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Kapitel 3 Die Erfindung des Fahrplans Das Schnellste, was man je gesehen hat

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Haben Sie vor, die nächsten zweieinhalb Jahre am Leben zu bleiben? Sollte die Antwort ja lauten, dann können Sie mit dem Bau der Mallard anfangen. Diese fantastische britische Dampflokomotive, stromlinienförmig und so blau wie das Band des Hosenbandordens, ist in Ihrem Zeitschriftenladen jede Woche als Bausatz zu haben, und wenn Sie ihr 130 Wochen lang die Treue halten, alle nötigen Einzelteile kaufen und zusammensetzen, dann haben Sie am Ende eine 50 Zentimeter lange Lokomotive samt Tender, die gut zwei Kilo wiegt.

Die echte Mallard wurde 1938 in Doncaster gebaut, aber 2013 bot das Verlagshaus Hachette den Modellbau-Amateuren die Chance, eine detailreiche Replik aus Einzellieferungen zusammenzusetzen, eine hochgenaue Miniatur der Spur 0, ausgelegt für eine Schienenbreite von 32 Millimetern („Schienen im Bausatz nicht enthalten“). Das Modell besteht aus Messing, Weißblech, geätzten Metallteilen und dem Ergebnis eines verzwickten Metallgussverfahrens aus der sogenannten „verlorenen Form“, und es erfordert für den Zusammenbau nicht nur beträchtliche Geduld und Geschicklichkeit, sondern außerdem Werkzeuge wie Spitz- und Vorneschneiderzangen; empfohlen wird das Tragen von Arbeitshandschuhen und einer Gesichtsmaske. Wenn Sie mit dem Zusammenbau Ihres Modells dann fertig sind, können Sie es lackieren (Farbe im Bausatz nicht enthalten).

Folge Nr. 1, die in Großbritannien nur 50 Pence kostet, enthält die ersten Metallteile und ein Heft, das Ihnen einiges aus der Geschichte der Mallard und über große Eisenbahnprojekte wie die Transsibirische Eisenbahn erzählt. Zur leichteren Aufbewahrung ist das Heft vorgelocht, und nach ein paar Wochen sollte man die Zeitschriften in eine Sammelmappe stecken (erste Mappe und Registerblätter liegen kostenlos dem zweiten Heft bei, spätere Mappen nicht inbegriffen).

Die erste Entscheidung, vor der Sie stehen, lautet, ob Sie löten oder Sekundenkleber nehmen (Lötzinn nicht enthalten und nicht empfohlen). Die Bauanleitung für die Teile der ersten Woche, die den Führerstand bilden, zerfällt in zwölf Abschnitte; unter anderem muss man den Vorneschneider verwenden, um alle Einzelteile von den Gussgraten zu lösen, die Kanten anschließend mit nassem und trockenem Schmirgelpapier glätten, je drei kleine Punkte in jedes Metallteil punzen, damit sich vorstehende Nieten ergeben, und mit der Spitzzange die vordere linke Führerstandfensterscheibe in Position bringen. Wenn Ihnen das tatsächlich Spaß macht, werden Sie entzückt sein über die kostenlose Modellbauerlupe, mit der sich die Kleinteile betrachten lassen (vorausgesetzt, Sie schreiben innerhalb von zehn Tagen zurück), und ebenso über ein A3-Foto der originalen Mallard in Schwarzweiß, wie sie eine Gefällestrecke hinabdonnert.

Folge 2 zum Preis von nur 3,99 Pfund enthält den nächsten Teil Ihres Modells (die Nase und die stromlinienförmige Kesselverkleidung) sowie einen Artikel über die West Highland Line. Sollten Sie die Reihe abonnieren, bekommen Sie außerdem einen prächtigen Satz Mallard-Untersetzer in einer Blechdose. In Folge 3 tut sich nicht so viel, abgesehen vom Eintreffen des Hauptkessels und einem Preissprung auf 7,99 Pfund (das ist ab sofort der Standardpreis für jede Ausgabe), aber mit Folge 4 bekommen Sie dann ein kostenloses Modellwerkzeugset, darunter ein Lineal aus rostfreiem Stahl und zwei Miniklemmen. Der fünften Folge liegen Anweisungen bei, wie sich Ihre fertige Mallard motorisieren lässt (Motor nicht enthalten).1

