Читать книгу Gesammelte Werke: Psychoanalytische Studien, Theoretische Schriften & Briefe - Sigmund Freud - Страница 90

III. KAPITEL

Оглавление

Inhaltsverzeichnis

In der Kindheitsphantasie Leonardos repräsentierte uns das Element des Geiers den realen Erinnerungsinhalt; der Zusammenhang, in den Leonardo selbst seine Phantasie gestellt hatte, warf ein helles Licht auf die Bedeutung dieses Inhalts für sein späteres Leben. Bei fortschreitender Deutungsarbeit stoßen wir nun auf das befremdliche Problem, warum dieser Erinnerungsinhalt in eine homosexuelle Situation umgearbeitet worden ist. Die Mutter, die das Kind säugt – besser: an der das Kind saugt –, ist in einen Geiervogel verwandelt, der dem Kinde seinen Schwanz in den Mund steckt. Wir behaupten, daß die »coda« des Geiers nach gemeinem substituierenden Sprachgebrauch gar nichts anderes als ein männliches Genitale, einen Penis, bedeuten kann. Aber wir verstehen nicht, wie die Phantasietätigkeit dazu gelangen kann, gerade den mütterlichen Vogel mit dem Abzeichen der Männlichkeit auszustatten, und werden angesichts dieser Absurdität an der Möglichkeit irre, dieses Phantasiegebilde auf einen vernünftigen Sinn zu reduzieren.

Indes wir dürfen nicht verzagen. Wieviel scheinbar absurde Träume haben wir nicht schon genötigt, ihren Sinn einzugestehen! Warum sollte es bei einer Kindheitsphantasie schwieriger werden als bei einem Traum!

Erinnern wir uns daran, daß es nicht gut ist, wenn sich eine Sonderbarkeit vereinzelt findet, und beeilen wir uns, ihr eine zweite, noch auffälligere, zur Seite zu stellen.

Die geierköpfig gebildete Göttin Mut der Ägypter, eine Gestalt von ganz unpersönlichem Charakter, wie Drexler in Roschers Lexikon urteilt, wurde häufig mit anderen mütterlichen Gottheiten von lebendigerer Individualität wie Isis und Hathor verschmolzen, behielt aber daneben ihre gesonderte Existenz und Verehrung. Es war eine besondere Eigentümlichkeit des ägyptischen Pantheons, daß die einzelnen Götter nicht im Synkretismus untergingen. Neben der Götterkomposition blieb die einfache Göttergestalt in ihrer Selbständigkeit bestehen. Diese geierköpfige mütterliche Gottheit wurde nun von den Ägyptern in den meisten Darstellungen phallisch gebildet; ihr durch die Brüste als weiblich gekennzeichneter Körper trug auch ein männliches Glied im Zustande der Erektion.

Bei der Göttin Mut also dieselbe Vereinigung mütterlicher und männlicher Charaktere wie in der Geierphantasie Leonardos! Sollen wir dies Zusammentreffen durch die Annahme aufklären, Leonardo habe aus seinen Bücherstudien auch die androgyne Natur des mütterlichen Geiers gekannt? Solche Möglichkeit ist mehr als fraglich; es scheint, daß die ihm zugänglichen Quellen von dieser merkwürdigen Bestimmung nichts enthielten. Es liegt wohl näher, die Übereinstimmung auf ein gemeinsames, hier wie dort wirksames und noch unbekanntes Motiv zurückzuführen.

