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IV. KAPITEL

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Inhaltsverzeichnis

Die Geierphantasie Leonardos hält uns noch immer fest. In Worten, welche nur allzu deutlich an die Beschreibung eines Sexualaktes anklingen (»und hat viele Male mit seinem Schwanz gegen meine Lippen gestoßen«), betont Leonardo die Intensität der erotischen Beziehungen zwischen Mutter und Kind. Es hält nicht schwer, aus dieser Verbindung der Aktivität der Mutter (des Geiers) mit der Hervorhebung der Mundzone einen zweiten Erinnerungsinhalt der Phantasie zu erraten. Wir können übersetzen: Die Mutter hat mir ungezählte leidenschaftliche Küsse auf den Mund gedrückt. Die Phantasie ist zusammengesetzt aus der Erinnerung an das Gesäugtwerden und an das Geküßtwerden durch die Mutter.

Dem Künstler hat eine gütige Natur gegeben, seine geheimsten, ihm selbst verborgenen Seelenregungen durch Schöpfungen zum Ausdruck zu bringen, welche die anderen, dem Künstler Fremden, mächtig ergreifen, ohne daß sie selbst anzugeben wüßten, woher diese Ergriffenheit rührt. Sollte in dem Lebenswerk Leonardos nichts Zeugnis ablegen von dem, was seine Erinnerung als den stärksten Eindruck seiner Kindheit bewahrt hat? Man müßte es erwarten. Wenn man aber erwägt, was für tiefgreifende Umwandlungen ein Lebenseindruck des Künstlers durchzumachen hat, ehe er seinen Beitrag zum Kunstwerk stellen darf, wird man gerade bei Leonardo den Anspruch auf Sicherheit des Nachweises auf ein ganz bescheidenes Maß herabsetzen müssen. Wer an Leonardos Bilder denkt, den wird die Erinnerung an ein merkwürdiges, berückendes und rätselhaftes Lächeln mahnen, das er auf die Lippen seiner weiblichen Figuren gezaubert hat. Ein stehendes Lächeln auf langgezogenen, geschwungenen Lippen; es ist für ihn charakteristisch geworden und wird vorzugsweise »leonardesk« genannt. In dem fremdartig schönen Antlitz der Florentinerin Mona Lisa del Giocondo hat es die Beschauer am stärksten ergriffen und in Verwirrung gebracht. Dies Lächeln verlangte nach einer Deutung und fand die verschiedenartigsten, von denen keine befriedigte. »Voilà quatre siecles bientôt que Monna Lisa fait perdre la tête à tous ceux qui parlent d’elle, après l’avoir longtemps regardée.«

Muther: »Was den Betrachter namentlich bannt, ist der dämonische Zauber dieses Lächelns. Hunderte von Dichtern und Schriftstellern haben über dieses Weib geschrieben, das bald verführerisch uns anzulächeln, bald kalt und seelenlos ins Leere zu starren scheint, und niemand hat ihr Lächeln enträtselt, niemand ihre Gedanken gedeutet. Alles, auch die Landschaft ist geheimnisvoll traumhaft, wie in gewitterschwüler Sinnlichkeit zitternd.«

Die Ahnung, daß sich in dem Lächeln der Mona Lisa zwei verschiedene Elemente vereinigen, hat sich bei mehreren Beurteilern geregt. Sie erblicken darum in dem Mienenspiel der schönen Florentinerin die vollkommenste Darstellung der Gegensätze, die das Liebesleben des Weibes beherrschen, der Reserve und der Verführung, der hingebungsvollen Zärtlichkeit und der rücksichtslos heischenden, den Mann wie etwas Fremdes verzehrenden Sinnlichkeit. So äußert Müntz: »On sait quelle énigme indéchiffrable et passionnante Monna Lisa Gioconda ne cesse depuis bientôt quatre siècles, de proposer aux admirateurs pressés devant elle. Jamais artiste (j’emprunte la plume du délicat écrivain qui se cache sous le Pseudonyme de Pierre de Corlay) ›a-t-il traduit ainsi l’essence même de la fémininité: tendresse et coquetterie, pudeur et sourde volupté, tout le mystère d’un cœur qui se réserve, d’un cerveau qui réfléchit, d’une personnalité qui se garde et ne livre d’elle-même que son rayonnement …‹« Der Italiener Angelo Conti sieht das Bild im Louvre von einem Sonnenstrahl belebt. »La donna sorrideva in una calma regale: i suoi istinti di conquista, di ferocia, tutta l’eredità della specie, la volontà della seduzione e dell’ agguato, la grazia del inganno, la bontà che cela un proposito crudele, tutto ciò appariva alternativamente e scompariva dietro il velo ridente e si fondeva nel poema del suo sorriso … Buona e malvagia, crudele e compassionevole, graziosa e felina, ella rideva …«