Die Mallard in Raten ist eine teure Angelegenheit. Wenn Sie das ganze Ding fertigbauen wollen – und viel Sinn hat es ja wohl nicht, mit Folge 10 oder 50 oder 80 Schluss zu machen –, dann müssen Sie alle 130 Folgen kaufen, und alle 130 Folgen zusammen kosten 1027,21 Pfund. Die Originallokomotive aus Doncaster, 70 Fuß lang und fahrbereit über 167 englische long tons schwer (169,8 Tonnen), die 25 Jahre lang auf ihren Expressfahrten von London nach Schottland und zurück Hunderttausende Passagiere beförderte – was rund 2,4 Millionen Kilometer auf der Schiene ergibt –, kostete 8500 Pfund. Billiger wäre es, den Bausatz direkt von DJH Model Loco in Consett in der Grafschaft Durham zu beziehen, wo Sie sie für nur 664 Pfund auf einen Satz in einer großen Kiste bekommen. DJH Model Loco bietet sogar noch den Service an, dass jemand die Geschichte beschleunigt und das verdammte Modell in ein, zwei Wochen für Sie baut, obwohl das bestimmt nicht der Sinn der Sache ist. Denn bei der Mallard ist es schon immer um Zeit gegangen. Der Zeit wegen hat man sie ja gebaut.


Vielleicht können Sie sich vorstellen, wie die Mallard am Sonntag, dem 3. Juli 1938, auf den Schienen näher kommt. Lokomotive, Tender und Wagen sind blau gestrichen, ob Sie das allerdings auch sehen können, während sie an Ihnen vorbeirasen, ist fraglich. Weit vorn im Zug rollt auch ein klappriges braunes Gefährt mit, ein sogenannter Dynamometerwagen, und drinnen sitzen Männer mit Stoppuhren und Maschinen, die wie primitive Lügendetektoren und Messgeräte für die Herzfrequenz aussehen. Der Zug samt Messwagen bewegt sich so schnell, dass er von einer Seite zur anderen zu taumeln scheint, als suchte er nach der kürzesten Strecke ans Ziel und würde gern auf ein anderes Gleis überspringen, wenn nötig. Sein Ziel heißt London, aber schon weit davor wird er überhitzen.

Sie betrachten den Zug von Stoke Bank aus, nicht weit von Grantham. Eine Kriegsdrohung liegt in der Luft. Die zwölfjährige Margaret Roberts geht in dieser Straße zur Schule. Rasch werden der vorbeieilende Zug und die Erinnerung an ihn zu einem jener prägenden Bilder der Vorkriegszeit werden, so wie die letzte Jagdpartie auf dem Land, ehe in Großbritannien die Lichter ausgingen. Was dieser Zug gleich tun wird, wird nie übertroffen werden, und die Jubiläen – das 25., 50., 60. und so fort – können gar nicht schnell genug kommen. Zugliebhaber lieben diesen Zug, wie sie überhaupt nur etwas lieben können.

Ähnliche Lokomotiven dieser als A4-Pacifics bezeichneten Klasse waren so ausgelegt, dass sie wie die Mallard aussahen und dieselbe Leistung erbrachten, und ihr Konstrukteur Nigel Gresley gab ihnen lauter ähnliche Namen wie Mallard (Stockente): Wild Swan, Herring Gull, Guillemot, Bittern und Seagull (Wildschwan, Silbermöwe, Alk, Dommel, Möwe).2 Doch in den Augen Gresleys – 62 war er, mit seiner Gesundheit ging es bergab, seine Entwürfe waren international anerkannt und häufig kopiert, seine Züge wie etwa der Flying Scotsman wurden für Sicherheit und Komfort gleichermaßen gepriesen, und seine Ingenieurleistungen ließen sich mit denen der Stephensons und Brunels vergleichen3 – war keine dieser Lokomotiven so auserwählt wie die Mallard mit ihrer dynamischen Linienführung und dem erhöhten Zylinderdruck, ihren neuartigen Bremsventilen, dem Doppelschornstein und der Saugzuganlage, die für ein Maximum an Dampfproduktion sorgte.