Die Mythologie kann uns berichten, daß die androgyne Bildung, die Vereinigung männlicher und weiblicher Geschlechtscharaktere, nicht nur der Mut zukam, sondern auch anderen Gottheiten wie der Isis und Hathor, aber diesen vielleicht nur, insofern sie auch mütterliche Natur hatten und mit der Mut verschmolzen wurden. Sie lehrt uns ferner, daß andere Gottheiten der Ägypter, wie die Neith von Sais, aus der später die griechische Athene wurde, ursprünglich androgyn, d. i. hermaphroditisch aufgefaßt wurden und daß das gleiche für viele der griechischen Götter besonders aus dem Kreise des Dionysos, aber auch für die später zur weiblichen Liebesgöttin eingeschränkte Aphrodite galt. Sie mag dann die Erklärung versuchen, daß der dem weiblichen Körper angefügte Phallus die schöpferische Urkraft der Natur bedeuten solle und daß alle diese hermaphroditischen Götterbildungen die Idee ausdrücken, erst die Vereinigung von Männlichem und Weiblichem könne eine würdige Darstellung der göttlichen Vollkommenheit ergeben. Aber keine dieser Bemerkungen klärt uns das psychologische Rätsel, daß die Phantasie der Menschen keinen Anstoß daran nimmt, eine Gestalt, die ihr das Wesen der Mutter verkörpern soll, mit dem zur Mütterlichkeit gegensätzlichen Zeichen der männlichen Kraft zu versehen.

Die Aufklärung kommt von Seiten der infantilen Sexualtheorien. Es hatte allerdings eine Zeit gegeben, in der das männliche Genitale mit der Darstellung der Mutter vereinbar gefunden wurde. Wenn das männliche Kind seine Wißbegierde zuerst auf die Rätsel des Geschlechtslebens richtet, wird es von dem Interesse für sein eigenes Genitale beherrscht. Es findet diesen Teil seines Körpers zu wertvoll und zu wichtig, als daß es glauben könnte, er würde anderen Personen fehlen, denen es sich so ähnlich fühlt. Da es nicht erraten kann, daß es noch einen anderen, gleichwertigen Typus von Genitalbildung gibt, muß es zur Annahme greifen, daß alle Menschen, auch die Frauen, ein solches Glied wie er besitzen. Dieses Vorurteil setzt sich bei dem jugendlichen Forscher so fest, daß es auch durch die ersten Beobachtungen an den Genitalien kleiner Mädchen nicht zerstört wird. Die Wahrnehmung sagt ihm allerdings, daß da etwas anders ist als bei ihm, aber er ist nicht imstande, sich als Inhalt dieser Wahrnehmung einzugestehen, daß er beim Mädchen das Glied nicht finden könne. Daß das Glied fehlen könne, ist ihm eine unheimliche, unerträgliche Vorstellung, er versucht darum eine vermittelnde Entscheidung: das Glied sei auch beim Mädchen vorhanden, aber es sei noch sehr klein; es werde später wachsen. Scheint sich diese Erwartung bei späteren Beobachtungen nicht zu erfüllen, so bietet sich ihm ein anderer Ausweg. Das Glied war auch beim kleinen Mädchen da, aber es ist abgeschnitten worden, an seiner Stelle ist eine Wunde geblieben. Dieser Fortschritt der Theorie verwertet bereits eigene Erfahrungen von peinlichem Charakter; er hat unterdes die Drohung gehört, daß man ihm das teure Organ wegnehmen wird, wenn er sein Interesse dafür allzu deutlich betätigt. Unter dem Einfluß dieser Kastrationsandrohung deutet er jetzt seine Auffassung des weiblichen Genitales um; er wird von nun an für seine Männlichkeit zittern, dabei aber die unglücklichen Geschöpfe verachten, an denen nach seiner Meinung die grausame Bestrafung bereits vollzogen worden ist.

Ehe das Kind unter die Herrschaft des Kastrationskomplexes geriet, zur Zeit, als ihm das Weib noch als vollwertig galt, begann eine intensive Schaulust als erotische Triebbetätigung sich bei ihm zu äußern. Es wollte die Genitalien anderer Personen sehen, ursprünglich wahrscheinlich, um sie mit den eigenen zu vergleichen. Die erotische Anziehung, die von der Person der Mutter ausging, gipfelte bald in der Sehnsucht nach ihrem für einen Penis gehaltenen Genitale. Mit der erst spät erworbenen Erkenntnis, daß das Weib keinen Penis besitzt, schlägt diese Sehnsucht oft in ihr Gegenteil um, macht einem Abscheu Platz, der in den Jahren der Pubertät zur Ursache der psychischen Impotenz, der Misogynie, der dauernden Homosexualität werden kann. Aber die Fixierung an das einst heißbegehrte Objekt, den Penis des Weibes, hinterläßt unauslöschliche Spuren im Seelenleben des Kindes, welches jenes Stück infantiler Sexualforschung mit besonderer Vertiefung durchgemacht hat. Die fetischartige Verehrung des weiblichen Fußes und Schuhes scheint den Fuß nur als Ersatzsymbol für das einst verehrte, seither vermißte Glied des Weibes zu nehmen; die »Zopfabschneider« spielen, ohne es zu wissen, die Rolle von Personen, die am weiblichen Genitale den Akt der Kastration ausführen.

