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II. KAPITEL

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Inhaltsverzeichnis

Ein einziges Mal, soviel mir bekannt ist, hat Leonardo in eine seiner wissenschaftlichen Niederschriften eine Mitteilung aus seiner Kindheit eingestreut. An einer Stelle, die vom Fluge des Geiers handelt, unterbricht er sich plötzlich, um einer in ihm auftauchenden Erinnerung aus sehr frühen Jahren zu folgen.

»Es scheint, daß es mir schon vorher bestimmt war, mich so gründlich mit dem Geier zu befassen, denn es kommt mir als eine ganz frühe Erinnerung in den Sinn, als ich noch in der Wiege lag, ist ein Geier zu mir herabgekommen, hat mir den Mund mit seinem Schwanz geöffnet und viele Male mit diesem seinen Schwanz gegen meine Lippen gestoßen.«

Eine Kindheitserinnerung also, und zwar höchst befremdender Art. Befremdend wegen ihres Inhaltes und wegen der Lebenszeit, in die sie verlegt wird. Daß ein Mensch eine Erinnerung an seine Säuglingszeit bewahren könne, ist vielleicht nicht unmöglich, kann aber keineswegs als gesichert gelten. Was jedoch diese Erinnerung Leonardos behauptet, daß ein Geier dem Kinde mit seinem Schwanz den Mund geöffnet, das klingt so unwahrscheinlich, so märchenhaft, daß eine andere Auffassung, die beiden Schwierigkeiten mit einem Schlage ein Ende macht, sich unserem Urteile besser empfiehlt. Jene Szene mit dem Geier wird nicht eine Erinnerung Leonardos sein, sondern eine Phantasie, die er sich später gebildet und in seine Kindheit versetzt hat. Die Kindheitserinnerungen der Menschen haben oft keine andere Herkunft; sie werden überhaupt nicht, wie die bewußten Erinnerungen aus der Zeit der Reife, vom Erlebnis an fixiert und wiederholt, sondern erst in späterer Zeit, wenn die Kindheit schon vorüber ist, hervorgeholt, dabei verändert, verfälscht, in den Dienst späterer Tendenzen gestellt, so daß sie sich ganz allgemein von Phantasien nicht strenge scheiden lassen. Vielleicht kann man sich ihre Natur nicht besser klarmachen, als indem man an die Art und Weise denkt, wie bei den alten Völkern die Geschichtsschreibung entstanden ist. Solange das Volk klein und schwach war, dachte es nicht daran, seine Geschichte zu schreiben; man bearbeitete den Boden des Landes, wehrte sich seiner Existenz gegen die Nachbarn, suchte ihnen Land abzugewinnen und zu Reichtum zu kommen. Es war eine heroische und unhistorische Zeit. Dann brach eine andere Zeit an, in der man zur Besinnung kam, sich reich und mächtig fühlte, und nun entstand das Bedürfnis zu erfahren, woher man gekommen und wie man geworden war. Die Geschichtsschreibung, welche begonnen hatte, die Erlebnisse der Jetztzeit fortlaufend zu verzeichnen, warf den Blick auch nach rückwärts in die Vergangenheit, sammelte Traditionen und Sagen, deutete die Überlebsel alter Zeiten in Sitten und Gebräuchen und schuf so eine Geschichte der Vorzeit. Es war unvermeidlich, daß diese Vorgeschichte eher ein Ausdruck der Meinungen und Wünsche der Gegenwart als ein Abbild der Vergangenheit wurde, denn vieles war von dem Gedächtnis des Volkes beseitigt, anderes entstellt worden, manche Spur der Vergangenheit wurde mißverständlich im Sinne der Gegenwart gedeutet, und überdies schrieb man ja nicht Geschichte aus den Motiven objektiver Wißbegierde, sondern weil man auf seine Zeitgenossen wirken, sie aneifern, erheben oder ihnen einen Spiegel vorhalten wollte. Das bewußte Gedächtnis eines Menschen von den Erlebnissen seiner Reifezeit ist nun durchaus jener Geschichtsschreibung zu vergleichen, und seine Kindheitserinnerungen entsprechen nach ihrer Entstehung und Verläßlichkeit wirklich der spät und tendenziös zurechtgemachten Geschichte der Urzeit eines Volkes.

