Читать книгу Die Salbenmacherin - Silvia Stolzenburg - Страница 18

Kapitel 12

Оглавление

Konstantinopel, Juli 1408

Die Antwort auf diese Frage ließ nicht lange auf sich warten. Sobald Olivera und ihre Großmutter den Hof wieder betreten hatten, eilte die osmanische Sklavin Lale auf sie zu.

»Euer Vater wünscht, Euch zu sehen«, ließ das Mädchen Olivera wissen. »Er hat bereits nach Euch suchen lassen.«

Olivera spürte, wie das Blut aus ihren Wangen wich. Plötzlich und völlig unsinnigerweise überkam sie die Befürchtung, dass der Besuch bei der Schwangeren all ihre Träume zunichtemachen könnte. Was, wenn Laurenz ärgerlich war, weil er hatte warten müssen? Sie betastete ihr Haar und steckte sich fahrig einige verirrte Strähnen hinter das Ohr. Und was, wenn er oder ihr Vater es sich anders überlegt hatten? Oder die beiden über der Mitgift in Streit entbrannt waren? Ein Teil von ihr wusste, dass diese Sorgen unbegründet waren. Doch ein anderer Teil fühlte sich an wie ein Kessel, in dem es mächtig brodelte.

»Gib mir das«, sagte ihre Yiayia und griff nach dem Korb. »Geh!«, setzte sie mit einem Lächeln hinzu, als Olivera eine Winzigkeit lang zögerte.

Es war, als wüssten ihre Beine nicht, was zu tun war. Erst, als Lale zur Seite wich, um ihr den Vortritt zu lassen, fiel die Erstarrung von ihr ab und sie setzte sich in Bewegung. Hätte sie daran geglaubt, dass Gott sich auch nur im Entferntesten für ihre Belange interessierte, hätte sie ein Stoßgebet zum Himmel geschickt. Allerdings war sie sich aufgrund des eben erst mit angesehenen Leides der Gebärenden aufs Neue sicher, dass dem Allmächtigen das Los der Frauen vollkommen gleichgültig war. Daher nahm sie all ihren Mut zusammen und rang ihre Unsicherheit nieder. Wenig später klopfte sie das zweite Mal an diesem Tag an die Tür des Kontors.

Als sie über die Schwelle trat, wusste sie vor Aufregung zuerst nicht, wohin sie blicken sollte. Mitten im Raum stand Laurenz – die breiten Schultern gestrafft, das Kinn energisch vorgereckt. Die Kappe, die sonst auf seinem rotblonden Schopf saß, lag neben ihm auf einem Stuhl, von dem er offensichtlich soeben aufgesprungen war. Seine grauen Augen glänzten beinahe fiebrig, und sein Brustkorb hob und senkte sich heftig. Ihr Vater streifte den jungen Mann mit einem erheiterten Blick, ehe er sich seiner Tochter zuwandte.

»Olivera«, begrüßte er sie. Anders als sein junger Gast wirkte Philippos in keinster Weise aufgewühlt – eine Tatsache, die Olivera nicht zu deuten vermochte.

»Baba«, erwiderte sie den Gruß.

Laurenz schenkte sie ein schüchternes Lächeln. Ihr Vater erhob sich und trat hinter seinem Schreibtisch hervor. Als er vor den beiden jungen Leuten angekommen war, ergriff er ihre Hände und legte Oliveras Rechte in Laurenz’ Linke.

»Laurenz hat um deine Hand angehalten«, erklärte er und machte eine bedeutungsvolle Pause. »Die ich ihm hiermit gewähre.«

Laurenz’ Finger schlossen sich fester um Oliveras Hand. Es war, als presse er damit gleichzeitig allen Atem aus ihren Lungen. Schwindelig vor Glück sah sie zu ihm auf. Während sich ein unbeschreibliches Gefühl in ihr ausbreitete, wünschte sie sich, er würde sich zu ihr hinabbeugen und sie küssen. So überwältigend war der Taumel der Gefühle, dass sie die nächsten Worte ihres Vaters kaum hörte.