Leonardo malte vier Jahre an diesem Bilde, vielleicht von 1503 bis 1507, während seines zweiten Aufenthaltes in Florenz, selbst über 50 Jahre alt. Er wendete nach Vasaris Bericht die ausgesuchtesten Künste an, um die Dame während der Sitzungen zu zerstreuen und jenes Lächeln auf ihren Zügen festzuhalten. Von all den Feinheiten, die sein Pinsel damals auf der Leinwand wiedergab, hat das Bild in seinem heutigen Zustand wenig nur bewahrt; es galt, als es im Entstehen war, als das höchste, was die Kunst leisten könnte; sicher ist aber, daß es Leonardo selbst nicht befriedigte, daß er es für nicht vollendet erklärte, dem Besteller nicht ablieferte und mit sich nach Frankreich nahm, wo sein Beschützer Franz I. es von ihm für das Louvre erwarb.

Lassen wir das physiognomische Rätsel der Mona Lisa ungelöst und verzeichnen wir die unzweifelhafte Tatsache, daß ihr Lächeln den Künstler nicht minder stark fasziniert hat als alle die Beschauer seit 400 Jahren. Dies berückende Lächeln kehrt seitdem auf allen seinen Bildern und denen seiner Schüler wieder. Da die Mona Lisa Leonardos ein Porträt ist, können wir nicht annehmen, er habe ihrem Angesicht aus eigenem einen so ausdrucksschweren Zug geliehen, den sie selbst nicht besaß. Es scheint, wir können kaum anders als glauben, daß er dies Lächeln bei seinem Modell fand und so sehr unter dessen Zauber geriet, daß er von da an die freien Schöpfungen seiner Phantasie mit ihm ausstattete. Dieser naheliegenden Auffassung gibt zum Beispiel A. Konstantinowa Ausdruck:

»Während der langen Zeit, in welcher sich der Meister mit dem Porträt der Mona Lisa del Giocondo beschäftigte, hatte er sich mit solcher Teilnahme des Gefühls in die physiognomischen Feinheiten dieses Frauenantlitzes hineingelebt, daß er diese Züge – besonders das geheimnisvolle Lächeln und den seltsamen Blick – auf alle Gesichter übertrug, welche er in der Folge malte oder zeichnete; die mimische Eigentümlichkeit der Gioconda kann selbst auf dem Bilde Johannes des Täufers im Louvre wahrgenommen werden; – vor allem aber sind sie in Marias Gesichtszügen auf dem Anna Selbdritt-Bilde deutlich erkennbar.«

Allein es kann auch anders zugegangen sein. Das Bedürfnis nach einer tieferen Begründung jener Anziehung, mit welcher das Lächeln der Gioconda den Künstler ergriff, um ihn nicht mehr freizulassen, hat sich bei mehr als einem seiner Biographen geregt. W. Pater, der in dem Bilde der Mona Lisa die »Verkörperung aller Liebeserfahrung der Kulturmenschheit« sieht und sehr fein »jenes unergründliche Lächeln, welches bei Leonardo stets wie mit etwas Unheilverkündendem verbunden scheint«, behandelt, führt uns auf eine andere Spur, wenn er äußert:

»Übrigens ist das Bild ein Porträt. Wir können verfolgen, wie es sich von Kindheit auf in das Gewebe seiner Träume mischt, so daß man, sprächen nicht ausdrückliche Zeugnisse dagegen, glauben möchte, es sei sein endlich gefundenes und verkörpertes Frauenideal …«