Wenn die Erzählung Leonardos vom Geier, der ihn in der Wiege besucht, also nur eine spätgeborene Phantasie ist, so sollte man meinen, es könne sich kaum verlohnen, länger bei ihr zu verweilen. Zu ihrer Erklärung könnte man sich ja mit der offen kundgegebenen Tendenz begnügen, seiner Beschäftigung mit dem Problem des Vogelfluges die Weihe einer Schicksalsbestimmung zu leihen. Allein mit dieser Geringschätzung beginge man ein ähnliches Unrecht, wie wenn man das Material von Sagen, Traditionen und Deutungen in der Vorgeschichte eines Volkes leichthin verwerfen würde. Allen Entstellungen und Mißverständnissen zum Trotze ist die Realität der Vergangenheit doch durch sie repräsentiert; sie sind das, was das Volk aus den Erlebnissen seiner Urzeit gestaltet hat, unter der Herrschaft einstens mächtiger und heute noch wirksamer Motive, und könnte man nur durch die Kenntnis aller wirkenden Kräfte diese Entstellungen rückgängig machen, so müßte man hinter diesem sagenhaften Material die historische Wahrheit aufdecken können. Gleiches gilt für die Kindheitserinnerungen oder Phantasien der einzelnen. Es ist nicht gleichgültig, was ein Mensch aus seiner Kindheit zu erinnern glaubt; in der Regel sind hinter den von ihm selbst nicht verstandenen Erinnerungsresten unschätzbare Zeugnisse für die bedeutsamsten Züge seiner seelischen Entwicklung verborgen. Da wir nun in den psychoanalytischen Techniken vortreffliche Hilfsmittel besitzen, um dies Verborgene ans Licht zu ziehen, wird uns der Versuch gestattet sein, die Lücke in Leonardos Lebensgeschichte durch die Analyse seiner Kindheitsphantasie auszufüllen. Erreichen wir dabei keinen befriedigenden Grad von Sicherheit, so müssen wir uns damit trösten, daß so vielen anderen Untersuchungen über den großen und rätselhaften Mann kein besseres Schicksal beschieden war.

Wenn wir aber die Geierphantasie Leonardos mit dem Auge des Psychoanalytikers betrachten, so erscheint sie uns nicht lange fremdartig; wir glauben uns zu erinnern, daß wir oftmals, zum Beispiel in Träumen, ähnliches gefunden haben, so daß wir uns getrauen können, diese Phantasie aus der ihr eigentümlichen Sprache in gemeinverständliche Worte zu übersetzen. Die Übersetzung zielt dann aufs Erotische. Schwanz, »coda«, ist eines der bekanntesten Symbole und Ersatzbezeichnungen des männlichen Gliedes, im Italienischen nicht minder als in anderen Sprachen; die in der Phantasie enthaltene Situation, daß ein Geier den Mund des Kindes öffnet und mit dem Schwanz tüchtig darin herumarbeitet, entspricht der Vorstellung einer Fellatio, eines sexuellen Aktes, bei dem das Glied in den Mund der gebrauchten Person eingeführt wird. Sonderbar genug, daß diese Phantasie so durchwegs passiven Charakter an sich trägt; sie ähnelt auch gewissen Träumen und Phantasien von Frauen oder passiven Homosexuellen (die im Sexualverkehr die weibliche Rolle spielen).

Möge der Leser nun an sich halten und nicht in aufflammender Entrüstung der Psychoanalyse die Gefolgschaft verweigern, weil sie schon in ihren ersten Anwendungen zu einer unverzeihlichen Schmähung des Andenkens eines großen und reinen Mannes führt. Es ist doch offenbar, daß diese Entrüstung uns niemals wird sagen können, was die Kindheitsphantasie Leonardos bedeutet; anderseits hat sich Leonardo in unzweideutigster Weise zu dieser Phantasie bekannt, und wir lassen die Erwartung – wenn man will: das Vorurteil – nicht fallen, daß eine solche Phantasie wie jede psychische Schöpfung, wie ein Traum, eine Vision, ein Delirium, irgendeine Bedeutung haben muß. Schenken wir darum lieber der analytischen Arbeit, die ja noch nicht ihr letztes Wort gesprochen hat, für eine Weile gerechtes Gehör.