Man wird zu den Betätigungen der kindlichen Sexualität kein richtiges Verhältnis gewinnen und wahrscheinlich zur Auskunft greifen, diese Mitteilungen für unglaubwürdig zu erklären, solange man den Standpunkt unserer kulturellen Geringschätzung der Genitalien und der Geschlechtsfunktionen überhaupt nicht verläßt. Zum Verständnis des kindlichen Seelenlebens bedarf es urzeitlicher Analogien. Für uns sind die Genitalien schon seit einer langen Reihe von Generationen die Pudenda, Gegenstände der Scham, und bei weiter gediehener Sexualverdrängung sogar des Ekels. Wirft man einen umfassenden Blick auf das Sexualleben unserer Zeit, besonders das der die menschliche Kultur tragenden Schichten, so ist man versucht zu sagen: Widerwillig nur fügen sich die heute Lebenden in ihrer Mehrheit den Geboten der Fortpflanzung und fühlen sich dabei in ihrer menschlichen Würde gekränkt und herabgesetzt. Was an anderer Auffassung des Geschlechtslebens unter uns vorhanden ist, hat sich auf die roh gebliebenen, niedrigen Volksschichten zurückgezogen, versteckt sich bei den höheren und verfeinerten als kulturell minderwertig und wagt seine Betätigung nur unter den verbitternden Mahnungen eines schlechten Gewissens. Anders war es in den Urzeiten des Menschengeschlechts. Aus den mühseligen Sammlungen der Kulturforscher kann man sich die Überzeugung holen, daß die Genitalien ursprünglich der Stolz und die Hoffnung der Lebenden waren, göttliche Verehrung genossen und die Göttlichkeit ihrer Funktionen auf alle neu erlernten Tätigkeiten der Menschen übertrugen. Ungezählte Göttergestalten erhoben sich durch Sublimierung aus ihrem Wesen, und zur Zeit, da der Zusammenhang der offiziellen Religionen mit der Geschlechtstätigkeit bereits dem allgemeinen Bewußtsein verhüllt war, bemühten sich Geheimkulte, ihn bei einer Anzahl von Eingeweihten lebend zu erhalten. Endlich geschah es im Laufe der Kulturentwicklung, daß so viel Göttliches und Heiliges aus der Geschlechtlichkeit extrahiert war, bis der erschöpfte Rest der Verachtung verfiel. Aber bei der Unvertilgbarkeit, die in der Natur aller seelischen Spuren liegt, darf man sich nicht verwundern, daß selbst die primitivsten Formen von Anbetung der Genitalien bis in ganz rezente Zeiten nachzuweisen sind und daß Sprachgebrauch, Sitten und Aberglauben der heutigen Menschheit die Überlebsel von allen Phasen dieses Entwicklungsganges enthalten

