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Kapitel 3
ОглавлениеKonstantinopel, Juli 1408
Laurenz Nidhard war erstaunt. Vielleicht war er sogar ein wenig mehr als erstaunt, doch er versuchte, sich seine Überraschung nicht anmerken zu lassen.
»Meine Tochter Olivera«, wiederholte sein Gastgeber.
Und Laurenz verneigte sich hastig vor der jungen Frau, die der Grund für seine Verblüffung war. Konnte diese Schönheit dasselbe Mädchen sein, an das er sich von seinem letzten Besuch erinnerte? Er rang um eine ausdruckslose Miene. Bedauernd riss er sich von dem liebreizenden Anblick los, da er nicht rüde erscheinen wollte. Wenn es sich um dasselbe Mädchen handelt, dachte er, dann ist aus dem hässlichen Entlein ein wahrlich prächtiger Schwan geworden!
»Setzt euch«, lud ihn der alte Philippos ein, bevor Laurenz in seiner Erinnerung nach den Bildern des linkischen Kindes graben konnte, über das er mit dessen Brüdern gescherzt hatte. Weiterhin bemüht, seine Verwunderung nicht zu zeigen, trat er von den Damen zurück und folgte seinem Gastgeber zum Tisch. Doch zu Laurenz’ Leidwesen platzierte ihn der Grieche nicht neben seiner Tochter, sondern neben dem Goldschmied Andreas. Allerdings währte die Enttäuschung nicht allzu lange, da sich die junge Frau auf einem Stuhl gegenüber dem seinen niederließ.
»Lass auftragen«, sagte der Hausherr an eine Magd gewandt, und wenig später füllte sich die Tafel mit allerlei Köstlichkeiten. Einer Eiersuppe mit Safran, Pfefferkörnern und Honig folgten Lamm mit Zwiebeln, gebratenes Huhn in Mandelsoße und eine Pastete aus Krebsfleisch. Ergänzt wurden diese Speisen durch frische Oliven und geröstete Nüsse, von denen der Goldschmied offenbar nicht genug bekommen konnte. »Wo kauft Ihr nur immer diese wundervollen Nüsse«, nuschelte dieser mit vollem Mund und langte erneut zu.
»Auf dem Markt, wo Ihr auch einkauft«, gab Philippos trocken zurück. »Aber wir sind nicht hier, um uns über Nüsse zu unterhalten, sondern um Geschäftliches zu klären«, setzte er hinzu.
Laurenz verkniff sich ein Stöhnen. Nahm die Diskussion denn nie ein Ende? War immer noch nicht alles gesagt? Was änderte all das Reden? Er warf Olivera einen verstohlenen Blick zu und sah zu seinem Entzücken, dass sie errötete. Hatte er noch am Morgen das Los verflucht, das ihn – gegen seinen Willen – erneut nach Konstantinopel geführt hatte, erschien es ihm auf einmal gar nicht mehr so furchtbar.
Wenn er schon warten musste, bis dieser verfluchte Goldschmied endlich die letzten Behältnisse für die falschen Reliquien, mit denen er und die anderen handelten, angefertigt hatte, dann konnte er sich die Zeit sicher auch auf angenehme Art vertreiben. Er schenkte der jungen Frau ein Lächeln, das ihre Wangen erneut mit Feuer überzog.
»Ich habe Euch doch gesagt, dass es nicht meine Schuld ist«, riss ihn das Genörgel des Schmiedes aus den angenehmen Gedanken. »Durch den Zwist zwischen Sultan Bayezids Söhnen sind die Handelswege nicht mehr sicher. Ich bin nicht der Einzige, der vergebens auf seine Waren wartet.«
Laurenz verzog das Gesicht. »Dann nehmt eben etwas anderes als Elefantenzähne und Straußeneier für die …« Er zögerte kurz mit einem Blick auf die Frauen, da er nichts verraten wollte, was diese nicht wissen sollten. »Waren«, setzte er betont hinzu. »Wen interessiert das denn schon?«, brummte er.
