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V. KAPITEL

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Inhaltsverzeichnis

Unter den Eintragungen in den Tagebüchern Leonardos findet sich eine, die durch ihren bedeutsamen Inhalt und wegen eines winzigen formalen Fehlers die Aufmerksamkeit des Lesers festhält:

Er schreibt im Juli 1504:

»Adì 9 di Luglio 1504 mercoledi a ore 7 morì Ser Piero da Vinci, notalio al palazzo del Potestà, mio padre, a ore 7. Era d’età d’anni 80, lasciò 10 figlioli maschi e 2 femmine.«

Die Notiz handelt also vom Tode des Vaters Leonardos. Die kleine Irrung in ihrer Form besteht darin, daß die Zeitbestimmung »a ore 7« zweimal wiederholt wird, als hätte Leonardo am Ende des Satzes vergessen, daß er sie zu Anfang bereits hingeschrieben. Es ist nur eine Kleinigkeit, aus der ein anderer als ein Psychoanalytiker nichts machen würde. Vielleicht würde er sie nicht bemerken, und auf sie aufmerksam gemacht, würde er sagen: Das kann in der Zerstreutheit oder im Affekt jedem passieren und hat weiter keine Bedeutung.

Der Psychoanalytiker denkt anders; ihm ist nichts zu klein als Äußerung verborgener seelischer Vorgänge; er hat längst gelernt, daß solches Vergessen oder Wiederholen bedeutungsvoll ist, und daß man es der »Zerstreutheit« danken muß, wenn sie den Verrat sonst verborgener Regungen gestattet.

Wir werden sagen, auch diese Notiz entspricht, wie die Leichenrechnung der Caterina, die Kostenrechnungen der Schüler, einem Falle, in dem Leonardo die Unterdrückung seiner Affekte mißglückte und das lange Verhohlene sich einen entstellten Ausdruck erzwang. Auch die Form ist eine ähnliche, dieselbe pedantische Genauigkeit, die gleiche Vordringlichkeit der Zahlen.

Wir heißen eine solche Wiederholung eine Perseveration. Sie ist ein ausgezeichnetes Hilfsmittel, um die affektive Betonung anzuzeigen. Man denke zum Beispiel an die Zornesrede des heiligen Petrus gegen seinen unwürdigen Stellvertreter auf Erden in Dantes Paradiso:

»Quegli ch’usurpa in terra il luogo mio,

Il luogo mio, il luogo mio, che vaca

Nella presenza del Figliuol di Dio,

Fatto ha del cimiterio mio cloaca.«

Ohne Leonardos Affekthemmung hätte die Eintragung im Tagebuch etwa lauten können: Heute um 7 Uhr starb mein Vater, Ser Piero da Vinci, mein armer Vater! Aber die Verschiebung der Perseveration auf die gleichgültigste Bestimmung der Todesnachricht, auf die Sterbestunde, raubt der Notiz jedes Pathos und läßt uns gerade noch erkennen, daß hier etwas zu verbergen und zu unterdrücken war.

Ser Piero da Vinci, Notar und Abkömmling von Notaren, war ein Mann von großer Lebenskraft, der es zu Ansehen und Wohlstand brachte. Er war viermal verheiratet, die beiden ersten Frauen starben ihm kinderlos weg, erst von der dritten erzielte er 1476 den ersten legitimen Sohn, als Leonardo bereits 24 Jahre alt war und das Vaterhaus längst gegen das Atelier seines Meisters Verrocchio vertauscht hatte; mit der vierten und letzten Frau, die er bereits als Fünfziger geheiratet hatte, zeugte er noch neun Söhne und zwei Töchter.