Bei Stoke Bank bekommt die Maschine ihre Chance. Die Fahrt durch Grantham ist wegen Streckenarbeiten langsam verlaufen, Stoke Summit hat sie jedoch mit 120 Kilometern pro Stunde erreicht und beschleunigt nun auf einem langen bergab führenden Abschnitt. Die Geschwindigkeit am Ende jeder Meile (1,609 km) auf der geneigten Strecke wurde gemessen mit 87 ½, 96 ½, 104, 107, 111 ½, 116 und 119 miles per hour (141, 155, 167, 172, 179, 187 und 192 Stundenkilometer). Anschließend lautete die Ablesung für die dazwischenliegenden Halbmeilen-Intervalle 120 ¾, 122 ½, 123, 124 ¼ und schließlich 125 miles per hour (194, 197, 198, 200 und 201 Stundenkilometer).4 Und so trieb der 61-jährige Joe Duddington, ein in Doncaster wohnhafter Engländer, der seit Gründung der London and North Eastern Railway 1921 in deren Diensten stand und an diesem Tag die Mallard steuerte, die Lok ein bisschen voran, als sie am Dorf Little Bytham in Lincolnshire vorüberbrauste. „Sie erwachte einfach so zum Leben wie ein lebendiges Wesen!“, erinnerte er sich einige Jahre später. „Die Leute im [Mess-]Wagen hielten den Atem an.“ Der Zug erreichte eine Spitzengeschwindigkeit von 202,6 Kilometer pro Stunde, ein bis heute gültiger Rekord unter Dampf.


Die Zeit verging. 75 Jahre später fand sich im National Railway Museum in New York eine große Versammlung aus neunzig alten Herrschaften zusammen, plauderte über die Fahrten auf der Mallard und den Dienst in den Lokschuppen und machte die Runde durch eine weitere große Versammlung in der Haupthalle, vorbei an allen sechs überlebenden A4-Loks mit Stromlinienverkleidung (von ursprünglich 35), gewaltig und glänzend, eine Errungenschaft Englands: Mallard, Dominion of Canada, Bittern, Union of South Africa, Sir Nigel Gresley und Dwight D. Eisenhower.

Herrliche Lokomotiven waren sie alle, aber den Prominentenstatus unter ihnen genoss die Mallard – die schnellste, die einzige, die man in 130 Raten kaufen kann, der Liebling ihres Konstrukteurs – und sie schien mehr zu glänzen als andere, so wie früher Marilyn Monroe oder Cary Grant. Und wie bei einem Filmstar seufzten Erwachsene, die es eigentlich besser wussten, angesichts der Lok, als wären sie ihrer nicht würdig, als gehörte die Maschine zu einer anderen, höheren Art. Mochte sie auch ein Menschenwerk aus Eisen sein, gleichzeitig war sie eine Gottheit, die gewaltig über uns leuchtete. Ich stand Schlange, damit ich auf ihre Stahlplatten treten durfte, und wenn man mich gelassen hätte, dann hätte ich eine Montur und eine Mütze angezogen und mit dem Kohleschaufeln begonnen.

Lokomotiven und ganz besonders Dampflokomotiven dienen als Durchgangszelle eines tiefen männlichen Verlangens. Für Menschen über Siebzig bedeutet der Begriff „alte Zeiten“ üblicherweise die Erinnerung an Bahnhöfe voller Dunstschwaden, Pfiffe und schmierigen Dreck. Eine große Halle voller Männer, die müde Frauen hinter sich herschleppen, haufenweise Plastiktüten mit unzähligen Souvenirs darin – das kann nur ein Wiedersehen mit der Kindheit im Eisenbahnmuseum sein; für eine derart schwere Form von Nostalgie würden die Franzosen einen wegsperren.

