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ОглавлениеFacetten der Demut
Im Vergleich zu Islam, Hinduismus und Buddhismus, in denen Demut als Schwäche, Teil der Anstrengung bzw. Frucht der Anstrengung gesehen wird, genießt die Demut im jüdisch-christlichen Verständnis hohen Respekt und ist frei von jeglichen Leistungsforderungen bzw. -ansprüchen. Sie hat stattdessen die eigene Persönlichkeitsentfaltung im Blick und ist beziehungsorientiert.
Ich gewann den Eindruck, dass Demut im jüdisch-christlichen Verständnis mehr Raum und Bedeutung einnimmt als in den anderen Religionen. Ich witterte hier einen Schlüssel zum Verständnis, der mich wie ein Magnet anzog. Ich fing an, wie eine Detektivin nach weiterem Material zu suchen, das sich im Detail dazu äußerte. Neben voraugustinischer Literatur, den Ausführungen Augustinus’ selbst und postaugustinischer, christlicher Literatur bis hin zu Immanuel Kant und erst kürzlich erschienenen Veröffentlichungen war mir alles willkommen.
Ich forschte extensiv und trug die gewonnenen Informationen in Anlehnung an Mayrings (2010) wissenschaftlicher Methode chronologisch zusammen. Danach filterte ich aus den gesammelten Aussagen Schlüsselworte und Kernaussagen heraus und bildete thematische Gruppen. Kurze Zeit später blickte ich auf vierzehn Kategorien, die ich als Facetten der Demut bezeichnete. Jeweils sieben dieser Facetten ließen sich mit zwei Überbegriffen zusammenfassen. Dank dieser beiden Überbegriffe hatte ich sie – meine Definition der positiv verstandenen Demut: Demut ist Selbsterkenntnis und Selbstbescheidung.
DIE FACETTEN DER DEMUT
Selbsterkenntnis
1. Realistische Selbsteinschätzung
2. Kenntnis der Stärken, Schwächen und Grenzen
3. Gnadenbewusstsein
4. Dankbarkeit
5. Selbstbewusstsein
6. Selbstwertstreben
7. Beleidigungstoleranz
Selbstbescheidung
8. Offenheit
9. Respekt und Wertschätzung
10. Geduld
11. Anderszentriertheit
12. Zurücknahme
13. Bescheidenheit
14. Verantwortungsbewusstsein
Zufrieden und fasziniert zugleich schaute ich mir die Auflistung an. Mein Blick wanderte vor allen Dingen immer wieder über die einzelnen Facetten. Ich fragte mich, wie ich das Ergebnis anderen zur Verfügung stellen konnte. Plötzlich kam mir die Idee, über jede Facette zusätzliche Informationen einzuholen und sie in Form von Gedankenimpulsen mit anschließenden Fragen zur persönlichen Reflexion aufzubereiten.
Aber zunächst ein paar Worte zu dem ersten Überbegriff:
Selbsterkenntnis
Voltaire soll einmal gesagt haben: Ich fürchte, mich zu kennen, und kann mich doch nicht ignorieren (Bückart, 2018). Er hatte wahrscheinlich Angst davor, in seine Abgründe zu schauen, wusste aber, dass kein Weg daran vorbeiführt.
Selbsterkenntnis ist keine leichte Aufgabe.
Wenn ich darüber nachdenke, fällt mir ein Buch ein, das ich vor Kurzem gelesen habe. Brennan Manning (2013) schildert darin die Eckpunkte seiner Lebensgeschichte inklusive allen Scheiterns. Was mich an diesem Buch besonders begeisterte war die Tatsache, dass Manning die Dinge ohne Scham benennt. Er kannte sich selbst – mit allem was dazugehört. Manning war die Person, die er war – ganz ohne Schnörkel – und gleichzeitig schien er so selbstbewusst und aufrecht durchs Leben zu gehen, wie kaum einer, den ich bis dahin kannte.
Ich weiß nicht, wie es für Sie ist, aber ich glaube, dass Selbsterkenntnis mitsamt dem Anerkennen und der Annahme der eigenen Geschichte wahrscheinlich mit das Mutigste ist, das wir im Leben tun können. Für viele ist es ein Prozess. Eine Entwicklung mit Höhen und Tiefen, aber auch ein Vorgang, durch den Liebe entsteht – sich selbst und anderen gegenüber. Heißt es nicht auch Liebe deinen Nächsten, wie dich selbst? (Vgl. Markus 12,29-31). Vielleicht ist die Erfüllung des Gebotes erst dann möglich, wenn wir echt, authentisch und in all unserer Verletzlichkeit stark sind.
Die Selbsterkenntnis der Demut nach jüdisch-christlichem Verständnis setzt sich aus realistischer Selbsteinschätzung, Kenntnis der Stärken, Schwächen und Grenzen, Gnadenbewusstsein, Dankbarkeit, Selbstbewusstsein, Selbstwertstreben und Beleidigungstoleranz zusammen. Die kommenden Abschnitte sollen die einzelnen Aspekte beleuchten und zum Nachdenken anregen.