Gewiß ist auch dieser Vater für die psychosexuelle Entwicklung Leonardos bedeutsam geworden, und zwar nicht nur negativ, durch seinen Wegfall in den ersten Kinderjahren des Knaben, sondern auch unmittelbar durch seine Gegenwart in dessen späterer Kindheit. Wer als Kind die Mutter begehrt, der kann es nicht vermeiden, sich an die Stelle des Vaters setzen zu wollen, sich in seiner Phantasie mit ihm zu identifizieren und später seine Überwindung zur Lebensaufgabe zu machen. Als Leonardo, noch nicht fünf Jahre alt, ins großväterliche Haus aufgenommen wurde, trat gewiß die junge Stiefmutter Albiera an die Stelle seiner Mutter in seinem Fühlen, und er kam in jenes normal zu nennende Rivalitätsverhältnis zum Vater. Die Entscheidung zur Homosexualität tritt 144 bekanntlich erst in der Nähe der Pubertätsjahre auf. Als diese für Leonardo gefallen war, verlor die Identifizierung mit dem Vater jede Bedeutung für sein Sexualleben, setzte sich aber auf anderen Gebieten von nicht erotischer Betätigung fort. Wir hören, daß er Prunk und schöne Kleider liebte, sich Diener und Pferde hielt, obwohl er nach Vasaris Worten »fast nichts besaß und wenig arbeitete«; wir werden nicht allein seinen Schönheitssinn für diese Vorlieben verantwortlich machen, wir erkennen in ihnen auch den Zwang, den Vater zu kopieren und zu übertreffen. Der Vater war gegen das arme Bauernmädchen der vornehme Herr gewesen, daher verblieb in dem Sohne der Stachel, auch den vornehmen Herrn zu spielen, der Drang »to out-herod Herod«, dem Vater vorzuhalten, wie erst die richtige Vornehmheit aussehe.

Wer als Künstler schafft, der fühlt sich gegen seine Werke gewiß auch als Vater. Für Leonardos Schaffen als Maler hatte die Identifizierung mit dem Vater eine verhängnisvolle Folge. Er schuf sie und kümmerte sich nicht mehr um sie, wie sein Vater sich nicht um ihn bekümmert hatte. Die spätere Sorge des Vaters konnte an diesem Zwange nichts ändern, denn dieser leitete sich von den Eindrücken der ersten Kinderjahre ab, und das unbewußt gebliebene Verdrängte ist unkorrigierbar durch spätere Erfahrungen.

Zur Zeit der Renaissance bedurfte jeder Künstler – wie auch noch viel später – eines hohen Herrn und Gönners, eines Padrone, der ihm Aufträge gab, in dessen Händen sein Schicksal ruhte. Leonardo fand seinen Padrone in dem hochstrebenden, prachtliebenden, diplomatisch verschlagenen, aber unsteten und unverläßlichen Lodovico Sforza, zubenannt: il Moro. An seinem Hofe in Mailand verbrachte er die glänzendste Zeit seines Lebens, in seinen Diensten entfaltete er am ungehemmtesten die Schaffenskraft, von der das Abendmahl und das Reiterstandbild des Francesco Sforza Zeugnis ablegten. Er verließ Mailand, ehe die Katastrophe über Lodovico Moro hereinbrach, der als Gefangener in einem französischen Kerker starb. Als die Nachricht vom Schicksal seines Gönners Leonardo erreichte, schrieb er in sein Tagebuch: »Der Herzog verlor sein Land, seinen Besitz, seine Freiheit, und keines der Werke, die er unternommen, wurde zu Ende geführt.« Es ist merkwürdig und gewiß nicht bedeutungslos, daß er hier gegen seinen Padrone den nämlichen Vorwurf erhob, den die Nachwelt gegen ihn wenden sollte, als wollte er eine Person aus der Vaterreihe dafür verantwortlich machen, daß er selbst seine Werke unvollendet ließ. In Wirklichkeit hatte er auch gegen den Herzog nicht unrecht.