Ich war extra gekommen, einem der alten Herren zuzuhören, einem Mann namens Alf Smith. Smith war 92, humorvoll und direkt, und hatte fast vier Jahre lang als Heizer (der die Kohlen schaufelte und die Getriebe ölte) vor dem Kessel der Mallard gestanden, und „ich hatte nie einen schlechten Tag, nie einen schlechten Tag“. Von seinem Lokführer und seinem Zug sprach er mit tiefem Respekt; er erzählte die Geschichte, wie sie beide immer übernachteten und morgens zum warmen Frühstück gingen. Dann schob der Lokführer jedesmal drei Viertel seiner Mahlzeit auf Smiths Teller. „Nicht einmal, nicht zweimal, sondern jeden Tag, an dem wir da waren, das hat er gemacht. Und ich sag ihm: ‚Joe, was machst du?‘ Sagt er: ‚Mir reicht ein verdammtes Ei, dass ich nach Hause komme, du musst die ganze Arbeit machen – iss es!‘ Die Mallard war Teil unserer Geschichte. Na ja, sie war unsere Geschichte. Das war meine Maschine.“ Seine Maschine wurde unten förmlich belagert, während er sprach. Im Museumsshop sonnte sich der Zug im Glanz eines runden Jubiläums, und das hieß Poster und Kühlschrankmagnete im Verkauf, außerdem Döschen mit hosenbandordenblauer Farbe, die sich für Modelle eignete.


Geschwindigkeitsrekorde von Lokomotiven bleiben meistens lange Zeit bestehen: Man kratzt ein paar Kilometer weit am absoluten Limit, dann setzen Sicherheitsfragen oder ein allgemeiner Mangel an Ehrgeiz jahrzehntelang den Deckel auf den Rekord. Die Fahrt von London nach Aberdeen dauerte beispielsweise 1895 acht Stunden und 40 Minuten und wurde 80 Jahre lang nicht schneller. Mitte der 1930er-Jahre brauchte man rund zwei Stunden und 20 Minuten von London bis Liverpool, und davon haben wir kaum 15 Minuten abgetragen. Doch im 21. Jahrhundert steht die Eisenbahn wiederum im Bann der Rekorde und der Geschwindigkeit. In diese Party ist die Geburtsstätte der Eisenbahn erst ziemlich spät eingestiegen; HS2, wovon die erste Phase 2026 in Betrieb gehen soll, wird die Fahrt von London nach Birmingham von einer Stunde 24 Minuten auf nur noch 49 Minuten verkürzen.

Anderswo auf der Welt ist der Fortschritt schneller gewesen. 2010 reduzierte in Spanien der 330 Stundenkilometer schnelle AVE-Zug der Baureihe 112, der seiner Form wegen den Spitznamen „die Ente“ trägt, die Reisezeit zwischen Madrid und Valencia um mehr als zwei Stunden auf eine Stunde 50 Minuten. Im selben Jahr schafften Reisende zwischen Sankt Petersburg und Helsinki den grenzüberschreitenden Trip in drei Stunden 30 Minuten und damit zwei Stunden schneller als in der Zeit, ehe der Sm6 Allegro aus einer Fabrik in Italien geliefert worden war. In China fuhr der 2011 an den Start gegangene CRH 380A mit 300 Stundenkilometern und verkürzte so die Reise von Peking nach Shanghai auf weniger als die Hälfte der Fahrzeit von 2010 – von zehn Stunden auf vier Stunden 45 Minuten. Und wie es sich kaum anders denken ließ, ist Japan ein bisschen schneller als alle anderen vorwärtsgekommen: Dort transportierte der Maglev-Zug, eine Magnetschwebebahn, auf einer Teststrecke in der Nähe des Fuji im April 2015 49 Passagiere mit einer Geschwindigkeit von 603 Stundenkilometern, womit er am französischen TGV glatt vorbeizog. Der Maglev soll 2027 den Betrieb zwischen Tokio und Nagoya aufnehmen, eine Strecke von gut 265 Kilometern, die er in 40 Minuten schaffen sollte, der halben Zeit, die im Moment der Shinkansen-Hochgeschwindigkeitszug braucht.

Für den überraschendsten Technologiesprung von allen müssen wir jedoch zur Geburt der Idee des Zuges zurückkehren und damit an einen verrußten Morgen im Nordwesten des präviktorianischen England.

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