Der Gastgeber hob beschwichtigend die Hände. Als der Goldschmied vom Lateinischen ins Griechische wechselte und etwas hervorstieß, das wie eine Schimpfkanonade klang, fuhr er ihn barsch an: »Sprecht Latein, damit Euch alle am Tisch verstehen können! Ihr vergesst die Gebote der Gastfreundschaft!«
Der Gescholtene knurrte etwas Unverständliches und stopfte sich einen Bissen Hühnerfleisch in den Mund. Nachdem er diesen geschluckt hatte, fauchte er: »Ich dachte, Ihr wollt Eure Ware so teuer wie möglich verkaufen!« Auch er bedachte die Frauen mit einem Blick, dann funkelte er Laurenz zornig an. »Gewiss könnte ich Ochsenhörner verwenden. Aber wer würde Euch dann den Preis zahlen, den Ihr fordert?« Sein rundes Gesicht glühte. »Wenn Ihr nicht endlich aufhört, mich dafür verantwortlich zu machen, müsst Ihr Euch eben einen anderen suchen!«
Laurenz seufzte. Der Mann hatte ja recht. Allerdings hatte ihn die Vorstellung, länger in der Stadt bleiben zu müssen, bis vor wenigen Minuten noch mit Missmut erfüllt. Sein Blick kehrte wie magisch angezogen zu der Tochter des Hausherrn zurück. Seine Mundwinkel stahlen sich kaum merklich nach oben. Was sein Gastgeber wohl sagen würde, wenn er seine Gedanken lesen könnte? Er zwang sich, ein ernstes Gesicht zu wahren, und lenkte die Aufmerksamkeit zurück auf den Goldschmied.
»Es tut mir leid, Andreas«, entschuldigte er sich lahm. »Aber Ihr wisst, dass ich nicht ewig hierbleiben kann. Die Nachfrage steigt und die Käufer werden immer ungeduldiger.«
»Ja, ja«, schnaubte der Goldschmied. »Aber mit Ungeduld kommt man nicht weit.«
»Warum vertreibt Ihr Euch die Zeit nicht auf dem Markt?«, warf Philippos ein, um den Streit zu schlichten. »Kauft etwas für Eure Gemahlin, bringt ihr Geschmeide oder Stoffe mit.«
Laurenz lachte. »Wenn ich eine Gemahlin hätte, würde ich Euren Rat vermutlich befolgen.« Ein gepresster Laut, der in ein Husten überging, veranlasste ihn, den Kopf zu wenden und Olivera anzusehen.
Diese schien sich an einem Stückchen Lammkeule verschluckt zu haben. Ihre Großmutter beugte sich mit besorgtem Gesicht zu ihr hinüber und klopfte ihr auf den Rücken.
»Iss langsam, Kind«, ermahnte die alte Frau das Mädchen.
Und Laurenz stellte erstaunt fest, dass sie ebenso Latein sprach wie die Männer. Wie ungewöhnlich!, dachte er. Aber Philippos’ nächste Bemerkung führte dazu, dass er seine Aufmerksamkeit wieder seinem Gastgeber zuwandte.
»Begleitet mich morgen zu dem venezianischen Glaser«, schlug der Grieche vor. »Sein Glas ist so rein, dass es einem Bergkristall gleicht.« Er legte Daumen und Zeigefinger aneinander, sodass sie einen Kreis bildeten, und küsste seine Fingerspitzen. »Wenn Andreas dieses Glas in die Behältnisse einfügt, dann werden Eure Gewinne Euch für die Wartezeit entschädigen, glaubt mir.«
Laurenz hob erstaunt die Brauen. »So rein wie ein Kristall?«, fragte er ungläubig. Wenn das stimmte, dann würde der Wert seiner Waren in der Tat ins Unermessliche steigen. Sein Gewissen wollte sich zu Wort melden, aber er vertrieb die Reue mit einem Kopfschütteln. Was sollte er denn tun? Schließlich war das Ganze nicht sein Einfall gewesen! Gewiss, er steckte bis zum Hals mit in der Sache. Aber nur, weil er so dumm gewesen war, einem angeblichen Freund einen Gefallen zu tun. Diese Reise würde seine letzte sein, und der Teufel sollte ihn holen, wenn er nicht das Beste daraus machte! Daher hob er seinen Becher und prostete Philippos zu. »Ihr habt mich überzeugt«, sagte er. »Aber dennoch darf sich die Angelegenheit nicht so sehr verzögern, bis die Herbststürme beginnen.« Denn dann wäre die Heimreise ein größeres Wagnis, als den Schultheißen seiner Heimatstadt Tübingen in sein Haus einzuladen!