Aber wenn die Nachahmung des Vaters ihn als Künstler schädigte, so war die Auflehnung gegen den Vater die infantile Bedingung seiner vielleicht ebenso großartigen Leistung als Forscher. Er glich, nach dem schönen Gleichnis Mereschkowskis, einem Menschen, der in der Finsternis zu früh erwacht war, während die anderen noch alle schliefen. Er wagte es, den kühnen Satz auszusprechen, der doch die Rechtfertigung jeder freien Forschung enthält: Wer im Streite der Meinungen sich auf die Autorität beruft, der arbeitet mit seinem Gedächtnis anstatt mit seinem Verstand. So wurde der erste moderne Naturforscher, und eine Fülle von Erkenntnissen und Ahnungen belohnte seinen Mut, seit den Zeiten der Griechen als der erste, nur auf Beobachtung und eigenes Urteil gestützt, an die Geheimnisse der Natur zu rühren. Aber wenn er die Autorität geringschätzen und die Nachahmung der »Alten« verwerfen lehrte und immer wieder auf das Studium der Natur als auf die Quelle aller Wahrheit hinwies, so wiederholte er nur in der höchsten dem Menschen erreichbaren Sublimierung die Parteinahme, die sich bereits dem kleinen, verwundert in die Welt blickenden Knaben aufgedrängt hatte. Aus der wissenschaftlichen Abstraktion in die konkrete individuelle Erfahrung rückübersetzt, entsprachen die Alten und die Autorität doch nur dem Vater, und die Natur wurde wieder die zärtliche, gütige Mutter, die ihn genährt hatte. Während bei den meisten anderen Menschenkindern – auch noch heute wie in Urzeiten – das Bedürfnis nach dem Anhalt an irgendeine Autorität so gebieterisch ist, daß ihnen die Welt ins Wanken gerät, wenn diese Autorität bedroht wird, konnte Leonardo allein dieser Stütze entbehren; er hätte es nicht können, wenn er nicht in den ersten Lebensjahren gelernt hätte, auf den Vater zu verzichten. Die Kühnheit und Unabhängigkeit seiner späteren wissenschaftlichen Forschung setzt die vom Vater ungehemmte infantile Sexualforschung voraus und setzt sie unter Abwendung vom Sexuellen fort.

Wenn jemand wie Leonardo in seiner ersten Kindheit der Einschüchterung durch den Vater entgangen ist und in seiner Forschung die Fesseln der Autorität abgeworfen hat, so wäre es der grellste Widerspruch gegen unsere Erwartung, wenn wir fänden, daß derselbe Mann ein Gläubiger geblieben ist und es nicht vermocht hat, sich der dogmatischen Religion zu entziehen. Die Psychoanalyse hat uns den intimen Zusammenhang zwischen dem Vaterkomplex und der Gottesgläubigkeit kennengelehrt, hat uns gezeigt, daß der persönliche Gott psychologisch nichts anderes ist als ein erhöhter Vater, und führt uns täglich vor Augen, wie jugendliche Personen den religiösen Glauben verlieren, sobald die Autorität des Vaters bei ihnen zusammenbricht. Im Elternkomplex erkennen wir so die Wurzel des religiösen Bedürfnisses; der allmächtige, gerechte Gott und die gütige Natur erscheinen uns als großartige Sublimierungen von Vater und Mutter, vielmehr als Erneuerungen und Wiederherstellungen der frühkindlichen Vorstellungen von beiden. Die Religiosität führt sich biologisch auf die lang anhaltende Hilflosigkeit und Hilfsbedürftigkeit des kleinen Menschenkindes zurück, welches, wenn es später seine wirkliche Verlassenheit und Schwäche gegen die großen Mächte des Lebens erkannt hat, seine Lage ähnlich wie in der Kindheit empfindet und deren Trostlosigkeit durch die regressive Erneuerung der infantilen Schutzmächte zu verleugnen sucht. Der Schutz gegen neurotische Erkrankung, den die Religion ihren Gläubigen gewährt, erklärt sich leicht daraus, daß sie ihnen den Elternkomplex abnimmt, an dem das Schuldbewußtsein des einzelnen wie der ganzen Menschheit hängt, und ihn für sie erledigt, während der Ungläubige mit dieser Aufgabe allein fertig werden muß.

