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Einleitung Sehr, sehr früh oder sehr, sehr spät

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Wir sind in Ägypten. Nicht im alten Ägypten, obwohl das für ein Buch über die Zeit ein vernünftiger Anfangsort wäre, sondern im Ägypten von heute, einem Ägypten frisch aus dem Merian mit den schönen Stränden und den Touristen bei den Pyramiden und der Sonne, wie sie auf das Mittelmeer niederbrennt. Wir sitzen in einem Restaurant an einem Strand bei Alexandria, und am Ende des Strandes sehen wir einen einheimischen Fischer etwas Leckeres zum Abendessen angeln, vielleicht eine hübsche Rotbarbe.

Wir machen Ferien nach einem zermürbenden Jahr. Nach dem Essen schlendern wir zu dem Fischer hinüber. Er spricht ein bisschen Deutsch. Er zeigt uns seinen Fang – bisher nicht viel, aber er ist guter Dinge. Weil wir ein klein wenig vom Angeln und vom Ergreifen von Möglichkeiten verstehen, schlagen wir vor, er könnte auf den Felsen da drüben umziehen, eine Winzigkeit weiter draußen, auf eine höhere Position fürs Auswerfen als von hier aus auf seinem alten Klapphocker und zugleich mit einer größeren Chance, seinen Tagesfang an Fischen schneller einzubringen.

„Warum sollte ich das wollen?“, fragt er.

Wir sagen, dass er, wenn er schneller wäre, auch mehr Fische fangen könnte, und dann hätte er nicht nur genug für sein Abendessen, sondern könnte den Überschuss auf dem Markt verkaufen, und mit dem Gewinn könnte er eine bessere Angelrute und eine neue Kühlbox für seinen Fang kaufen.

„Warum sollte ich das wollen?“

Damit du noch schneller noch mehr Fische fangen und die dann verkaufen kannst, und dann hast du bald genug, um ein Boot zu kaufen, und das heißt tieferes Wasser und noch mehr Fische in Rekordzeit dank dieser großen Netze, die man auf Trawlern benutzt. Ehrlich, du könntest bald selbst ein erfolgreicher Trawlerfischer werden, und dann würden die Leute „Käpt’n“ zu dir sagen.

„Warum sollte ich das wollen?“, fragt er provozierend selbstzufrieden.

Wir kommen aus der Welt von heute, sind auf Ehrgeiz und die Vorzüge bereitwilligen Arbeitseifers eingestimmt, also vertreten wir unsere Sache mit wachsendem Unmut. Wenn du ein Boot hättest, dann wäre dein Fang bald dermaßen groß, dass du der große Mann auf dem Fischmarkt wärst, du könntest die Preise diktieren, mehr Boote kaufen, Arbeiter einstellen und dann, als Erfüllung des höchsten Lebenstraums, früh in den Ruhestand gehen und deine Zeit verbringen, indem du in der Sonne sitzt und angelst.

„Ein bisschen so wie heute?“1


Jetzt wollen wir uns kurz den Fall William Strachey ansehen. Strachey kam 1819 zur Welt und hatte es sich seit seiner Schulzeit in den Kopf gesetzt, Verwaltungsbeamter zu werden. Mitte der 1840er-Jahre arbeitete er im Kolonialamt in Kalkutta, wo er zu der Überzeugung gelangte, dass die Menschen in Indien im Allgemeinen und die Leute in Kalkutta im Besonderen eine Methode entdeckt hatten, wie sie ihre Uhren besonders genau gehen ließen (die besten Uhren in Indien kamen damals wahrscheinlich aus Großbritannien, aber egal). Als er nach fünf Auslandsjahren nach England heimkehrte, entschied er sich, weiterhin nach Kalkutta-Zeit zu leben – ein kühner Schritt, denn die war der Londoner Zeit fünfeinhalb Stunden voraus.