Wir sind durch gewichtige biologische Analogien darauf vorbereitet, daß die seelische Entwicklung des Einzelnen den Lauf der Menschheitsentwicklung abgekürzt wiederhole, und werden darum nicht unwahrscheinlich finden, was die psychoanalytische Erforschung der Kinderseele über die infantile Schätzung der Genitalien ergeben hat. Die kindliche Annahme des mütterlichen Penis ist nun die gemeinsame Quelle, aus der sich die androgyne Bildung der mütterlichen Gottheiten wie der ägyptischen Mut und die »coda« des Geiers in Leonardos Kindheitsphantasie ableiten. Wir heißen ja diese Götterdarstellungen nur mißverständlich hermaphroditisch im ärztlichen Sinne des Wortes. Keine von ihnen vereinigt die wirklichen Genitalien beider Geschlechter, wie sie in manchen Mißbildungen vereinigt sind zum Abscheu jedes menschlichen Auges; sie fügen bloß den Brüsten als Abzeichen der Mütterlichkeit das männliche Glied hinzu, wie es in der ersten Vorstellung des Kindes vom Leibe der Mutter vorhanden war. Die Mythologie hat diese ehrwürdige, uranfänglich phantasierte Körperbildung der Mutter für die Gläubigen erhalten. Die Hervorhebung des Geierschwanzes in der Phantasie Leonardos können wir nun so übersetzen: Damals, als sich meine zärtliche Neugierde auf die Mutter richtete und ich ihr noch ein Genitale wie mein eigenes zuschrieb. Ein weiteres Zeugnis für die frühzeitige Sexualforschung Leonardos, die nach unserer Meinung ausschlaggebend für sein ganzes späteres Leben wurde.

Eine kurze Überlegung mahnt uns jetzt, daß wir uns mit der Aufklärung des Geierschwanzes in Leonardos Kindheitsphantasie nicht begnügen dürfen. Es scheint mehr in ihr enthalten, was wir noch nicht verstehen. Ihr auffälligster Zug war doch, daß sie das Saugen an der Mutterbrust in ein Gesäugtwerden, also in Passivität und damit in eine Situation von unzweifelhaft homosexuellem Charakter verwandelte. Eingedenk der historischen Wahrscheinlichkeit, daß sich Leonardo im Leben wie ein homosexuell Fühlender benahm, drängt sich uns die Frage auf, ob diese Phantasie nicht auf eine ursächliche Beziehung zwischen Leonardos Kinderverhältnis zu seiner Mutter und seiner späteren manifesten, wenn auch ideellen Homosexualität hinweist. Wir würden uns nicht getrauen, eine solche aus der entstellten Reminiszenz Leonardos zu erschließen, wenn wir nicht aus den psychoanalytischen Untersuchungen von homosexuellen Patienten wüßten, daß eine solche besteht, ja daß sie eine innige und notwendige ist.

Die homosexuellen Männer, die in unseren Tagen eine energische Aktion gegen die gesetzliche Einschränkung ihrer Sexualbetätigung unternommen haben, lieben es, sich durch ihre theoretischen Wortführer als eine von Anfang an gesonderte geschlechtliche Abart, als sexuelle Zwischenstufen, als ein »drittes Geschlecht« hinstellen zu lassen. Sie seien Männer, denen organische Bedingungen vom Keime an das Wohlgefallen am Mann aufgenötigt, das am Weibe versagt hätten. So gerne man nun aus humanen Rücksichten ihre Forderungen unterschreibt, so zurückhaltend darf man gegen ihre Theorien sein, die ohne Berücksichtigung der psychischen Genese der Homosexualität aufgestellt worden sind. Die Psychoanalyse bietet die Mittel, diese Lücke auszufüllen und die Behauptungen der Homosexuellen der Probe zu unterziehen. Sie hat dieser Aufgabe erst bei einer geringen Zahl von Personen genügen können, aber alle bisher vorgenommenen Untersuchungen brachten das nämliche überraschende Ergebnis. Bei allen unseren homosexuellen Männern gab es in der ersten, vom Individuum später vergessenen Kindheit eine sehr intensive erotische Bindung an eine weibliche Person, in der Regel an die Mutter, hervorgerufen oder begünstigt durch die Überzärtlichkeit der Mutter selbst, ferner unterstützt durch ein Zurücktreten des Vaters im kindlichen Leben. Sadger hebt hervor, daß die Mütter seiner homosexuellen Patienten häufig Mannweiber waren, Frauen mit energischen Charakterzügen, die den Vater aus der ihm gebührenden Stellung drängen konnten; ich habe gelegentlich das gleiche gesehen, aber stärkeren Eindruck von jenen Fällen empfangen; in denen der Vater von Anfang an fehlte oder frühzeitig wegfiel, so daß der Knabe dem weiblichen Einfluß preisgegeben war. Sieht es doch fast so aus, als ob das Vorhandensein eines starken Vaters dem Sohne die richtige Entscheidung in der Objektwahl für das entgegengesetzte Geschlecht versichern würde.