Es scheint nicht, daß das Beispiel Leonardos diese Auffassung der religiösen Gläubigkeit des Irrtums überführen könnte. Anklagen, die ihn des Unglaubens, oder, was jener Zeit ebensoviel hieß, des Abfalles vom Christenglauben beschuldigten, regten sich bereits zu seinen Lebzeiten und haben in der ersten Lebensbeschreibung, die Vasari von ihm gab, einen bestimmten Ausdruck gefunden. In der zweiten Ausgabe seiner Vite 1568 hat Vasari diese Bemerkungen weggelassen. Uns ist es vollkommen begreiflich, wenn Leonardo angesichts der außerordentlichen Empfindlichkeit seines Zeitalters in religiösen Dingen sich direkter Äußerungen über seine Stellung zum Christentum auch in seinen Aufzeichnungen enthielt. Als Forscher ließ er sich durch die Schöpfungsberichte der Heiligen Schrift nicht im mindesten beirren; er bestritt zum Beispiel die Möglichkeit einer universellen Sündflut und rechnete in der Geologie ebenso unbedenklich wie die Modernen mit Jahrhunderttausenden.

Unter seinen »Prophezeiungen« finden sich so manche, die das Feingefühl eines gläubigen Christen beleidigen müßten, zum Beispiel:

Die Bilder der Heiligen angebetet.

»Es werden die Menschen mit Menschen reden, die nichts vernehmen, welche die Augen offen haben und nicht sehen; sie werden zu diesen reden und keine Antwort bekommen; sie werden Gnaden erbitten von dem, welcher Ohren hat und nicht hört; sie werden Lichter anzünden für den, der blind ist.«

Oder: Vom Klagen am Karfreitag (l. c. 297).

»In allen Teilen Europas wird von großen Völkerschaften geweint werden um den Tod eines einzigen Mannes, der im Orient gestorben.«

Von Leonardos Kunst hat man geurteilt, daß er den heiligen Gestalten den letzten Rest kirchlicher Gebundenheit benahm und sie ins Menschliche zog, um große und schöne menschliche Empfindungen an ihnen darzustellen. Muther rühmt von ihm, daß er die Dekadenzstimmung überwand und den Menschen das Recht auf Sinnlichkeit und frohen Lebensgenuß wiedergab. In den Aufzeichnungen, welche Leonardo in die Ergründung der großen Naturrätsel vertieft zeigen, fehlt es nicht an Äußerungen der Bewunderung für den Schöpfer, den letzten Grund all dieser herrlichen Geheimnisse, aber nichts deutet darauf hin, daß er eine persönliche Beziehung zu dieser Gottesmacht festhalten wollte. Die Sätze, in welche er die tiefe Weisheit seiner letzten Lebensjahre gelegt hat, atmen die Resignation des Menschen, der sich der ’ÁíÜãêç, den Gesetzen der Natur, unterwirft und von der Güte oder Gnade Gottes keine Milderung erwartet. Es ist kaum ein Zweifel, daß Leonardo die dogmatische wie die persönliche Religion überwunden und sich durch seine Forscherarbeit weit von der Weltanschauung des gläubigen Christen entfernt hatte.

Aus unseren vorhin erwähnten Einsichten in die Entwicklung des kindlichen Seelenlebens wird uns die Annahme nahegelegt, daß auch Leonardos erste Forschungen im Kindesalter sich mit den Problemen der Sexualität beschäftigten. Er verrät es uns aber selbst in durchsichtiger Verhüllung, indem er seinen Forscherdrang an die Geierphantasie knüpft und das Problem des Vogelfluges als eines hervorhebt, das ihm durch besondere Schicksalsverkettung zur Bearbeitung zugefallen sei. Eine recht dunkle, wie eine Prophezeiung klingende Stelle in seinen Aufzeichnungen, die den Vogelflug behandeln, bezeugt aufs schönste, mit wie viel Affektinteresse er an dem Wunsche hing, die Kunst des Fliegens selbst nachahmen zu können: »Es wird seinen ersten Flug nehmen der große Vogel, vom Rücken seines großen Schwanes aus, das Universum mit Verblüffung, alle Schriften mit seinem Ruhme füllen und ewige Glorie sein dem Neste, wo er geboren ward.« Er hoffte wahrscheinlich, selbst einmal fliegen zu können, und wir wissen aus den wunscherfüllenden Träumen der Menschen, welche Seligkeit man sich von der Erfüllung dieser Hoffnung erwartet.