»Ihr werdet noch in dieser Woche Hochzeit feiern«, wiederholte Philippos und löste die Hände der beiden voneinander. »Pater Antonio wird alles Nötige in die Wege leiten.«

Olivera glaubte, ihren Ohren nicht zu trauen. »Noch diese Woche?«, hauchte sie.

»Ja«, entgegnete ihr Vater mit einem Lächeln. »Dann könnt ihr vor Anbruch des nächsten Monats die Reise antreten.«

Einen Augenblick vermeinte Olivera Bedauern in seiner Stimme mitschwingen zu hören. Doch dann lachte Philippos und wandte sich an Laurenz.

»Was haltet Ihr davon, den Glasmacher noch einmal aufzusuchen?« Er warf seiner Tochter einen kurzen Blick zu. »Jetzt, wo diese Angelegenheit geklärt ist …«

Laurenz nickte. Aber all die Zeit über ließ er Olivera nicht aus den Augen. Es war, als könne er sich nicht an ihr sattsehen. Oliveras Herz hüpfte vor Glück. Auch sie hätte ihn stundenlang einfach nur anstarren und seinen Anblick in sich aufsaugen können, um sich jede Einzelheit seines Gesichtes unauslöschlich einzuprägen. Ihre Fingerkuppen kribbelten, da sie kaum der Versuchung widerstehen konnte, ihn zu berühren. Die Erinnerung daran, wie sich sein Körper beim Besuch des Marktes an den ihren gepresst hatte, raubte ihr beinahe den Verstand. Wie hart und stark er sich angefühlt hatte! Und wie unglaublich es gewesen war, als er ihr ins Ohr geflüstert hatte, dass er sich einen Kuss von ihr wünschte. Sie unterdrückte ein Seufzen. Wenn sie doch nur sofort Mann und Frau werden könnten!

»Wir werden heute Abend ein Festmahl zur Feier Eurer Verlobung abhalten«, unterbrach ihr Vater ihre Gedanken. »Bis dahin verrichtet jeder sein Tagwerk wie gewohnt.«

Die Worte waren an Olivera gerichtet, die zuerst nicht darauf reagierte. Als ihr Vater jedoch ungeduldig die Stirn runzelte, begriff sie, was er meinte. Widerwillig riss sie sich von Laurenz’ Anblick los. Sie nickte den beiden Männern zum Abschied zu. In wenigen Stunden würde sie ihn wiedersehen! Und bald, sehr bald schon würde er niemals wieder von ihrer Seite weichen!

Noch nie war ihr der Weg über den Hof so fremd erschienen. Beinahe war es, als habe das, was im Kontor vorgefallen war, nicht nur ihr Leben, sondern auch ihre gesamte Wahrnehmung verändert. Der staubige Boden erschien ihr mit einem Mal nicht mehr so schmutzig; das müde Grün der Kräutergärten wirkte frischer und saftiger; und die Hennen, die überall im Dreck scharrten, schienen ihr neugierig nachzusehen und ihr gackernd Glückwünsche hinterherzuschicken. Nicht einmal die Hitze störte sie, sodass sie den Hof direkt überquerte, anstatt den Schatten des Arkadenganges zu suchen. Mit jedem Schritt, den sie tat, verstärkte sich das Hochgefühl in ihr. Am liebsten hätte sie lauthals gesungen, ihre Freude herausgeschrien und jeden umarmt, der ihr entgegenkam. Da dies jedoch vollkommen undenkbar war, lachte sie lediglich in sich hinein und eilte beschwingt zur Salbenküche.

»Yiayia!«, rief sie, kaum dass sie die Tür aufgestoßen hatte. »Ich werde Laurenz’ Frau!«, brach es aus ihr heraus. Sie fiel ihrer Großmutter so stürmisch um den Hals, dass diese eine Platte Bienenwachs fallen ließ. »Wenn du nicht gewesen wärst«, versetzte Olivera atemlos, »dann hätte Baba mich so lange warten lassen, bis ich alt und bucklig bin!« Sie drückte ihre Großmutter an sich.

Diese protestierte mit einem »Vorsicht, Kind!« und befreite sich von ihrer Enkelin. »Du bringst mir alles durcheinander«, schimpfte sie halbherzig. Sie betastete ihr Haar und zupfte sich die Kleidung zurecht. Auf ihren faltigen Zügen hielten Freude und Traurigkeit Widerstreit.

