenn es sich überdies um Auskünfte über Verhältnisse handelt, die sich noch bei Personen unserer eigenen Generation der Aufmerksamkeit der Beobachter entziehen.

Wir wissen sehr wenig von der Jugend Leonardos. Er wurde 1452 in dem kleinen Städtchen Vinci zwischen Florenz und Empoli geboren; er war ein uneheliches Kind, was in jener Zeit gewiß nicht als schwerer bürgerlicher Makel betrachtet wurde; sein Vater war Ser Piero da Vinci, ein Notar und Abkömmling einer Familie von Notaren und Landbebauern, die ihren Namen nach dem Orte Vinci führten; seine Mutter eine Caterina, wahrscheinlich ein Bauernmädchen, die später mit einem anderen Einwohner von Vinci verheiratet war. Diese Mutter kommt in der Lebensgeschichte Leonardos nicht mehr vor, nur der Dichter Mereschkowski glaubt ihre Spur nachweisen zu können. Die einzige sichere Auskunft über Leonardos Kindheit gibt ein amtliches Dokument aus dem Jahre 1457, ein Florentiner Steuerkataster, in welchem unter den Hausgenossen der Familie Vinci Leonardo als fünfjähriges illegitimes Kind des Ser Piero angeführt wird. Die Ehe Ser Pieros mit einer Donna Albiera blieb kinderlos, darum konnte der kleine Leonardo im Hause seines Vaters aufgezogen werden. Dies Vaterhaus verließ er erst, als er, unbekannt in welchem Alter, als Lehrling in die Werkstatt des Andrea del Verrocchio eintrat. Im Jahre 1472 findet sich Leonardos Name bereits im Verzeichnis der Mitglieder der »Compagnia dei Pittori«. Das ist alles.

Gesammelte Werke: Psychoanalytische Studien, Theoretische Schriften & Briefe

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