Nach diesem Vorstadium tritt eine Umwandlung ein, deren Mechanismus uns bekannt ist, deren treibende Kräfte wir noch nicht erfassen. Die Liebe zur Mutter kann die weitere bewußte Entwicklung nicht mitmachen, sie verfällt der Verdrängung. Der Knabe verdrängt die Liebe zur Mutter, indem er sich selbst an deren Stelle setzt, sich mit der Mutter identifiziert und seine eigene Person zum Vorbild nimmt, in dessen Ähnlichkeit er seine neuen Liebesobjekte auswählt. Er ist so homosexuell geworden; eigentlich ist er in den Autoerotismus zurückgeglitten, da die Knaben, die der Heranwachsende jetzt liebt, doch nur Ersatzpersonen und Erneuerungen seiner eigenen kindlichen Person sind, die er so liebt, wie die Mutter ihn als Kind geliebt hat. Wir sagen, er findet seine Liebesobjekte auf dem Wege des Narzißmus, da die griechische Sage einen Jüngling Narzissus nennt, dem nichts so wohl gefiel wie das eigene Spiegelbild und der in die schöne Blume dieses Namens verwandelt wurde.

Tieferreichende psychologische Erwägungen rechtfertigen die Behauptung, daß der auf solchem Wege homosexuell Gewordene im Unbewußten an das Erinnerungsbild seiner Mutter fixiert bleibt. Durch die Verdrängung der Liebe zur Mutter konserviert er dieselbe in seinem Unbewußten und bleibt von nun an der Mutter treu. Wenn er als Liebhaber Knaben nachzulaufen scheint, so läuft er in Wirklichkeit vor den anderen Frauen davon, die ihn untreu machen könnten. Wir haben auch durch direkte Einzelbeobachtung nachweisen können, daß der scheinbar nur für männlichen Reiz Empfängliche in Wahrheit der Anziehung, die vom Weibe ausgeht, unterliegt wie ein Normaler; aber er beeilt sich jedesmal, die vom Weibe empfangene Erregung auf ein männliches Objekt zu überschreiben, und wiederholt auf solche Weise immer wieder den Mechanismus, durch den er seine Homosexualität erworben hat.

Es liegt uns ferne, die Bedeutung dieser Aufklärungen über die psychische Genese der Homosexualität zu übertreiben. Es ist ganz unverkennbar, daß sie den offiziellen Theorien der homosexuellen Wortführer grell widersprechen, aber wir wissen, daß sie nicht umfassend genug sind, um eine endgültige Klärung des Problems zu ermöglichen. Was man aus praktischen Gründen Homosexualität heißt, mag aus mannigfaltigen psychosexuellen Hemmungsprozessen hervorgehen, und der von uns erkannte Vorgang ist vielleicht nur einer unter vielen und bezieht sich nur auf einen Typus von »Homosexualität«. Wir müssen auch zugestehen, daß bei unserem homosexuellen Typus die Anzahl der Fälle, in denen die von uns geforderten Bedingungen aufzeigbar sind, weitaus die jener Fälle übersteigt, in denen der abgeleitete Effekt wirklich eintritt, so daß auch wir die Mitwirkung unbekannter konstitutioneller Faktoren nicht abweisen können, von denen man sonst das Ganze der Homosexualität abzuleiten pflegt. Wir hätten überhaupt keinen Anlaß gehabt, auf die psychische Genese der von uns studierten Form von Homosexualität einzugehen, wenn nicht eine starke Vermutung dafür spräche, daß gerade Leonardo, von dessen Geierphantasie wir ausgegangen sind, diesem einen Typus der Homosexuellen angehört.