William Strachey war der Onkel von Lytton Strachey, dem herausragenden Kritiker und Biographen der viktorianischen Zeit.2 Michael Holroyd, seines Zeichens wiederum der Biograph Lyttons, hat angemerkt, Lytton sei von allen Stracheys der exzentrischste gewesen, und das will wirklich etwas heißen, hatte es der Strachey-Clan doch geradezu zum Ritual erhoben, aus schrägen Typen zu bestehen.3

William Strachey lebte lange genug, um Mitte achtzig zu werden, und verbrachte damit über fünfzig Jahre in England nach Kalkutta-Zeit. Das hieß Frühstück zur Teezeit und Lunch bei Kerzenlicht am Abend, und es verlangte eingehende Berechnungen mit Blick auf die Zugfahrpläne und andere Routinesachen des Alltags wie Einkäufe oder Öffnungszeiten der Banken. Doch 1884 wurde alles noch komplizierter, als die Zeit in Kalkutta gegenüber dem Großteil des restlichen Indien einen Sprung von 24 Minuten nach vorn machte, womit Stracheys Tag gegenüber der Londoner Zeit um fünf Stunden und 54 Minuten vorging. Manchmal war es schlicht unmöglich zu sagen, ob er sehr, sehr früh oder sehr, sehr spät dran war.

Viele Freunde Stracheys (nicht, dass er viele Freunde gehabt hätte) gewöhnten sich an diese Schrulle, obwohl er die Geduld seiner Familie auf eine harte Probe stellte, als er auf der Pariser Weltausstellung von 1867 ein Bett mit eingebautem Mechanismus kaufte. In dem Bett steckte eine Uhr, die darauf ausgelegt war, den Bettbewohner zur eingestellten Stunde zu wecken, indem sie ihn (oder sie) hinauskippte, und Strachey stellte das Bett so auf, dass es ihn in seine Badewanne kippte. Aller Planung zum Trotz war er, als er das erste Mal auf diese Weise geweckt wurde, anscheinend so aufgebracht, dass er keine andere Möglichkeit sah, als die Uhr zu zertrümmern, damit er auch ganz sicher nicht wieder so ausgekippt werden würde. Holroyd zufolge verbrachte William Strachey seine verbleibenden Lebensjahre in Überschuhen aus Gummi und vermachte seinem Neffen kurz vor seinem Tod eine ansehnliche Sammlung verschiedenfarbiger Unterhosen.


Irgendwo zwischen der Gelassenheit des Fischers und Stracheys Irrsinn bewegt sich unser aller Leben mit seinen Kompromissen. Wollen wir das Angler- oder das Uhrenleben? Wir wollen beides. Wir beneiden die, die ein unbeschwertes Leben führen, aber wir haben nicht die Zeit, es lange in Augenschein zu nehmen. Wir wollen mehr Stunden an jedem Tag, fürchten aber, wir würden sie wahrscheinlich doch nur verschwenden. Wir arbeiten rund um die Uhr, damit wir eines Tages weniger arbeiten können. Wir haben den Begriff quality time für das Leben mit Menschen, die uns nahestehen, erfunden, um sie von dieser ganzen sonstigen Zeit unterscheiden zu können. Wir stellen uns einen Wecker ans Bett, was wir aber eigentlich möchten, ist, ihn kurz und klein zu schlagen.

Die Zeit, einst etwas Passives, ist inzwischen aggressiv. Sie beherrscht unser Leben in einer Weise, die die ersten Uhrmacher zweifellos unerträglich gefunden hätten. Wir glauben, die Zeit läuft uns davon. Die Technik beschleunigt alles, und weil wir wissen, dass in Zukunft alles noch schneller werden wird, folgt daraus, dass im Augenblick nichts schnell genug ist. Die Zeitzonen, die das Denken von William Strachey so in Beschlag nahmen, sind durch das ewige Tageslicht des Internets beinahe überholt. Aber das Seltsamste an all dem ist Folgendes: Wenn sie noch könnten, dann würden uns die ersten Uhrmacher mitteilen, dass das Pendel mit derselben Frequenz schwingt wie eh und je und dass die Kalender seit Jahrhunderten feststehen. Wir haben uns diese Suppe der Hektik selber eingebrockt. Die Zeit erscheint uns schneller, weil wir sie selbst schneller gemacht haben.