*
Olivera rang immer noch nach Luft. Der verteufelte Bissen steckte irgendwo tief in ihrer Kehle, wo sie ihn weder schlucken noch freihusten konnte. Zwar hatte das Klopfen ihrer Großmutter ein wenig geholfen. Aber sie griff dennoch nach ihrem Becher und nahm gierig einen viel zu großen Schluck Wein. Kaum hatte dieser ihren Magen erreicht, spürte sie, wie ihr Kopf leicht und ihre Beine schwer wurden. Sie hatte ohnehin schon viel zu viel getrunken – in dem vergeblichen Versuch, ihre Unsicherheit zu überspielen. Warum hörte ihre Hand nicht auf zu zittern? Sie umklammerte das Trinkgefäß mit aller Kraft, um beim Abstellen nichts zu verschütten. Wenn er sie noch einmal so ansah wie vor einigen Augenblicken, dann würde sie vor Scham im Boden versinken. Wieso hatte sie sich auch verschlucken müssen? Sie spürte, wie der Wein ihre Wangen noch heißer machte, als sie ohnehin schon waren. Doch da die Aufmerksamkeit ihres Gegenübers auf Andreas und ihren Vater gerichtet war, ebbte das Gefühl wenig später wieder ab. Zu ihrer Erleichterung fiel ihr auch das Atmen wieder leichter – offensichtlich hatte der Wein die erwünschte Wirkung gezeigt. Mit gesenktem Kopf stocherte sie in dem Essen auf ihrem Teller herum, während die Worte des Fremden – dessen Namen sie nun endlich kannte – in ihrem Kopf nachhallten.
»Wenn ich eine Gemahlin hätte, würde ich Euren Rat vermutlich befolgen.« Erneut spürte sie, wie ihr Herzschlag sich beschleunigte und in ihre Kehle stieg. Es musste ein Wink des Schicksals sein, dass diese wichtigste aller Fragen so schnell beantwortet worden war. Obschon sie fürchtete, ein weiteres Mal Missfallen zu erregen, schielte sie unter halb gesenkten Lidern über den Tisch.
»Eure Begleiter sind über den Ställen einquartiert«, ließ ihr Vater den Besucher soeben wissen. »Ich kann sie aber auch in einem Gasthof unterbringen lassen.«
»Nein, nein«, erwiderte Laurenz mit einer wegwerfenden Geste. »Es sind Knechte. In meinem Haus schlafen sie über der Küche. Wenn Ihr sie zu sehr verwöhnt, dann habe ich in Zukunft nichts als Scherereien.« Er lachte, und es war dieses Lachen, das Olivera endgültig das Herz stahl.
Wie unglaublich er war! Ein Prickeln kroch über ihren Rücken und ließ sie frösteln. Sommersprossen tanzten auf seiner Nase und seine Augen leuchteten, als er sich ihr unvermittelt zuwandte.
»Was denkt Ihr?«, sprach er sie an. »Wenn das Gesinde seinen Platz nicht kennt …« Er ließ den Satz unbeendet, da Oliveras Großmutter ihm einen strafenden Blick zuwarf. Ganz gewiss fand ihre Yiayia es ungehörig von dem Fremden, die Tochter des Hauses bei Tisch anzusprechen. Wenn Gäste im Haus waren und die Männer sich unterhielten, schwiegen die Frauen – so verlangte es die Tradition. Dass Laurenz Olivera um ihre Meinung fragte, war vollkommen unziemlich.
»Ja, kleine Schwester, was denkst du?«, mischte sich ihr Bruder ein.
Olivera funkelte ihn wütend an, da sie ganz genau wusste, was er vorhatte. Zu oft hatten er und seine Brüder sich als Kinder einen Spaß daraus gemacht, sie vor Fremden zu ärgern; hatten sie hinter dem Rücken der Erwachsenen ausgelacht, wenn sie scheu von einem Bein auf das andere getreten war und nicht gewusst hatte, was sie sagen sollte. Sie räusperte sich und überlegte fieberhaft, was wohl die richtige Antwort auf die Frage sein mochte. Doch zum Glück kam ihre Großmutter ihr zur Hilfe.
»Das sind Angelegenheiten der Männer«, sagte diese und bedeutete Olivera aufzustehen. »Es ist an der Zeit, dass wir Euch alleine lassen. Dann könnt Ihr über solcherlei Dinge reden.« Sie erhob sich und griff nach dem Arm ihrer Enkelin, damit Olivera sie aus dem Raum führen konnte.
Hin- und hergerissen zwischen Erleichterung und Verstimmung nickte die junge Frau Laurenz und ihrem Vater zu und murmelte: »Gute Nacht.« Leises Bedauern schwang in seiner Stimme mit, als er ihr ebenfalls eine gesegnete Nachtruhe wünschte.