So wenig Näheres über das geschlechtliche Verhalten des großen Künstlers und Forschers bekannt ist, so darf man sich doch der Wahrscheinlichkeit anvertrauen, daß die Aussagen seiner Zeitgenossen nicht im gröbsten irregingen. Im Lichte dieser Überlieferungen erscheint er uns also als ein Mann, dessen sexuelle Bedürftigkeit und Aktivität außerordentlich herabgesetzt war, als hätte ein höheres Streben ihn über die gemeine animalische Not der Menschen erhoben. Es mag dahingestellt bleiben, ob er jemals und auf welchem Wege er die direkte sexuelle Befriedigung gesucht oder ob er ihrer gänzlich entraten konnte. Wir haben aber ein Recht, auch bei ihm nach jenen Gefühlsströmungen zu suchen, die andere gebieterisch zur sexuellen Tat drängen, denn wir können kein menschliches Seelenleben glauben, an dessen Aufbau nicht das sexuelle Begehren im weitesten Sinne, die Libido, ihren Anteil hätte, mag dasselbe sich auch weit vom ursprünglichen Ziel entfernt oder von der Ausführung zurückgehalten haben.

Anderes als Spuren von unverwandelter sexueller Neigung werden wir bei Leonardo nicht erwarten dürfen. Diese weisen aber nach einer Richtung und gestatten, ihn noch den Homosexuellen zuzurechnen. Es wurde von jeher hervorgehoben, daß er nur auffällig schöne Knaben und Jünglinge zu seinen Schülern nahm. Er war gütig und nachsichtig gegen sie, besorgte sie und pflegte sie selbst, wenn sie krank waren, wie eine Mutter ihre Kinder pflegt, wie seine eigene Mutter ihn betreut haben mochte. Da er sie nach ihrer Schönheit und nicht nach ihrem Talent ausgewählt hatte, wurde keiner von ihnen: Cesare da Sesto, G. Boltraffio, Andrea Salaino, Francesco Melzi und andere, ein bedeutender Maler. Meist brachten sie es nicht dazu, ihre Selbständigkeit vom Meister zu erringen, sie verschwanden nach seinem Tode, ohne der Kunstgeschichte eine bestimmtere Physiognomie zu hinterlassen. Die anderen, die sich nach ihrem Schaffen mit Recht seine Schüler nennen durften, wie Luini und Bazzi, genannt Sodoma, hat er wahrscheinlich persönlich nicht gekannt.

Wir wissen, daß wir der Einwendung zu begegnen haben, das Verhalten Leonardos gegen seine Schüler habe mit geschlechtlichen Motiven überhaupt nichts zu tun und gestatte keinen Schluß auf seine sexuelle Eigenart. Dagegen wollen wir mit aller Vorsicht geltend machen, daß unsere Auffassung einige sonderbare Züge im Benehmen des Meisters aufklärt, die sonst rätselhaft bleiben müßten. Leonardo führte ein Tagebuch; er machte in seiner kleinen, von rechts nach links geführten Schrift Aufzeichnungen, die nur für ihn bestimmt waren. In diesem Tagebuch redete er sich bemerkenswerterweise mit »du« an: »Lerne bei Meister Luca die Multiplikation der Wurzeln.« – »Laß dir vom Meister d’Abacco die Quadratur des Zirkels zeigen.« – Oder bei Anlaß einer Reise: »Ich gehe meiner Gartenangelegenheit wegen nach Mailand … Lasse zwei Tragsäcke machen. Lasse dir die Drechselbank von Boltraffio zeigen und einen Stein darauf bearbeiten. – Lasse das Buch dem Meister Andrea il Todesco.« Oder, ein Vorsatz von ganz anderer Bedeutung: »Du hast in deiner Abhandlung zu zeigen, daß die Erde ein Stern ist, wie der Mond oder ungefähr, und so den Adel unserer Welt zu erweisen.«