Dies ist ein Buch über unsere Besessenheit von der Zeit und unser Verlangen, Zeit zu messen, zu kontrollieren, zu verkaufen, zu filmen, sie zu inszenieren, sie unvergänglich und sinnerfüllt zu machen. Es führt vor Augen, wie im Lauf der letzten 250 Jahre die Zeit zu einer derart dominanten und drängenden Kraft in unserem Leben geworden ist, und es stellt die Frage, wieso wir Zehntausende Jahre lang in den Himmel gestarrt haben, um uns von dort vage und sprunghafte Handlungsanweisungen zu holen, jetzt aber von unseren Telefonen und Computern nicht ein-, zweimal am Tag, sondern kontinuierlich und zwanghaft Direktiven mit atomarer Genauigkeit beziehen. Das Buch verfolgt lediglich zwei schlichte Ziele: erstens ein paar aufschlussreiche Geschichten zu erzählen und zweitens die Frage zu stellen, ob wir alle völlig durchgeknallt sind.

Neulich habe ich die App „Wunderlist“ für mein Smartphone gekauft. Das Programm ist darauf ausgelegt, „Ihre Aufgaben für zuhause, die Arbeit und alles dazwischen zu sortieren und zu synchronisieren“, „einen schnellen Blick auf ein To-Do zu werfen“ und „mit Hilfe unseres Today-Widgets aus jeder beliebigen App schnell hinüberwischen und einen Blick auf Ihre anstehenden To-Dos werfen zu können“. Der Kauf dieser App war eine schwere Entscheidung, denn außer ihr gibt es Apps namens Tick Task Pro, Eisenhower Planner Pro, gTasks, iDo Notepad Pro, Tiny Timer, 2Day 2Do, Little Alarms, 2BeDone Pro, Calendar 366 Plus, Howler Timer, Tasktopus, Effectivator und viele, viele hundert andere. Im Januar 2016 machten diese Business- und Produktivitäts-Apps – von denen die große Mehrheit sich um Zeitersparnis, Zeitmanagement und mehr Geschwindigkeit und Effizienz in all unseren Lebensbereichen dreht – einen größeren Anteil unter den Smartphone-Apps aus als Bildung, Unterhaltung, Reisen, Bücher, Gesundheit und Fitness, Sport, Musik, Fotos und Nachrichten, wobei auch sie alle locker damit zu tun haben, wie man seine Effizienz verbessert und schneller mehr erledigt bekommt. Richtig, der Name lautet „Tasktopus“. Wie sind wir nur an diesen furchtbaren und furchtbar aufregenden Ort gekommen?

Zeitfieber versucht das herauszufinden, indem es sich einige wichtige Momente ansieht. Die meiste Zeit werden wir in Gesellschaft damaliger und heutiger Zeitzeugen verbringen, darunter einige beachtliche bildende Künstler, Athleten, Erfinder, Komponisten, Filmemacher, Schriftsteller, Redner, Gesellschaftswissenschaftler und – natürlich – Uhrmacher. Die Kapitel in diesem Buch wenden sich eher den praktischen als den ätherischen Aspekten der Zeit zu – also der Zeit als Hauptperson in unserem Leben, manchmal sogar als die einzige, an der wir unseren Wert messen – und untersuchen eine Reihe von Fällen, in denen unsere Messung und Auffassung der zeitlichen Dinge unser Leben auf eine wichtige Weise erweitert, eingeschränkt oder umgestaltet hat. Das Buch schimpft uns wegen unseres Lebens in Hochgeschwindigkeit nicht aus, obwohl mehrere Leute vorschlagen werden, wie man auf die Bremse treten kann. Ebenso wenig wird es ein Buch über theoretische Physik; wir werden also nicht herausbekommen, ob die Zeit etwas Echtes oder Imaginäres ist oder was vor dem Urknall kam – stattdessen untersucht es, was nach dem Urknall der Industriellen Revolution geschah. Und wir werden auch nicht mit Science-Fiction oder der unfassbaren Mechanik der Zeitreisen herumhantieren, mit dem ganzen Tralala, wie man zurückreist, um seinen eigenen Großvater zu töten und plötzlich auf dem Camp du Drap d’Or aufzuwachen.4 Das überlasse ich den Physikern und den fanatischen Doctor Who-Freunden; ich halte mich in der ganzen Sache an den rationalen Ansatz von Groucho Marx: Die Zeit fliegt wie ein Pfeil, aber Obst fliegt wie eine Banane.5