»Endlich darf ich in die weite Welt hinaus!«, frohlockte Olivera. Sie nahm die Hände der alten Frau in die ihren und küsste die Handflächen. »Stell dir nur vor, wie es sein wird, mit ihm in ein anderes Land zu reisen! All die Dinge, die wir unterwegs erleben werden!« Sie strahlte ihre Großmutter an. »Ich kann es kaum erwarten!«

Bevor ihre Yiayia etwas erwidern konnte, fragte Olivera: »Ob wir auf einem der großen Segelschiffe reisen werden? Oder auf einer Galeere? Was denkst du, wie lange die Reise dauern wird?« Sie wippte aufgeregt auf den Fußballen auf und ab.

»Zuerst einmal solltest du dich ein wenig beruhigen«, riet die alte Frau. Sie fasste ihre Enkelin beim Arm und führte sie zu einem Schemel. »Setz dich und atme tief ein und aus«, riet sie. »Dann kannst du mir in allen Einzelheiten erzählen, was im Kontor vorgefallen ist.«

Nachdem Oliveras Aufregung sich etwas gelegt hatte, berichtete sie ihrer Yiayia haarklein, was ihr Vater gesagt hatte. »Muss ich wirklich den Rest des Tages hierbleiben?«, fragte Olivera. Sie sah flehend zu ihrer Großmutter auf. »Ich muss mich doch für das Festmahl zurechtmachen!«

»Das kannst du auch später noch«, erwiderte die alte Griechin. »Aber wenn du Laurenz eine gute Gemahlin sein willst, musst du lernen, dich in Geduld und Gehorsam zu üben.« Sie hob mahnend den Zeigefinger. »Kein Mann schätzt eine ungestüme oder gar widerspenstige Frau.«

Olivera stöhnte innerlich auf. Wo sollte sie nur die übermenschliche Kraft hernehmen, die dafür nötig war? Sie konnte doch nicht so tun, als ob nichts geschehen wäre! Ihre Großmutter zog sich einen zweiten Schemel heran und ließ sich neben ihr nieder.

»Ich weiß, wie du dich fühlst«, sagte sie. »Und ich weiß auch, dass du dir nichts sehnlicher wünschst, als endlich zu bekommen, was du begehrst.« Sie suchte einen Augenblick lang nach Worten. »Aber wir werden tun, was dein Vater befohlen hat.«

Als Olivera etwas erwidern wollte, schmunzelte sie. »Es spricht allerdings nichts dagegen, dass wir uns mit Dingen beschäftigen, die das Ehegemach betreffen«, fügte sie listig hinzu. »Immerhin solltest du wissen, was dich erwartet«, sagte sie etwas ernster. Und für den Bruchteil einer Sekunde kehrte die Angst zurück, die Olivera in der Kammer der Gebärenden überkommen hatte.

Diese verflüchtigte sich jedoch sofort wieder, als ihre Großmutter zurück auf die Beine kam und ein Buch aus einem der Regale nahm. Der in Leder gebundene Band enthielt allerhand Rezepte und Beschreibungen von Heilmitteln, aber auch Zeichnungen der menschlichen Anatomie.

»Du weißt sicher, dass der weibliche Körper kälter, schwächer und poröser ist als der des Mannes.« Es war eine Feststellung, keine Frage.

Olivera nickte.

»Der Mangel an Wärme ist der Grund, warum der weibliche Körper die Nahrung nur bis zur vorletzten Stufe, dem Blut, verkochen kann«, fuhr ihre Yiayia fort. »Der Mann hingegen verkocht die Nahrung bis zur letzten Stufe, dem Samen.« Sie deutete auf die Zeichnung eines Tropfens, in dem eine Gestalt kauerte. »In diesem Samen ist ein winziger Mensch, ein Homunculus, der in der Gebärmutter der Frau ausgebrütet wird«, erklärte die alte Frau weiter. »Wenn dein Gemahl in der Hochzeitsnacht – und auch später – bei dir liegt, wird er den Samen in dich einbringen.« Sie hielt inne und sah Olivera an. »Verstehst du, was ich meine?«

Obgleich Olivera sich nicht ganz sicher war, bejahte sie. Immerhin hatte sie in Trotulas De passionibus mulierum schon oft genug Zeichnungen des männlichen Geschlechtsorganes gesehen, um sich auszumalen, was ihre Yiayia meinte.

