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ALTES TESTAMENT
ОглавлениеIch überflog die Seiten des Alten Testamentes und las von Mose, der die positiv verstandene Demut lebte. Er führte das Volk Israel aus der ägyptischen Gefangenschaft. In 4. Mose 12,3 heißt es, dass er der demütigste Mensch auf der Erde war. Doch was war es, das ihn demütig machte? Welche Bedeutung des Wortes kann man anhand der biblischen Erzählungen über Mose ableiten? Was zeichnete ihn als Person aus?
Die Dinge, die mir beim Studium der relevanten Stellen als Erstes ins Auge stachen, waren folgende:
Mose spielte sich trotz seiner Leitungsfunktion nicht auf, sondern agierte immer im Interesse des Volkes (vgl. 2. Mose 5; 2. Mose 32,30f; 4. Mose 11,2).
Er wusste neben seinen Fähigkeiten auch um seine eigenen Fehler, Begrenzungen und Frustrationen als Mensch (vgl. 2. Mose 33,11; 2. Mose 4,10; 4. Mose 11,11+14).
Er wollte nicht um jeden Preis seine Macht erhalten, sondern war sogar froh, als in einer Situation von zu groß gewordener Führungsverantwortung Teile seiner politischen Macht und Begabung an andere weitergegeben wurden: Ich wünschte mir, dass alle aus dem Volk des Herrn Propheten wären und dass der Herr seinen Geist auf alle legte! (4. Mose 11,29).
Mose zeigte tiefe Wertschätzung und Respekt gegenüber Gott und redete offen mit ihm, wie mit einem Freund (2. Mose 34,6ff, 2. Mose 33, 11). Er genoss eine unvergleichliche Gottesnähe (5. Mose 34, 10-12).
Er agierte sehr gewissenhaft (vgl. 2. Mose 39,1 und 43).
Er war nicht verbissen, sondern ging auf die Anliegen seines jeweiligen Gegenübers ein und blieb belehrbar (vgl. 3. Mose 10,20).
Auch wenn das Volk stellenweise über die Lebensumstände in der Wüste sehr unzufrieden war und meckerte (vgl. 2. Mose 15,24), ließ Mose es nicht fallen. Er blieb aufrecht, loyal und nahm seine Verantwortung unerschrocken bis zum Schluss wahr (5. Mose 33,7ff).
Wenn ich mir heute diese Punkte ansehe, frage ich mich, wie viel ich davon bereits umsetze bzw. lebe. Mir wird bewusst, dass Demut nicht über Nacht zu lernen ist. Gleichzeitig habe ich zum ersten Mal das Gefühl, dass ich der Art von Demut, von der der Dozent in meiner Vorlesung sprach, nahekomme. Demut ist voller Wohlwollen und entspricht vielmehr einem aufrechten, selbstbewussten Gang als einem unterwürfigen Kriechen (vgl. Dirks, 1976). Insgeheim frage ich mich, warum die Kirche das Kriechen viele Jahrhunderte lang so forcierte und vorantrieb. Und gleichzeitig stellt sich mir die Frage, wie selbstbewusst und aufrecht wir heute – im Hier und Jetzt – durchs Leben gehen.
Vielleicht liegt die Entwicklung des Kriechertums an Clemens von Rom, der als zweiter oder dritter Nachfolger von Petrus gelistet wird. Er verstand unter Demut in erster Linie Gottgehorsam und bedingungslose Unterordnung. In seinem Brief an die Gemeinde in Korinth (nicht zu verwechseln mit den Briefen von Paulus im Neuen Testament!), forderte er die Gläubigen Ende des ersten Jahrhunderts auf, der Gemeindeleiterschaft vorbehaltlos zu folgen und ihr selbstlos zu dienen. Das hatte fatale Folgen, da es in Sachen Demut auf einmal nur noch um die gehorsame Einfügung in die hierarchische Ordnung ging.
Clemens bezeichnete die Veranlasser der Presbyter- bzw. Gemeindeleiter-Absetzung als Leute, die Streit und Aufstände provoziert und sich damit von der rechten und guten Ordnung entfremdet hatten. Er unterstellte den Aufrührern Heuchelei und Hochmut und behauptete, dass sie nichts mit Jesus gemeinsam hätten. Er benutzte seine Interpretation der Demut, um zu manipulieren, Druck auszuüben und zu demütigen (Wengst, 1987, S. 98f). Mit diesem Demutsverständnis stand er im Urchristentum so gut wie alleine da und doch hat es sich in der Kirchengeschichte an vielen Stellen durchgesetzt. Im Namen des Christentums wurde Menschen und vor allen Dingen Frauen über Jahrhunderte hinweg vorgeschrieben, das Untertanverhalten bzw. den servilen Gehorsam ein- und auszuüben, was zu großer Demütigung und zu großem Missbrauch führte (vgl. Feldmeier, 2014, Pos 977).
Ja, im Alten Testament wird u. a. auch immer wieder der Gehorsam gegenüber Gott betont. Es galt, die Aufträge Gottes wie ein Knecht bzw. wie eine Magd auszuführen. Aber neben dem damit verbundenen Erkennen, dass Gott Schöpfer, Bundespartner und Herr ist, lag der Fokus schon damals sehr stark auf der Gnade Gottes, einer Gnade, die sich in der Erwählung, Befreiung und Erhöhung des Unterdrückten zeigt. Vor allen Dingen die alttestamentlichen Bücher Amos und Jesaja betonen diesen Sachverhalt (vgl. Baumann, 2009).