In diesem Tagebuch, welches übrigens – wie die Tagebücher anderer Sterblicher – oft die bedeutsamsten Begebenheiten des Tages nur mit wenigen Worten streift oder völlig verschweigt, finden sich einige Eintragungen, die ihrer Sonderbarkeit wegen von allen Biographen Leonardos zitiert werden. Es sind Aufzeichnungen über kleine Ausgaben des Meisters von einer peinlichen Exaktheit, als sollten sie von einem philiströs gestrengen und sparsamen Hausvater herrühren, während die Nachweise über die Verwendung größerer Summen fehlen und nichts sonst dafür spricht, daß der Künstler sich auf Wirtschaft verstanden habe. Eine dieser Aufschreibungen betrifft einen neuen Mantel, den er dem Schüler Andrea Salaino gekauft:

Silberbrokat

15 Lire

4 Soldi

Roten Samt zum Besatz

9 Lire

– Soldi

Schnüre

– Lire

9 Soldi

Knöpfe

– Lire

12 Soldi

Eine andere sehr ausführliche Notiz stellt alle die Ausgaben zusammen, die ihm ein anderer Schüler durch seine schlechten Eigenschaften und seine Neigung zum Diebstahl verursacht: »Am Tage 21 des April 1490 begann ich dieses Buch und begann wieder das Pferd. Jacomo kam zu mir am Magdalenentage tausend 490, im Alter von 10 Jahren. (Randbemerkung: diebisch, lügnerisch, eigensinnig, gefräßig.) Am zweiten Tage ließ ich ihm zwei Hemden schneiden, ein Paar Hosen und einen Wams, und als ich mir das Geld beiseite legte, um genannte Sachen zu bezahlen, stahl er mir das Geld aus der Geldtasche, und war es nie 129 möglich, ihn das beichten zu machen, obwohl ich davon eine wahre Sicherheit hatte (Randnote: 4 Lire …).« So geht der Bericht über die Missetaten des Kleinen weiter und schließt mit der Kostenrechnung: »Im ersten Jahr, ein Mantel, Lire 2; 6 Hemden, Lire 4; 3 Wämser, Lire 6; 4 Paar Strümpfe, Lire 7 usw.«

Die Biographen Leonardos, denen nichts ferner liegt, als die Rätsel im Seelenleben ihres Helden aus seinen kleinen Schwächen und Eigenheiten ergründen zu wollen, pflegen an diese sonderbaren Verrechnungen eine Bemerkung anzuknüpfen, welche die Güte und Nachsicht des Meisters gegen seine Schüler betont. Sie vergessen daran, daß nicht Leonardos Benehmen, sondern die Tatsache, daß er uns diese Zeugnisse desselben hinterließ, einer Erklärung bedarf. Da man ihm unmöglich das Motiv zuschreiben kann, uns Belege für seine Gutmütigkeit in die Hände zu spielen, müssen wir die Annahme machen, daß ein anderes, affektives Motiv ihn zu diesen Niederschriften veranlaßt hat. Es ist nicht leicht zu erraten, welches, und wir würden keines anzugeben wissen, wenn nicht eine andere unter Leonardos Papieren gefundene Rechnung ein helles Licht auf diese seltsam kleinlichen Notizen über Schülerkleidungen u. dgl. würfe:

»Auslagen nach dem Tode zum Begräbnis der Katharina

27

florins

2 Pfund Wachs

18

Für das Tragen und Aufrichten des Kreuzes

12

Katafalk

4

Leichenträger

8

An 4 Geistliche und 4 Kleriker

20

Glockenläuten

2

Den Totengräbern

16

Für die Genehmigung – den Beamten

1

Summa

108

florins

Frühere Auslagen:

Dem Arzt

4

florins

Für Zucker und Lichte

12

16

Summa Summarum

124

florins.«

Der Dichter Mereschkowski ist der einzige, der uns zu sagen weiß, wer diese Katharina war. Aus zwei anderen kurzen Notizen erschließt er, daß die Mutter Leonardos, die arme Bäuerin aus Vinci, im Jahre 1493 nach Mailand gekommen war, um ihren damals 41jährigen Sohn zu besuchen, daß sie dort erkrankte, von Leonardo im Spital untergebracht, und als sie starb, von ihm unter so ehrenvollem Aufwand zu Grabe gebracht worden sei.