»Manchmal wollen Frauen die Empfängnis beschleunigen«, sagte die Salbenmacherin. »Aber manchmal wollen sie eine Empfängnis auch verhüten.«

Etwas in ihrer Stimme ließ Olivera aufblicken. Doch das Gesicht ihrer Großmutter verriet keine Gemütsregung.

»Zur besseren Empfängnis zerstößt man getrocknete Eberhoden und trinkt diese, in Wein aufgelöst, nach der monatlichen Blutung. Zum Verhindern der Empfängnis muss man dafür sorgen, dass die Gebärmutter zu feucht und zu warm ist. Dann kann sich der Samen nicht einnisten.«

Sie hielt einen Moment lang inne und blätterte in dem Buch.

»Lammfleisch, Gans und Ziege sind warme und feuchte Nahrungsmittel. Wenn man jedoch sichergehen will, sollte man ein in Essig getränktes Schwämmchen einführen, bevor man mit seinem Gemahl liegt. Das kann allerdings sehr schmerzhaft sein.«

Ihre Fingerkuppe wanderte zu einem Rezept.

»Besser ist, man braut einen Trank aus diesen Zutaten und spült den Samen nach dem Verkehr mit dem Mann heraus.« Sie sah von dem Folianten auf. »Alles andere, wie das Herumtragen oder Lutschen an bestimmten Steinen, ist nichts als barer Aberglaube.«

Olivera starrte eine Zeit lang schweigend auf die Seiten des Buches. Dann hob sie den Blick. Ihre Großmutter schien die Frage darin lesen zu können.

»Jede Frau greift zu solchen Mitteln. Dafür kommen sie zu uns Salbenmachern. Es ist nichts, wofür sie sich schämen müssen. Aber es ist auch nichts, was ihre Ehemänner jemals erfahren dürfen.«

Was sie damit meinte, war klar. Sie schloss das Buch, erhob sich und zog einige weitere Bände aus dem Regal. Diese enthielten weitere Rezepte, Anleitungen zur Herstellung von Pessaren und Räucherungen sowie zahllose Zeichnungen von Frauen vor, während und nach der Niederkunft.

Die nächsten Stunden vergingen wie im Flug. Und schneller, als Olivera gedacht hatte, neigte sich der Tag dem Ende. Um die siebente Stunde war es endlich so weit. Nachdem sie ihrer Großmutter beim Aufräumen geholfen hatte, eilte sie voller Vorfreude und Unruhe in ihre Kammer. Dort streifte sie die Röcke ab und wusch sich mit kaltem Wasser, in das sie etwas Rosenöl träufelte. Für ein Bad war zu ihrem Leidwesen nicht mehr genug Zeit. Dann wählte sie eines der Kleider aus, die ihr Onkel ihr geschenkt hatte, und schlüpfte hinein. Dieses war aus einem schillernden blauen Stoff gewoben. Kleine silberne Sterne waren in den Kragen eingestickt, und den Gürtel zierte eine Spange in Form eines Sichelmondes. Lale bürstete ihr Haar, flocht es und steckte es in Schlaufen an ihrem Hinterkopf auf. Sobald die letzte Klammer befestigt war, warf Olivera sich einen Seidenschleier übers Haar. Sie kniff sich in die Wangen, um diese zu röten, und betonte die Kontur ihrer Augen mit einem Kohlestift. Nach einem letzten Blick in den Spiegel reckte sie das Kinn und trat zurück, hinaus in den heißen Sommerabend. Der Papagei, dem sie immer noch keinen Namen gegeben hatte, schickte ihr ein schrilles Kreischen hinterher. Ihre Yiayia wartete bereits am anderen Ende des Ganges auf sie. Während sie versuchte, das Summen und Brummen tief in ihrem Inneren unter Kontrolle zu bringen, fragte sie sich, ob sie überhaupt dazu imstande sein würde, etwas zu essen.

Die Salbenmacherin

Подняться наверх