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Kapitel 1

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Vor den Toren von Nürnberg, September 1412

Die Sonne schien aus einem makellos blauen Himmel, den nur ein dünner Schleier im Osten trübte. Am Horizont jagten sich ein paar vorwitzige Vögel, als ob der Herbst noch in weiter Ferne läge. Das Laub der Bäume am Ufer der Pegnitz färbte sich in diesem Jahr nur langsam bunt, doch das schöne Wetter konnte nicht darüber hinwegtäuschen, dass der Sommer vorbei war. Zwischen den Grashalmen am Wegesrand spannten sich Spinnennetze, die taunass glitzerten. Der schwere Geruch von feuchter Erde stach Jona in die Nase, als er sich mit Cristin der Hallerwiese vor den Toren der Stadt näherte.

»Warum willst du ausgerechnet hier suchen?«, fragte das Mädchen und sah mit großen Augen zu ihm auf. Sie hatte Mühe, mit Jona Schritt zu halten. Ihre wilden dunklen Locken tanzten um ein vor Anstrengung gerötetes Gesicht. »Vor dem Wöhrder Türlein wächst viel mehr Schafgarbe.«

Jona schüttelte ungehalten den Kopf. »Wenn du lieber zurück nach Hause gehen willst …«

»Nein!« Cristins Wangen färbten sich noch röter. »Ich bin doch kein Kind mehr!«

Jona verkniff sich ein Lachen. Sie war beinahe zehn Jahre alt und benahm sich seit geraumer Zeit seltsam, vor allem in seiner Gegenwart. Er mochte sie wie eine kleine Schwester, allerdings fürchtete er, dass sie in ihm mehr sah als den großen Bruder. Seit seine Stimme tiefer und seine Schultern breiter geworden waren, klebte sie bei jeder Gelegenheit an seinen Fersen. Er fragte sich, wann Götz bemerken würde, was vor sich ging. Allein die Vorstellung bereitete ihm Unbehagen. Er schob den Gedanken hastig beiseite und sah sich um. Etwa eine halbe Meile vor ihnen hob sich etwas vom Blau des Himmels und dem Braun der Stoppelfelder ab, bei dem es sich um das verfallene Gehöft handeln musste. Der Hof des Alten Endris, dachte er und zog die Schultern hoch, weil es ihn plötzlich fröstelte. Seit der Entführung von Oliveras Sohn Lukas vor zweieinhalb Jahren war im Haus des Stadtapothecarius nie mehr von jener Nacht gesprochen worden, in der auch Mathes, der Knecht, fast sein Leben verloren hätte. Mit gemischten Gefühlen erinnerte Jona sich an alles, was damals vorgefallen war. Wäre er nicht neulich durch Zufall Zeuge eines Gesprächs auf dem Grünen Markt geworden, hätte er dasselbe getan, was die ganze Stadt zu tun schien: den Adepten Alphonsius und seine betrügerischen Helfer vergessen.

»Was, glaubst du, geschieht mit dem Hof?«, hatte ein Knecht eine Frau mit einem Handkarren gefragt, während Jona in der Schlange hinter ihnen gewartet hatte, bis er beim Metzger an der Reihe war.

»Mit welchem Hof?«

»Mit dem des Alten Endris. Wenn die neue Straße gebaut wird, ist der doch mitten im Weg.«

Die Frau hatte mit den Schultern gezuckt. »Dann wird man ihn dem Erdboden gleichmachen. Was geht’s mich an?«

Zuerst hatte Jona sich nicht für das Gerede interessiert, doch auf dem Weg zurück zum Haus in der Burgstraße war ihm der halb verkohlte Zettel eingefallen, den er kurz nach Lukas’ Rettung im Kamin gefunden hatte. …tore zum Hof des Alten E… Mehr hatte er nicht entziffern können. Der Rest des Papiers war verbrannt. Obwohl er vermutet hatte, dass es sich um eine Nachricht des Entführers handelte, hatte er dem Fund keine weitere Beachtung geschenkt, da Lukas wohlauf und der Täter über alle Berge war. Erst einige Zeit später war ihm klar geworden, dass etwas mit der Nachricht nicht stimmte. Waren Lukas und die Amme nicht in einer Kate innerhalb der Stadtmauern gefangen gehalten worden? Je länger er darüber nachgedacht hatte, desto heftiger hatte ihn die Neugier geplagt. Deshalb hatte er beschlossen, der Sache endlich auf den Grund zu gehen. Er hatte keine Ahnung, was er sich von dem Ausflug versprach, vermutlich hatte der halb verbrannte Zettel überhaupt nichts mit der Entführung zu tun. Dennoch zog ihn der Hof an wie ein Magnet.

»Ich glaube nicht, dass wir so weit weggehen sollten«, gab Cristin zu bedenken.

Jona ignorierte sie und steuerte zielstrebig auf eine Ansammlung von verfallenen Gebäuden in der Nähe des Flussufers zu.

»Jona?«, quengelte sie.

»Geh Pappelrinde sammeln«, brummte er.

»Aber wir sollen doch Schafgarbe mitbringen!«

»Jetzt mach schon!« Er zeigte ungehalten auf die Bäume und wartete, bis Cristin sich widerstrebend trollte. Dann sah er sich um. Dicht beim Ufer stand ein windschiefer Holzschuppen, dessen Dach an einigen Stellen eingefallen war. Überall wucherten mannshohe Disteln und auf dem Schornstein des Hauptgebäudes hatten Störche ihr Nest gebaut. In den Wänden klafften Durchbrüche, wo die Nürnberger Holz und Steine herausgebrochen hatten, um sie anderweitig zu verwenden. Trotz des frischen Windes lag der Geruch von Schimmel, Fäulnis und Tierkot schwer in der Luft. Jona rümpfte die Nase. War er auf dem Holzweg? Er betrat das Gebäude und blinzelte, bis sich seine Augen an das Dämmerlicht im Inneren gewöhnt hatten. Im Erdgeschoss befand sich nichts außer einer gewaltigen Feuerstelle und einigen alten Töpfen. In einer Ecke türmten sich kaputte Stühle und Bänke, die zum Teil zu Feuerholz zerkleinert worden waren. Das Obergeschoss war ebenfalls verwaist, die Treppe so morsch, dass er mehrmals fast eingebrochen wäre. Zurück im Erdgeschoss sah er sich nach einem Keller um und entdeckte eine Luke.

»Was ist das denn?«, murmelte er, ging näher und kniete sich auf den Boden. Die Klappe der Luke war aufgestoßen und lag auf einem Haufen schwerer Steine. Bei näherem Hinsehen wurde deutlich, dass sich jemand mit einem Messer daran zu schaffen gemacht hatte. Ein Loch klaffte in der Mitte der Bretter, an einem rostigen Nagel hing ein Stück Stoff. Jona befreite es und runzelte die Stirn. Er überlegte gerade, ob er in den Keller klettern sollte, als ein gellender Schrei an sein Ohr drang.

»Cristin!«, keuchte er. Mit einem Satz kam er zurück auf die Beine und rannte zur Tür.

Die Salbenmacherin und der Fluch des Teufels

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