Etwas ganz Ähnliches hat wohl M. Herzfeld im Sinne, wenn sie ausspricht, in der Mona Lisa habe Leonardo sich selbst begegnet, darum sei es ihm möglich geworden, soviel von seinem eigenen Wesen in das Bild einzutragen, »dessen Züge von jeher in rätselhafter Sympathie in Leonardos Seele gelegen haben.«

Versuchen wir diese Andeutungen zur Klarheit zu entwickeln. Es mag also so gewesen sein, daß Leonardo vom Lächeln der Mona Lisa gefesselt wurde, weil dieses etwas in ihm aufweckte, was seit langer Zeit in seiner Seele geschlummert hatte, eine alte Erinnerung wahrscheinlich. Diese Erinnerung war bedeutsam genug, um ihn nicht mehr loszulassen, nachdem sie einmal erweckt worden war; er mußte ihr immer wieder neuen Ausdruck geben. Die Versicherung Paters, daß wir verfolgen können, wie sich ein Gesicht wie das der Mona Lisa von Kindheit auf in das Gewebe seiner Träume mischt, scheint glaubwürdig und verdient wörtlich verstanden zu werden.

Vasari erwähnt als seine ersten künstlerischen Versuche »teste di femmine, che ridono«. Die Stelle, die ganz unverdächtig ist, weil sie nichts erweisen will, lautet vollständiger in deutscher Übersetzung: »indem er in seiner Jugend einige lachende weibliche Köpfe aus Erde formte, die in Gips vervielfältigt wurden, und einige Kinderköpfe, so schön, als ob sie von Meisterhand gebildet wären …«

Wir erfahren also, daß seine Kunstübung mit der Darstellung von zweierlei Objekten begann, die uns an die zweierlei Sexualobjekte mahnen müssen, welche wir aus der Analyse seiner Geierphantasie erschlossen haben. Waren die schönen Kinderköpfe Vervielfältigungen seiner eigenen kindlichen Person, so sind die lächelnden Frauen nichts anderes als Wiederholungen der Caterina, seiner Mutter, und wir beginnen die Möglichkeit zu ahnen, daß seine Mutter das geheimnisvolle Lächeln besessen, das er verloren hatte und das ihn so fesselte, als er es bei der Florentiner Dame wiederfand.

Das Gemälde Leonardos, welches der Mona Lisa zeitlich am nächsten steht, ist die sogenannte »heilige Anna selbdritt«, die heilige Anna mit Maria und dem Christusknaben. Es zeigt das leonardeske Lächeln in schönster Ausprägung an beiden Frauenköpfen. Es ist nicht zu ermitteln, um wieviel früher oder später als am Porträt der Mona Lisa Leonardo daran zu malen begann. Da beide Arbeiten sich über Jahre erstreckten, darf man wohl annehmen, daß sie den Meister gleichzeitig beschäftigt haben. Zu unserer Erwartung würde es am besten stimmen, wenn gerade die Vertiefung in die Züge der Mona Lisa Leonardo angeregt hätte, die Komposition der heiligen Anna aus seiner Phantasie zu gestalten. Denn wenn das Lächeln der Gioconda die Erinnerung an die Mutter in ihm heraufbeschwor, so verstehen wir, daß es ihn zunächst dazu trieb, eine Verherrlichung der Mütterlichkeit zu schaffen und das Lächeln, das er bei der vornehmen Dame gefunden hatte, der Mutter wiederzugeben. So dürfen wir denn unser Interesse vom Porträt der Mona Lisa auf dies andere, kaum minder schöne Bild, das sich jetzt auch im Louvre befindet, hinübergleiten lassen.

Die heilige Anna mit Tochter und Enkelkind ist ein in der italienischen Malerei selten behandelter Gegenstand; die Darstellung Leonardos weicht jedenfalls weit von allen sonst bekannten ab. Muther sagt:

»Einige Meister, wie Hans Fries, der ältere Holbein und Girolamo dai Libri, ließen Anna neben Maria sitzen und stellten zwischen beide das Kind. Andere, wie Jakob Cornelisz in seinem Berliner Bilde, zeigten im eigentlichen Wortsinn die ›heilige Anna selbdritt‹, das heißt, sie stellten sie dar, wie sie im Arme das kleine Figürchen Marias hält, auf dem das noch kleinere des Christkindes sitzt.« Bei Leonardo sitzt Maria auf dem Schoße ihrer Mutter vorgeneigt und greift mit beiden Armen nach dem Knaben, der mit einem Lämmchen spielt, es wohl ein wenig mißhandelt. Die Großmutter hat den einen unverdeckten Arm in die Hüfte gestemmt und blickt mit seligem Lächeln auf die beiden herab. Die Gruppierung ist gewiß nicht ganz ungezwungen. Aber das Lächeln, welches auf den Lippen beider Frauen spielt, hat, obwohl unverkennbar dasselbe wie im Bilde der Mona Lisa, seinen unheimlichen und rätselhaften Charakter verloren; es drückt Innigkeit und stille Seligkeit aus.