Die Neigung, das Glied des Mannes in den Mund zu nehmen, um daran zu saugen, die in der bürgerlichen Gesellschaft zu den abscheulichen sexuellen Perversionen gerechnet wird, kommt doch bei den Frauen unserer Zeit – und, wie alte Bildwerke beweisen, auch früherer Zeiten – sehr häufig vor und scheint im Zustande der Verliebtheit ihren anstößigen Charakter völlig abzustreifen. Der Arzt begegnet Phantasien, die sich auf diese Neigung gründen, auch bei weiblichen Personen, die nicht durch die Lektüre der Psychopathia sexualis von v. Krafft-Ebing oder durch sonstige Mitteilung zur Kenntnis von der Möglichkeit einer derartigen Sexualbefriedigung gelangt sind. Es scheint, daß es den Frauen leicht wird, aus Eigenem solche Wunschphantasien zu schaffen. Die Nachforschung lehrt uns denn auch, daß diese von der Sitte so schwer geächtete Situation die harmloseste Ableitung zuläßt. Sie ist nichts anderes als die Umarbeitung einer anderen Situation, in welcher wir uns einst alle behaglich fühlten, als wir im Säuglingsalter (»essendo io in culla«) die Brustwarze der Mutter oder Amme in den Mund nahmen, um an ihr zu saugen. Der organische Eindruck dieses unseres ersten Lebensgenusses ist wohl unzerstörbar eingeprägt geblieben; wenn das Kind später das Euter der Kuh kennenlernt, das seiner Funktion nach einer Brustwarze, seiner Gestalt und Lage am Unterleib nach aber einem Penis gleichkommt, hat es die Vorstufe für die spätere Bildung jener anstößigen sexuellen Phantasie gewonnen.

Wir verstehen jetzt, warum Leonardo die Erinnerung an das angebliche Erlebnis mit dem Geier in seine Säuglingszeit verlegt. Hinter dieser Phantasie verbirgt sich doch nichts anderes als eine Reminiszenz an das Saugen – oder Gesäugtwerden – an der Mutterbrust, welche menschlich schöne Szene er wie so viele andere Künstler an der Mutter Gottes und ihrem Kinde mit dem Pinsel darzustellen unternommen hat. Allerdings wollen wir auch festhalten, was wir noch nicht verstehen, daß diese für beide Geschlechter gleich bedeutsame Reminiszenz von dem Manne Leonardo zu einer passiven homosexuellen Phantasie umgearbeitet worden ist. Wir werden die Frage vorläufig beiseite lassen, welcher Zusammenhang etwa die Homosexualität mit dem Saugen an der Mutterbrust verbindet, und uns bloß daran erinnern, daß die Tradition Leonardo wirklich als einen homosexuell Fühlenden bezeichnet. Dabei gilt es uns gleich, ob jene Anklage gegen den Jüngling Leonardo berechtigt war oder nicht; nicht die reale Betätigung, sondern die Einstellung des Gefühls entscheidet für uns darüber, ob wir irgend jemand die Eigentümlichkeit der Inversion zuerkennen sollen.

Ein anderer unverstandener Zug der Kindheitsphantasie Leonardos nimmt unser Interesse zunächst in Anspruch. Wir deuten die Phantasie auf das Gesäugtwerden durch die Mutter und finden die Mutter ersetzt durch einen – Geier. Woher rührt dieser Geier, und wie kommt er an diese Stelle?

Ein Einfall bietet sich da, so fernab liegend, daß man versucht wäre, auf ihn zu verzichten. In der heiligen Bilderschrift der alten Ägypter wird die Mutter allerdings mit dem Bilde des Geiers geschrieben. Diese Ägypter verehrten auch eine mütterliche Gottheit, die geierköpfig gebildet wurde oder mit mehreren Köpfen, von denen wenigstens einer der eines Geiers war. Der Name dieser Göttin wurde Mut ausgesprochen; ob die Lautähnlichkeit mit unserem Worte »Mutter« nur eine zufällige ist? So steht der Geier wirklich in Beziehung zur Mutter, aber was kann uns das helfen? Dürfen wir Leonardo denn diese Kenntnis zumuten, wenn die Lesung der Hieroglyphen erst François Champollion (1790–1832) gelungen ist?

Man möchte sich dafür interessieren, auf welchem Wege auch nur die alten Ägypter dazu gekommen sind, den Geier zum Symbol der Mütterlichkeit zu wählen. Nun war die Religion und Kultur der Ägypter bereits den Griechen und Römern Gegenstand wissenschaftlicher Neugierde, und lange, ehe wir selbst die Denkmäler Ägyptens lesen konnten, standen uns einzelne Mitteilungen darüber aus erhaltenen Schriften des klassischen Altertums zu Gebote, Schriften, die teils von bekannten Autoren herrühren, wie Strabo, Plutarch, Ammianus Marcellus, teils unbekannte Namen tragen und unsicher in ihrer Herkunft und Abfassungszeit sind wie die Hieroglyphica des Horapollo Nilus und das unter dem Götternamen des Hermes Trismegistos überlieferte Buch orientalischer Priesterweisheit. Aus diesen Quellen erfahren wir, daß der Geier als Symbol der Mütterlichkeit galt, weil man glaubte, es gäbe nur weibliche Geier und keine männlichen von dieser Vogelart. Die Naturgeschichte der Alten kannte auch ein Gegenstück zu dieser Einschränkung; bei den Skarabäen, den von den Ägyptern als göttlich verehrten Käfern, meinten sie, gebe es nur Männchen.