Warum träumen aber so viele Menschen vom Fliegenkönnen? Die Psychoanalyse gibt hierauf die Antwort, weil das Fliegen oder Vogel sein nur die Verhüllung eines anderen Wunsches ist, zu dessen Erkennung mehr als eine sprachliche und sachliche Brücke führt. Wenn man der wißbegierigen Jugend erzählt, ein großer Vogel, wie der Storch, bringe die kleinen Kinder, wenn die Alten den Phallus geflügelt gebildet haben, wenn die gebräuchlichste Bezeichnung der Geschlechtstätigkeit des Mannes im Deutschen »vögeln« lautet, das Glied des Mannes bei den Italienern direkt l’uccello (Vogel) heißt, so sind das nur kleine Bruchstücke aus einem großen Zusammenhange, der uns lehrt, daß der Wunsch, fliegen zu können, im Traume nichts anderes bedeutet als die Sehnsucht, geschlechtlicher Leistungen fähig zu sein. Es ist dies ein frühinfantiler Wunsch. Wenn der Erwachsene seiner Kindheit gedenkt, so erscheint sie ihm als eine glückliche Zeit, in der man sich des Augenblicks freute und wunschlos der Zukunft entgegenging, und darum beneidet er die Kinder. Aber die Kinder selbst, wenn sie früher Auskunft geben könnten, würden wahrscheinlich anderes berichten. Es scheint, daß die Kindheit nicht jenes selige Idyll ist, zu dem wir es nachträglich entstellen, daß die Kinder vielmehr von dem einen Wunsch, groß zu werden, es den Erwachsenen gleichzutun, durch die Jahre der Kindheit gepeitscht werden. Dieser Wunsch treibt alle ihre Spiele. Ahnen die Kinder im Verlaufe ihrer Sexualforschung, daß der Erwachsene auf dem einen rätselvollen und doch so wichtigen Gebiete etwas Großartiges kann, was ihnen zu wissen und zu tun versagt ist, so regt sich in ihnen ein ungestümer Wunsch, dasselbe zu können, und sie träumen davon in der Form des Fliegens oder bereiten diese Einkleidung des Wunsches für ihre späteren Flugträume vor. So hat also auch die Aviatik, die in unseren Zeiten endlich ihr Ziel erreicht, ihre infantile erotische Wurzel.

Indem uns Leonardo eingesteht, daß er zu dem Problem des Fliegens von Kindheit an eine besondere persönliche Beziehung verspürt hat, bestätigt er uns, daß seine Kinderforschung auf Sexuelles gerichtet war, wie wir es nach unseren Untersuchungen an den Kindern unserer Zeit vermuten mußten. Dies eine Problem wenigstens hatte sich der Verdrängung entzogen, die ihn später der Sexualität entfremdete; von den Kinderjahren an bis in die Zeit der vollsten intellektuellen Reife war ihm das nämliche mit leichter Sinnesabänderung interessant geblieben, und es ist sehr wohl möglich, daß ihm die gewünschte Kunst im primären sexuellen Sinne ebensowenig gelang wie im mechanischen, daß beide für ihn versagte Wünsche blieben.