Bei einer gewissen Vertiefung in dieses Bild kommt es wie ein plötzliches Verständnis über den Beschauer: Nur Leonardo konnte dieses Bild malen, wie nur er die Geierphantasie dichten konnte. In dieses Bild ist die Synthese seiner Kindheitsgeschichte eingetragen; die Einzelheiten desselben sind aus den allerpersönlichsten Lebenseindrücken Leonardos erklärlich. Im Hause seines Vaters fand er nicht nur die gute Stiefmutter Donna Albiera, sondern auch die Großmutter, Mutter seines Vaters, Monna Lucia, die, wir wollen es annehmen, nicht unzärtlicher gegen ihn war, als Großmütter zu sein pflegen. Dieser Umstand mochte ihm die Darstellung der von Mutter und Großmutter behüteten Kindheit nahebringen. Ein anderer auffälliger Zug des Bildes gewinnt eine noch größere Bedeutung. Die heilige Anna, die Mutter der Maria und Großmutter des Knaben, die eine Matrone sein müßte, ist hier vielleicht etwas reifer und ernster als die heilige Maria, aber noch als junge Frau von unverwelkter Schönheit gebildet. Leonardo hat in Wirklichkeit dem Knaben zwei Mütter gegeben, eine, die die Arme nach ihm ausstreckt, und eine andere im Hintergrunde, und beide mit dem seligen Lächeln des Mutterglückes ausgestattet. Diese Eigentümlichkeit des Bildes hat nicht verfehlt, die Verwunderung der Autoren zu erregen; Muther meint zum Beispiel, daß Leonardo sich nicht entschließen konnte, Alter, Falten und Runzeln zu malen, und darum auch Anna zu einer Frau von strahlender Schönheit machte. Ob man sich mit dieser Erklärung zufrieden geben kann? Andere haben zur Auskunft gegriffen, die »Gleichaltrigkeit von Mutter und Tochter« überhaupt in Abrede zu stellen. Aber der Muthersche Erklärungsversuch genügt wohl für den Beweis, daß der Eindruck von der Verjüngung der heiligen Anna dem Bilde entnommen und nicht durch eine Tendenz vorgetäuscht ist.

Leonardos Kindheit war gerade so merkwürdig gewesen wie dieses Bild. Er hatte zwei Mütter gehabt, die erste seine wahre Mutter, die Catarina, der er im Alter zwischen drei und fünf Jahren entrissen wurde, und eine junge und zärtliche Stiefmutter, die Frau seines Vaters, Donna Albiera. Indem er diese Tatsache seiner Kindheit mit der ersterwähnten, der Anwesenheit von Mutter und Großmutter, zusammenzog, sie zu einer Mischeinheit verdichtete, gestaltete sich ihm die Komposition der heiligen Anna selbdritt. Die mütterliche Gestalt weiter weg vom Knaben, die Großmutter heißt, entspricht nach ihrer Erscheinung und ihrem räumlichen Verhältnis zum Knaben der echten früheren Mutter Caterina. Mit dem seligen Lächeln der heiligen Anna hat der Künstler wohl den Neid verleugnet und überdeckt, den die Unglückliche verspürte, als sie der vornehmeren Rivalin wie früher den Mann, so auch den Sohn abtreten mußte.

So wären wir von einem anderen Werke Leonardos her zur Bestätigung der Ahnung gekommen, daß das Lächeln der Mona Lisa del Giocondo in dem Manne die Erinnerung an die Mutter seiner ersten Kinderjahre erweckt hatte. Madonnen und vornehme Damen zeigten von da an bei den Malern Italiens die demütige Kopfneigung und das seltsam-selige Lächeln des armen Bauernmädchens Catarina, das der Welt den herrlichen, zum Malen, Forschen und Dulden bestimmten Sohn geboren hatte.