Wie sollte nun die Befruchtung der Geier vor sich gehen, wenn sie alle nur Weibchen waren? Darüber gibt eine Stelle des Horapollo guten Aufschluß. Zu einer gewissen Zeit halten diese Vögel im Fluge inne, öffnen ihre Scheide und empfangen vom Winde.

Wir sind jetzt unerwarteterweise dazu gelangt, etwas für recht wahrscheinlich zu halten, was wir vor kurzem noch als absurd zurückweisen mußten. Leonardo kann das wissenschaftliche Märchen, dem es der Geier verdankt, daß die Ägypter mit seinem Bilde den Begriff der Mutter schrieben, sehr wohl gekannt haben. Er war ein Vielleser, dessen Interesse alle Gebiete der Literatur und des Wissens umfaßte. Wir besitzen im Codex atlanticus ein Verzeichnis aller Bücher, die er zu einer gewissen Zeit besaß, dazu zahlreiche Notizen über andere Bücher, die er von Freunden entlehnt hatte, und nach den Exzerpten, die Fr. Richter aus seinen Aufzeichnungen zusammengestellt hat, können wir den Umfang seiner Lektüre kaum überschätzen. Unter dieser Zahl fehlen auch ältere wie gleichzeitige Werke von naturwissenschaftlichem Inhalte nicht. Alle diese Bücher waren zu jener Zeit schon im Drucke vorhanden, und gerade Mailand war für Italien die Hauptstätte der jungen Buchdruckerkunst.

Wenn wir nun weitergehen, stoßen wir auf eine Nachricht, welche die Wahrscheinlichkeit, Leonardo habe das Geiermärchen gekannt, zur Sicherheit steigern kann. Der gelehrte Herausgeber und Kommentator des Horapollo bemerkt zu dem bereits zitierten Text (172): »Caeterum hanc fabulam de vulturibus cupide amplexi sunt Patres Ecclesiastici, ut ita argumento ex rerum natura petito refutarent eos, qui Virginis partum negabant; itaque apud omnes fere hujus rei mentio occurrit.«

Also die Fabel von der Eingeschlechtigkeit und der Empfängnis der Geier war keineswegs eine indifferente Anekdote geblieben wie die analoge von den Skarabäen; die Kirchenväter hatten sich ihrer bemächtigt, um gegen die Zweifler an der heiligen Geschichte ein Argument aus der Naturgeschichte zur Hand zu haben. Wenn nach den besten Nachrichten aus dem Altertum die Geier darauf angewiesen waren, sich vom Winde befruchten zu lassen, warum sollte nicht auch einmal das gleiche mit einen menschlichen Weibe vorgegangen sein? Dieser Verwertbarkeit wegen pflegten die Kirchenväter »fast alle« die Geierfabel zu erzählen, und nun kann es kaum zweifelhaft sein, daß sie durch so mächtige Patronanz auch Leonardo bekannt geworden ist.

Die Entstehung der Geierphantasie Leonardos können wir uns nun in folgender Weise vorstellen. Als er einmal bei einem Kirchenvater oder in einem naturwissenschaftlichen Buche davon las, die Geier seien alle Weibchen und wüßten sich ohne Mithilfe von Männchen fortzupflanzen, da tauchte in ihm eine Erinnerung auf, die sich zu jener Phantasie umgestaltete, die aber besagen wollte, er sei ja auch so ein Geierkind gewesen, das eine Mutter, aber keinen Vater gehabt habe, und dazu gesellte sich in der Art, wie so alte Eindrücke sich allein äußern können, ein Nachhall des Genusses, der ihm an der Mutterbrust zuteil geworden war. Die von den Autoren hergestellte Anspielung auf die jedem Künstler teure Vorstellung der heiligen Jungfrau mit dem Kinde mußte dazu beitragen, ihm diese Phantasie wertvoll und bedeutsam erscheinen zu lassen. Kam er doch so dazu, sich mit dem Christusknaben, dem Tröster und Erlöser nicht nur des einen Weibes, zu identifizieren.