Erweisbar ist diese Deutung des seelenkundigen Romanschreibers nicht, aber sie kann auf so viel innere Wahrscheinlichkeit Anspruch machen, stimmt so gut zu allem, was wir sonst von Leonardos Gefühlsbetätigung wissen, daß ich mich nicht enthalten kann, sie als richtig anzuerkennen. Er hatte es zustande gebracht, seine Gefühle unter das Joch der Forschung zu zwingen und den freien Ausdruck derselben zu hemmen; aber es gab auch für ihn Fälle, in denen das Unterdrückte sich eine Äußerung erzwang, und der Tod der einst so heiß geliebten Mutter war ein solcher. In dieser Rechnung über die Begräbniskosten haben wir die bis zur Unkenntlichkeit entstellte Äußerung der Trauer um die Mutter vor uns. Wir verwundern uns, wie solche Entstellung zustande kommen konnte, und können es auch unter den Gesichtspunkten der normalen seelischen Vorgänge nicht verstehen. Aber unter den abnormen Bedingungen der Neurosen und ganz besonders der sogenannten Zwangsneurose ist uns ähnliches wohlbekannt. Dort sehen wir die Äußerung intensiver, aber durch Verdrängung unbewußt gewordener Gefühle auf geringfügige, ja läppische Verrichtungen verschoben. Es ist den widerstrebenden Mächten gelungen, den Ausdruck dieser verdrängten Gefühle so sehr zu erniedrigen, daß man die Intensität dieser Gefühle für eine höchst geringfügige einschätzen müßte; aber in dem gebieterischen Zwang, mit dem sich diese kleinliche Ausdruckshandlung durchsetzt, verrät sich die wirkliche, im Unbewußten wurzelnde Macht der Regungen, die das Bewußtsein verleugnen möchte. Nur ein solcher Anklang an das Geschehen bei der Zwangsneurose kann die Leichenkostenrechnung Leonardos beim Tode seiner Mutter erklären. Im Unbewußten war er noch wie in Kinderzeiten durch erotisch gefärbte Neigung an sie gebunden; der Widerstreit der später eingetretenen Verdrängung dieser Kinderliebe gestattete nicht, daß ihr im Tagebuche ein anderes, würdigeres Denkmal gesetzt werde, aber was sich als Kompromiß aus diesem neurotischen Konflikt ergab, das mußte ausgeführt werden, und so wurde die Rechnung eingetragen und kam als Unbegreiflichkeit zur Kenntnis der Nachwelt.

Es scheint kein Wagnis, die an der Leichenrechnung gewonnene Einsicht auf die Schülerkostenrechnungen zu übertragen. Demnach wäre auch dies ein Fall, in dem sich bei Leonardo die spärlichen Reste libidinöser Regungen zwangsartig einen entstellten Ausdruck schufen. Die Mutter und die Schüler, die Ebenbilder seiner eigenen knabenhaften Schönheit, wären seine Sexualobjekte gewesen – soweit die sein Wesen beherrschende Sexualverdrängung eine solche Kennzeichnung zuläßt –, und der Zwang, die für sie gemachten Ausgaben mit peinlicher Ausführlichkeit zu notieren, wäre der befremdliche Verrat dieser rudimentären Konflikte. Es würde sich so ergeben, daß Leonardos Liebesleben wirklich dem Typus von Homosexualität angehört, dessen psychische Entwicklung wir aufdecken konnten, und das Auftreten der homosexuellen Situation in seiner Geierphantasie würde uns verständlich, denn es besagte nichts anderes, als was wir vorhin von jenem Typus behauptet haben. Es erforderte die Übersetzung: Durch diese erotische Beziehung zur Mutter bin ich ein Homosexueller geworden

Gesammelte Werke: Psychoanalytische Studien, Theoretische Schriften & Briefe

Подняться наверх