Wenn es Leonardo gelang, im Angesicht der Mona Lisa den doppelten Sinn wiederzugeben, den dies Lächeln hatte, das Versprechen schrankenloser Zärtlichkeit wie die unheilverkündende Drohung (nach Paters Worten), so war er auch darin dem Inhalte seiner frühesten Erinnerung treugeblieben. Denn die Zärtlichkeit der Mutter wurde ihm zum Verhängnis, bestimmte sein Schicksal und die Entbehrungen, die seiner warteten. Die Heftigkeit der Liebkosungen, auf die seine Geierphantasie deutet, war nur allzu natürlich; die arme verlassene Mutter mußte all ihre Erinnerungen an genossene Zärtlichkeiten wie ihre Sehnsucht nach neuen in die Mutterliebe einfließen lassen; sie war dazu gedrängt, nicht nur sich dafür zu entschädigen, daß sie keinen Mann, sondern auch das Kind, daß es keinen Vater hatte, der es liebkosen wollte. So nahm sie nach der Art aller unbefriedigten Mütter den kleinen Sohn anstelle ihres Mannes an und raubte ihm durch die allzu frühe Reifung seiner Erotik ein Stück seiner Männlichkeit. Die Liebe der Mutter zum Säugling, den sie nährt und pflegt, ist etwas weit tiefgreifenderes als ihre spätere Affektion für das heranwachsende Kind. Sie ist von der Natur eines vollbefriedigenden Liebesverhältnisses, das nicht nur alle seelischen Wünsche, sondern auch alle körperlichen Bedürfnisse erfüllt, und wenn sie eine der Formen des dem Menschen erreichbaren Glückes darstellt, so rührt dies nicht zum mindesten von der Möglichkeit her, auch langst verdrängte und pervers zu nennende Wunschregungen ohne Vorwurf zu befriedigen. In der glücklichsten jungen Ehe verspürt es der Vater, daß das Kind, besonders der kleine Sohn, sein Nebenbuhler geworden ist, und eine tief im Unbewußten wurzelnde Gegnerschaft gegen den Bevorzugten nimmt von daher ihren Ausgang.

Als Leonardo auf der Höhe seines Lebens jenem selig verzückten Lächeln wieder begegnete, wie es einst den Mund seiner Mutter bei ihren Liebkosungen umspielt hatte, stand er längst unter der Herrschaft einer Hemmung, die ihm verbot, je wieder solche Zärtlichkeiten von Frauenlippen zu begehren. Aber er war Maler geworden, und so bemühte er sich, dieses Lächeln mit dem Pinsel wieder zu erschaffen, und er gab es allen seinen Bildern, ob er sie nun selbst ausführte oder unter seiner Leitung von seinen Schülern ausführen ließ, der Leda, dem Johannes und dem Bacchus. Die beiden letzten sind Abänderungen desselben Typus. Muther sagt: »Aus dem Heuschreckenesser der Bibel hat Leonardo einen Bacchus, einen Apollino gemacht, der, ein rätselhaftes Lächeln auf den Lippen, die weichen Schenkel übereinander geschlagen, uns mit sinnbetörendem Auge anblickt.« Diese Bilder atmen eine Mystik, in deren Geheimnis einzudringen man nicht wagt; man kann es höchstens versuchen, den Anschluß an die früheren Schöpfungen Leonardos herzustellen. Die Gestalten sind wieder mannweiblich, aber nicht mehr im Sinne der Geierphantasie, es sind schöne Jünglinge von weiblicher Zartheit mit weibischen Formen; sie schlagen die Augen nicht nieder, sondern blicken geheimnisvoll triumphierend, als wüßten sie von einem großen Glückserfolg, von dem man schweigen muß; das bekannte berückende Lächeln läßt ahnen, daß es ein Liebesgeheimnis ist. Möglich, daß Leonardo in diesen Gestalten das Unglück seines Liebeslebens verleugnet und künstlerisch überwunden hat, indem er die Wunscherfüllung des von der Mutter betörten Knaben in solch seliger Vereinigung von männlichem und weiblichem Wesen darstellte.

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