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Mobbing-Mythos 4: Wer den anderen einen Grund fürs Mobbing liefert, ist selber schuld
ОглавлениеGründe fürs Mobbing finden Mobber viele. Schuldige finden sie nicht viele, insgesamt nur einen. Das Opfer.
Die Gründe fürs Mobbing, die Mobber anführen, sollen alle beweisen, wie schlecht und böse das Opfer sei. Der Mobber kann dann behaupten, er hätte sich nur gegen diese Schlechtigkeit und Bösartigkeit des Opfers gewehrt. Viele Gründe sind übertrieben, interpretieren die Ansichten oder Taten des Opfers gewollt falsch, unterstellen ihm böse Absichten oder sind schlicht Lügen. Zwischen dem Grund, den die Mobber sich einreden, und der Wahrnehmung der Sachlage durch Dritte gibt es große Unterschiede.
Hier sind einige der häufigsten „Gründe“ für Mobbing, wie sie von Tätern genannt werden:
Das Opfer ist anders als die anderen.
Das Opfer hält sich für etwas Besseres.
Das Opfer ist hässlich.
Das Opfer hat eine Art an sich, die blöd ist.
Das Opfer ist karriereversessen.
Das Opfer will jemandem die Arbeitsstelle wegnehmen.
Das Opfer ist gierig.
Das Opfer ist dumm.
Das Opfer ist arrogant.
Das Opfer hat böse/dumme Ansichten.
Das Opfer will alles ändern.
Das Opfer ist zu empfindlich.
Und im Folgenden dieselben „Gründe“, wie sie Dritte wahrnehmen:
Das Opfer ist anders als die anderen. Wer ist das nicht?
Das Opfer hat eine höhere Bildung.
Das Opfer sieht auch nicht viel anders aus als die Mobber.
Das Opfer ist ein Mensch, und kein Mensch verhält sich immer gleich wie alle anderen.
Das Opfer bildet sich weiter.
Das Opfer ist professionell.
Der Täter projiziert seine Gier auf andere.
Das Opfer muss sich erst noch einarbeiten.
Das Opfer sieht gut aus, aber hat die Avancen des Mobbers nicht erwidert und wird nun bestraft.
Das Opfer bildet sich seine eigene Meinung.
Das Opfer setzt sich für das Unternehmen ein und denkt mit.
Das Opfer hat sich schon lange nicht gewehrt.
Die meisten „Gründe“ für Mobbing sind nur Kleinigkeiten. Ein Mensch mit gutem Charakter würde sein Gegenüber einfach tolerieren, anstatt es mit Mobbing zu attackieren.
Aber warum halten die Mobber alle Handlungen des Opfers für Verbrechen? Warum sehen sie keinen Menschen vor sich, sondern einen Kriminellen, obwohl es sich doch nur um Kleinigkeiten handelt?
Der Grund liegt im Entstehen von Feindbildern. Es ist nicht leicht, einem Menschen zu schaden, wenn man ihn als Menschen wahrnimmt. Damit man ihm schaden kann, muss man ihn entmenschlichen, man spricht ihm seine Menschlichkeit ab, oder man verwandelt ihn zum übergroßen Un-Menschen, zum Feind. Ein Feind ist böse, und wer das Böse bekämpft, ist selber gut. Also begeht der Mobber eine edle Tat, indem er mobbt. Er ist der Engel, der den Teufel besiegt.
Kaum ein Mobber bezeichnet sich selber als Mobber. Der Mobber sieht sich als der Gute, der sich verteidigt gegen „diese blöde Kuh/diesen karrieregeilen Machtlüstling/diese eingebildete Zicke/diesen Idioten.“ Der Mobber sagt sich gewiss nicht, wenn das Opfer kündigt: „Den habe ich aber souverän rausgemobbt“, der Mobber sagt sich: „Dem habe ich’s aber gegeben, der greift mich nicht nochmal an!“
Aus diesem Grund sind die Opfer die Täter im Weltbild der Mobber. Und genau deshalb wird Mobbing so selten durch Versöhnung beendet: Die Täter sind nicht an einem Kompromiss interessiert, weil sie nicht mit einem Menschen um unterschiedliche Interessen ringen, sondern weil sie einen Feind vernichten müssen. Mit Feinden schließt man keine Kompromisse.