Wenn wir eine Kindheitsphantasie zersetzen, streben wir danach, deren realen Erinnerungsinhalt von den späteren Motiven zu sondern, welche denselben modifizieren und entstellen. Im Falle Leonardos glauben wir jetzt den realen Inhalt der Phantasie zu kennen; die Ersetzung der Mutter durch den Geier weist darauf hin, daß das Kind den Vater vermißt und sich mit der Mutter allein gefunden hat. Die Tatsache der illegitimen Geburt Leonardos stimmt zu seiner Geierphantasie; nur darum konnte er sich einem Geierkinde vergleichen. Aber wir haben als die nächste gesicherte Tatsache aus seiner Jugend erfahren, daß er im Alter von fünf Jahren in den Haushalt seines Vaters aufgenommen war; wann dies geschah, ob wenige Monate nach seiner Geburt, ob wenige Wochen vor der Aufnahme jenes Katasters, ist uns völlig unbekannt. Da tritt nun die Deutung der Geierphantasie ein und will uns belehren, daß Leonardo die entscheidenden ersten Jahre seines Lebens nicht bei seinem Vater und seiner Stiefmutter, sondern bei der armen, verlassenen, echten Mutter verbrachte, so daß er Zeit hatte, seinen Vater zu vermissen. Dies scheint ein mageres und dabei noch immer gewagtes Ergebnis der psychoanalytischen Bemühung, allein es wird bei weiterer Vertiefung an Bedeutung gewinnen. Der Sicherheit kommt noch die Erwägung der tatsächlichen Verhältnisse in der Kindheit Leonardos zu Hilfe. Den Berichten nach heiratete sein Vater Ser Piero da Vinci noch im Jahre von Leonardos Geburt die vornehme Donna Albiera; der Kinderlosigkeit dieser Ehe verdankte der Knabe seine im fünften Jahre dokumentarisch bestätigte Aufnahme ins väterliche oder vielmehr großväterliche Haus. Nun ist es nicht gebräuchlich, daß man der jungen Frau, die noch auf Kindersegen rechnet, von Anfang an einen illegitimen Sprößling zur Pflege übergibt. Es mußten wohl erst Jahre von Enttäuschung hingegangen sein, ehe man sich entschloß, das wahrscheinlich reizend entwickelte uneheliche Kind zur Entschädigung für die vergeblich erhofften ehelichen Kinder anzunehmen. Es steht im besten Einklang mit der Deutung der Geierphantasie, wenn mindestens drei Jahre, vielleicht fünf, von Leonardos Leben verflossen waren, ehe er seine einsame Mutter gegen ein Elternpaar vertauschen konnte. Dann aber war es bereits zu spät geworden. In den ersten drei oder vier Lebensjahren fixieren sich Eindrücke und bahnen sich Reaktionsweisen gegen die Außenwelt an, die durch kein späteres Erleben mehr ihrer Bedeutung beraubt werden können.

Wenn es richtig ist, daß die unverständlichen Kindheitserinnerungen und die auf sie gebauten Phantasien eines Menschen stets das Wichtigste aus seiner seelischen Entwicklung herausheben, so muß die durch die Geierphantasie erhärtete Tatsache, daß Leonardo seine ersten Lebensjahre allein mit der Mutter verbracht hat, von entscheidendstem Einfluß auf die Gestaltung seines inneren Lebens gewesen sein. Unter den Wirkungen dieser Konstellation kann es nicht gefehlt haben, daß das Kind, welches in seinem jungen Leben ein Problem mehr vorfand als andere Kinder, mit besonderer Leidenschaft über diese Rätsel zu grübeln begann und so frühzeitig ein Forscher wurde, den die großen Fragen quälten, woher die Kinder kommen und was der Vater mit ihrer Entstehung zu tun habe. Die Ahnung dieses Zusammenhanges zwischen seiner Forschung und seiner Kindheitsgeschichte hat ihm dann später den Ausruf entlockt, ihm sei es wohl von jeher bestimmt gewesen, sich in das Problem des Vogelfluges zu vertiefen, da er schon in der Wiege von einem Geier heimgesucht worden war. Die Wißbegierde, die sich auf den Vogelflug richtete, von der infantilen Sexualforschung abzuleiten, wird eine spätere, unschwer zu erledigende Aufgabe sein.

Gesammelte Werke: Psychoanalytische Studien, Theoretische Schriften & Briefe

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