Zeitfieber folgt der Flugbahn des Zeitpfeils in der Moderne. Mit der Eisenbahn und den Fabriken zieht die Fluggeschwindigkeit an, aber unsere Reise führt hauptsächlich durch die Kultur und gelegentlich auch ein Stück weit in die Philosophie: Sie kommt in Fahrt mit Beethovens Sinfonien und den fanatischen Traditionen des Schweizer Uhrmacherhandwerks. Ab und zu gibt es eine Kostprobe der Weisheit, die im irischen und jüdischen Humor zu finden ist. Die Zeit wird dabei eher in Zyklen laufen als linear, hat sie doch die Angewohnheit, zu sich selbst zurückzukehren (beispielsweise erscheint die Frühzeit des Kinos hier vor der Frühzeit der Fotografie). Aber Chronologie hin oder her, eine unausweichliche Tatsache bringt die Zeit mit sich – nämlich, dass wir früher oder später den Verantwortlichen für die Anzeigen aufstöbern, die behaupten: „Eine Patek Philippe gehört einem nie ganz allein […] eigentlich bewahrt man sie schon auf für die nächste Generation“, und ihn, wenn’s geht, trotzdem nicht umbringen. Dieses Buch nimmt außerdem die Weisheiten der Zeitmanagementgurus unter die Lupe, untersucht, warum eine CD so lange läuft, wie sie läuft, und erklärt, weshalb Sie sich sehr genau überlegen sollten, ob Sie wirklich an einem 30. Juni verreisen wollen.

Anfangen wollen wir aber mit einem Fußballspiel, einem Ereignis, bei dem Timing alles ist.


1 Deutsche Leser erkennen eine Kurzfassung von Heinrich Bölls „Anekdote zur Senkung der Arbeitsmoral“ von 1963 (A. d. Ü.).

2 Lytton Stracheys Eminent Victorians (1918), eine Serie scharfzüngiger Kurzbiographien, prägte das Bild einer prüden, bigotten, von versteckten Defiziten gerade ihrer größten Idole gezeichneten Epoche mit (A.d.Ü.).

3 Bartle, ein weiterer Onkel Lytton Stracheys, schrieb ein Buch, welches das letzte Wort – das damalige letzte Wort – über die Orchideen in Burma darstellte. Und noch ein anderer, Onkel Trevor, war mit Tante Clementina verheiratet, die sich jedesmal, wenn sie Lyttons Londoner Haus in Lancaster Gate besuchte, auf den Wohnzimmerteppich setzte und Chapatis zubereitete [eine weitere Verbindung zur Kolonialherrschaft über Indien (A.d.Ü.)]. Eines der Kinder Trevors und Clementinas starb, als es einen Bären umarmte.

4 Schauplatz des prunkvollen englisch-französischen ‚Gipfeltreffens‘ von 1520 (A. d. Ü.).

5 Zugleich: „… aber Fruchtfliegen mögen gern Banane.“ (Time flies like an arrow but fruit flies like a banana.) [A.d.Ü.] – Dieser Witz wird Groucho Marx zugeschrieben, nur kann man ein sehr angenehmes Wochenende damit zubringen, auch nur einen Fall herauszusuchen, in dem er das tatsächlich gesagt hat. Wahrscheinlich liegt der Ursprung der Wendung in einem Artikel zum Einsatz von Computern in den Naturwissenschaften, den der Harvard-Professor Anthony C. Oettinger für das Septemberheft 1966 des Scientific American schrieb.

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