Um Mobbing beizulegen, müsste das Opfer all das Leid, das ihm angetan wurde, vergessen (das allein ist eine Zumutung) und die Mobber müssten mit dem Mobben aufhören. Mit dem Mobben aufzuhören wäre für die Mobber jedoch zugleich ein Eingeständnis, dass sie etwas Schlechtes getan haben. Wäre das Mobbing gerecht gewesen, müssten sie nicht damit aufhören. Bei einer friedlichen Einigung mit dem Opfer würde das wohlbehütete Selbstbild der Mobber von sich selbst als edle Kämpfer für das Gute zerfleddert werden. Und böse sein, das will niemand. Deshalb mobben die Mobber lieber weiter bis zum bitteren Ende, als dass sie ihre Schuld eingestehen.
Je länger sie gemobbt werden, desto häufiger halten Mobbing-Opfer das Mobbing für verdient. Sie müssen furchtbare Menschen sein, denn die Umwelt signalisiert es ihnen ja ständig. Mobbing-Opfer fühlen sich als die Bösen, die zu Recht bestraft werden! Wer Mobbing nicht erlebt hat, kann die niederschmetternde Wucht dieses Gefühls wohl kaum nachvollziehen.
Aber dieser Gedanke muss sofort gestoppt werden! Mobbing ist niemals gerechtfertigt, denn Mobbing ist Lynchjustiz. Die Bestrafung von falschem Verhalten nimmt der Staat vor, nicht irgendwelche selbsternannten Richter aus dem Unternehmen! Selbst einen Steuerhinterzieher muss man nicht mobben: Seine Strafe ist definiert als Geld- oder Gefängnisstrafe, und wird festgesetzt und ausgeführt von den verantwortlichen Instanzen, nicht von Mobbern!
Und wenn das Opfer trotzdem im Glauben bleibt, dass es das Mobbing verdient hat, als Strafe für all seine (angeblichen!) Vergehen, als Strafe für seine Existenz?
Dann bitte soll das Opfer sich folgende Fragen stellen:
Würde nicht es selbst, sondern ein Freund oder Familienmitglied wegen ähnlicher Umstände gemobbt werden, hätte der Freund das verdient?
Die meisten beantworten diese Frage gewiss mit „Nein“. Dann fügen sie aber, zumindest im Geiste, hinzu: „Aber bei mir ist das anders.“ Das Mobbing-Gift flüstert es ihnen ein. Und das Mobbing-Gift lügt. Der Freund oder Bekannte darf nicht gemobbt werden, und das Mobbing-Opfer darf genauso wenig gemobbt werden! Beide sind Menschen, beide haben ihre gesetzlich garantierte Würde.
Und als zweite Frage:
Würde das Opfer selber jemanden zur Strafe mobben?
Nur weil man jemanden nicht leiden kann, würde man ihm sein tägliches Arbeitsleben zur Hölle machen? Würde man ihn so lange diskriminieren, ausgrenzen und verspotten, bis er mit Depression, Herz-Kreislauf-Beschwerden und Magengeschwür kündigt?
Ganz bestimmt nicht, denn du, lieber Leser, liebe Leserin, bist ein denkender Mensch. Denkende Menschen besitzen die Fähigkeit zur Toleranz und Respekt. (Respekt ist noch wertvoller als Toleranz, denn wer andere respektiert, begegnet ihnen auf Augenhöhe. Wer andere toleriert, fühlt sich überlegen, aber lässt die anderen trotzdem leben.) Und all die angeblichen „Verbrechen“ der Mobbing-Opfer sind mit Toleranz locker zu ertragen.
Die Schuld liegt zu hundert Prozent bei den Tätern.