Der große Leonardo blieb überhaupt sein ganzes Leben über in manchen Stücken kindlich; man sagt, daß alle großen Männer etwas Infantiles bewahren müssen. Er spielte auch als Erwachsener weiter und wurde auch dadurch manchmal seinen Zeitgenossen unheimlich und unbegreiflich. Wenn er zu höfischen Festlichkeiten und feierlichen Empfängen die kunstvollsten mechanischen Spielereien verfertigte, so sind nur wir damit unzufrieden, die den Meister nicht gern seine Kraft an solchen Tand wenden sehen; er selbst scheint sich nicht ungern mit diesen Dingen abgegeben zu haben, denn Vasari berichtet, daß er ähnliches machte, wo kein Auftrag ihn dazu nötigte: »Dort (in Rom) verfertigte er einen Teig von Wachs und formte daraus, wenn er fließend war, sehr zarte Tiere, mit Luft gefüllt; blies er hinein, so flogen sie, war die Luft heraus, so fielen sie zur Erde. Einer seltsamen Eidechse, welche der Winzer von Belvedere fand, machte er Flügel aus der abgezogenen Haut anderer Eidechsen, welche er mit Quecksilber füllte, so daß sie sich bewegten und zitterten, wenn sie ging; sodann machte er ihr Augen, Bart und Hörner, zähmte sie, tat sie in eine Schachtel und jagte alle seine Freunde damit in Furcht.« Oft dienten ihm solche Spielereien zum Ausdruck inhaltschwerer Gedanken: »Oftmals ließ er die Därme eines Hammels so fein ausputzen, daß man sie in der hohlen Hand hätte halten können; diese trug er in ein großes Zimmer, brachte in eine anstoßende Stube ein paar Schmiedeblasebälge, befestigte daran die Därme und blies sie auf, bis sie das ganze Zimmer einnahmen und man in eine Ecke flüchten mußte. So zeigte er, wie sie allmählich durchsichtig und von Luft erfüllt wurden, und indem sie, anfangs auf einen kleinen Platz beschränkt, sich mehr und mehr in den weiten Raum ausbreiteten, verglich er sie dem Genie.« Dieselbe spielerische Lust am harmlosen Verbergen und kunstvollen Einkleiden bezeugen seine Fabeln und Rätsel, letztere in die Form von »Prophezeiungen« gebracht, fast alle gedankenreich und in bemerkenswertem Maße des Witzes entbehrend.

Die Spiele und Sprünge, die Leonardo seiner Phantasie gestattete, haben in einigen Fällen seine Biographen, die diesen Charakter verkannten, in argen Irrtum gebracht. In den Mailänder Manuskripten Leonardos finden sich zum Beispiel Entwürfe zu Briefen an den »Diodario von Sorio (Syrien), Statthalter des heiligen Sultan von Babylonia«, in denen Leonardo sich als Ingenieur einführt, der in diese Gegenden des Orients geschickt wurde, um gewisse Arbeiten auszuführen, sich gegen den Vorwurf der Trägheit verteidigt, geographische Beschreibungen von Städten und Bergen liefert und endlich ein großes Elementarereignis schildert, das dort in Leonardos Anwesenheit vorgefallen ist.

J. P. Richter hat im Jahre 1883 aus diesen Schriftstücken zu beweisen gesucht, daß Leonardo wirklich im Dienste des Sultans von Ägypten diese Reisebeobachtungen angestellt und selbst im Orient die mohammedanische Religion angenommen habe. Dieser Aufenthalt sollte in die Zeit vor 1483, also vor der Übersiedlung an den Hof des Herzogs von Mailand fallen. Allein der Kritik anderer Autoren ist es nicht schwer geworden, die Belege für die angebliche Orientreise Leonardos als das zu erkennen, was sie in Wirklichkeit sind, phantastische Produktionen des jugendlichen Künstlers, die er zu seiner eigenen Unterhaltung schuf, in denen er vielleicht seine Wünsche, die Welt zu sehen und Abenteuer zu erleben, zum Ausdruck brachte.

Ein Phantasiegebilde ist wahrscheinlich auch die »Academia Vinciana«, deren Annahme auf dem Vorhandensein von fünf oder sechs höchst künstlich verschlungenen Emblemen mit der Inschrift der Akademie beruht. Vasari erwähnt diese Zeichnungen, aber nicht die Akademie. Müntz, der ein solches Ornament auf den Deckel seines großen Leonardowerkes gesetzt hat, gehört zu den wenigen, die an die Realität einer »Academia Vinciana« glauben.

Es ist wahrscheinlich, daß dieser Spieltrieb Leonardos in seinen reiferen Jahren schwand, daß auch er in die Forschertätigkeit einmündete, welche die letzte und höchste Entfaltung seiner Persönlichkeit bedeutete. Aber seine lange Erhaltung kann uns lehren, wie langsam sich von seiner Kindheit losreißt, wer in seinen Kinderzeiten die höchste, später nicht wieder erreichte, erotische Seligkeit genossen hat.

Gesammelte Werke: Psychoanalytische Studien, Theoretische Schriften & Briefe

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