Viel zu schnell fand sie sich mit ihrer Yiayia draußen auf dem überdachten Säulengang wieder, der inzwischen von Fackeln erleuchtet wurde. Auch im Hof hatten die Bediensteten Fackeln entzündet. Der von Westen her aufkommende Wind ließ die Flammen wild hin und her zucken. Nur wenige Sterne standen am Himmel und der sichelförmige Mond lugte scheu hinter einer Wolke hervor. Der Geruch von Regen lag in der Luft. In weiter Ferne zuckten Blitze über den Horizont, allerdings war das Unwetter zu weit entfernt, weshalb Olivera keinen Donner hörte.
»Ein gänzlich ungesitteter junger Mann«, schimpfte ihre Großmutter. »Ich frage mich, aus was für einem Land er kommt. Offenbar herrschen dort barbarische Sitten!«
Olivera verkniff sich ein Grinsen. Wenn ihre Yiayia doch nur nicht so entsetzlich altmodisch wäre! Sicher kam Laurenz aus einem wundervollen Land, dachte sie. Aus einem Land, das genauso golden war wie sein Haar. Sie verdrehte die Augen über ihre eigene Schwärmerei. Nun, vielleicht nicht unbedingt golden. Aber bestimmt anders als Konstantinopel, das nicht nur die Alten eine sterbende Stadt nannten.
»Bring mich zu meiner Kammer«, forderte ihre Großmutter. Als sie dort angekommen waren, bot sie ihrer Enkelin die Wange, damit diese einen Kuss darauf drücken konnte. »Vergiss dein Nachtgebet nicht«, ermahnte sie Olivera. Noch bevor die junge Frau etwas darauf erwidern konnte, fiel die Tür ins Schloss. Oliveras Hand zuckte zu dem silbernen Kruzifix an ihrem Hals und sie seufzte. Wie viel einfacher alles wäre, wenn sie den blinden Glauben ihrer Großmutter teilen könnte! Diese hatte bestimmt nicht ständig mit Zweifeln und sündigen Gedanken zu kämpfen. Sie blies die Wangen auf und ließ das Kreuz wieder los, bevor sie sich auf den Weg zu ihrer eigenen Kammer machte. Unterwegs hielt sie an einem der von wildem Wein umrankten Stützbalken an. Sie starrte hinüber auf die andere Seite des Gebäudes, wo die Männer immer noch tafelten. Ob sie wohl über sie sprachen? Die Vorstellung trieb ihr erneut das Blut in die Wangen, und sie verfluchte ihren Körper für dieses verräterische Zeichen. Wenn sie nicht achtgab, würde Laurenz sie für eine alberne Gans halten! Sie legte den Kopf in den Nacken und sog die laue Nachtluft ein. Hoffentlich tat er das nicht schon, weil sie sich beinahe durch diesen dummen Hustenanfall verraten hätte!
Die tiefen Atemzüge machten sie schwindelig. Die Wirkung des Weins war immer noch nicht ganz abgeklungen. Sie sollte sich besser auch schlafen legen, wenn sie morgen früh frisch und erholt sein wollte! Nach einem letzten Blick auf die erleuchteten Fenster der Stube löste sie sich vom Geländer des Ganges und betrat kurz darauf ihre eigene Kammer. Dort war es inzwischen wesentlich kühler als am Nachmittag. Um keine Stechmücken anzulocken, schälte Olivera sich im Dunkeln aus ihren Gewändern, legte diese auf dem Tisch neben ihrem Bett ab und löste ihr Haar. Unbekleidet und aufgewühlt ließ sie sich auf ihre Matratze sinken und lauschte auf die Geräusche der Nacht. In irgendeinem Garten zirpten Grillen und eine Eule stieß in regelmäßigen Abständen lang gezogene Rufe aus. Das Unwetter schien inzwischen näher gekommen zu sein, da sie das ferne Grollen von Donner vernahm. Der Wind frischte immer mehr auf, und sie spürte, wie er durch das Fenster über ihren Körper strich.
»Wenn ich eine Gemahlin hätte, würde ich Euren Rat vermutlich befolgen«, hörte sie Laurenz erneut sagen – so deutlich, als wäre er bei ihr im Raum. Ein Zittern durchlief sie, das nichts mit dem kühlen Wind zu tun hatte. Auch wenn sie die Kühnheit ihres Planes zuerst erschreckt und sie gefürchtet hatte, der Mut könne sie verlassen, war sie sich inzwischen sicher. Sie durfte diese Gelegenheit nicht ungenutzt verstreichen lassen! Wenn sie es richtig anstellte, dann würde der Mann, von dem sie so oft geträumt hatte, sie bald als seine Gemahlin mit in seine Heimat nehmen. Dafür würde sie alles tun, ganz egal, was für Folgen es haben mochte!