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Gab es je eine grässlichere Tyrannei?

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An jenem Tag, an dem die Liverpool and Manchester Railway 1830 ihren Betrieb aufnahm, revolutionierte sie die Art, wie wir unser Leben sahen. Die Tatsache, dass sie die aufstrebenden Baumwollspinnereien mit einem großen Seehafen in gut 45 Kilometern Entfernung verband, ist da beinahe nebensächlich. Die Dampfmaschine ließ die Welt schrumpfen und zugleich weiter werden; sie ließ den Handel anschwellen, sie beschleunigte die Ausbreitung von Ideen, sie beflügelte weltweit die Industrie. Und mehr als jede andere Erfindung – ausgenommen die Uhr selbst und vielleicht noch die Rakete – veränderten die Eisenbahnen unsere Wertschätzung der Zeit.

Der Zug war anders als der Computer:Seine frühen Vorkämpfer wussten ziemlich genau, was sie da auf die Welt losließen. Als der Geschäftsführer und Schatzmeister der Eisenbahnlinie, Henry Booth, Ende der 1820er-Jahre den Vorschlag einer Verbindung von Liverpool nach Manchester möglichen Geldgebern und den nervösen Massen vorstellte (die Leute fürchteten, ihre Lungen würden kollabieren, die Kühe keine Milch mehr geben und der Landstrich in Flammen aufgehen), sprach er davon, wie sich die Reisezeit für Passagiere zwischen den beiden Städten, die man früher nur mit Pferdekutschen auf mautpflichtigen Landstraßen hatte erreichen können, halbieren würde.5 „Der Geschäftsmann in Manchester wird daheim frühstücken“, weissagte Booth, „mit der Eisenbahn nach Liverpool fahren, sein Geschäft abschließen und noch vor dem Dinner nach Manchester zurückkehren.“ (1830 war das Dinner das Mittagessen.) Booth, ein Mann, der es verdient hätte, stärker in Erinnerung zu sein, sagte die Auswirkungen der Eisenbahn viel wortgewaltiger voraus als die Stephensons oder Brunel. Die Eisenbahn, behauptete er zutreffend, werde „unsere Wertschätzung der Zeit“ verändern. „Unsere gewandelte Einschätzung der Tätigkeit einer Stunde oder eines Tages“ werde „die Lebensdauer selbst“ beeinflussen. Oder wie Victor Hugo später erklärte: „Alle Armeen auf der Welt sind nicht so mächtig wie eine Idee, deren Zeit gekommen ist.“6

Die Liverpool and Manchester Railway war das größte Maschinenbauprojekt, das die Welt bis dahin gesehen hatte. Gleichzeitig war sie zu dieser Zeit die schnellste Eisenbahn der Welt, legte sie doch die 31 Meilen (50 Kilometer) in rund zwei Stunden und 25 Minuten zurück.7 Binnen weniger Jahre nach ihrer Eröffnung gab es im ganzen Land Unfälle, aber auch eine ungeheure Stimmung industrieller Abenteuerlust und des Aufbruchs: Das Schicksal der Wirtschaft in aller Welt raste nun auf Eisenrädern dahin, und der Minutenzeiger hatte seinen lebenswichtigen, unentbehrlichen Zweck gefunden.

Britische Dampflokomotiven wurden in die ganze Welt verschifft. Im Februar 1832 brachte eine neue Zeitschrift namens The American Rail-Road Journal die Nachricht von einer Schienenstrecke parallel zum Erie-Hudson-Kanal und von Plänen, demnächst Strecken in New Jersey, Massachusetts, Pennsylvania und Virginia zu eröffnen. Passagiereisenbahnen gingen 1832 in Frankreich, 1834 in Irland, 1835 in Deutschland und Belgien und 1837 in Kuba in Betrieb. 1846 wurde praktisch ganz Großbritannien aufgegraben, untertunnelt oder geschottert: In diesem Jahr gab es 272 Gesetze über Eisenbahngesellschaften.

Mit den Streckeneröffnungen kam eine weitere Innovation – der Fahrplan für Passagiere. Im Januar 1831 wagte es die Liverpool and Manchester Railway lediglich, ihre Abfahrtszeiten aufzulisten, obwohl sich die Fahrtzeit weiter verkürzte. Inzwischen hoffte die Gesellschaft, dass die Strecke zwischen den Städten „für gewöhnlich von den Erster-Klasse-Wagen [in] unter zwei Stunden bewältigt wird“. Und wirklich schienen die Waggons erster Klasse schneller unterwegs zu sein – mehr Kohle, vielleicht auch eine leistungsfähigere Lokomotive –, und so gab es zwei klar unterschiedene Zeitpläne: Die erste Klasse, Preis fünf Shilling auf jeder Strecke, fuhr um 7.00,10.00,13.00 und 16.30 Uhr, zusätzlich dienstags und samstags mit Spätzügen um 17.30 Uhr für Kaufleute aus Manchester; die zweite Klasse, Kostenpunkt dreieinhalb Shilling, fuhr um 8.00 und 14.30 Uhr.

Was aber war, wenn Sie weiter wegreisen wollten, vielleicht aus Lancashire nach Birmingham oder London? Schon Ende der 1830er-Jahre war das möglich, obwohl die rivalisierenden Eisenbahngesellschaften – die Grand Junction Railway, die aus den Midlands nach Nordwesten führte, die London and Birmingham Railway, die Leeds and Selby Railway sowie die York and North Midland Railway – es nicht schafften, ihre Fahrpläne so abzustimmen, dass sie einem Passagier, der darauf erpicht war, mehr als eine Strecke am Tag zu schaffen, diesen Gefallen taten.

Der erste Eisenbahnfahrplan, der mehrere Strecken miteinander kombinierte und für die breite Öffentlichkeit bestimmt war, erschien 1839, doch er enthielt eine eingebaute Schwäche: Die Uhren in Großbritannien waren nicht miteinander synchronisiert. Vor dem Eisenbahnnetz hatte kaum jemand eine Notwendigkeit dafür gesehen. Wenn die Uhren in Oxford der Londoner Zeit fünf Minuten und zwei Sekunden nachgingen, die in Bristol zehn Minuten oder die in Exeter 14 Minuten (und das war bei allen drei westenglischen Städten in den 1830er-Jahren wirklich der Fall, da in jeder die Sonne später auf- und unterging als in London), dann mussten Sie schlicht Ihre Taschenuhr neu stellen, wenn Sie dort ankamen.8 Die Uhr am Rathaus oder an der städtischen Hauptkirche war üblicherweise für die Ansässigen das Maß der Normalzeit, und die richtete sich immer noch nach dem Sonnenstand am Mittag; eine relativ ortsfeste Bevölkerung hatte mit der Zeit anderswo im Land wenig zu schaffen, solange nur ihre eigenen Taschenuhren am Ort nach derselben Zeit gingen. Reiste man auf der Straße oder einem Wasserlauf, dann kompensierte man die Zeitunterschiede entweder unterwegs (manche Postkutschenbetreiber stellten Korrekturlisten zur Verfügung) oder glaubte, sie entspreche der Ungenauigkeit der Taschen- oder transportablen Tischuhr eines Reisenden. Doch mit der Eisenbahn befiel ein neues Zeitbewusstsein alle, die reisten: Das Konzept der „Pünktlichkeit“ war geboren.

Passagiere, die sich etwas auf die Genauigkeit ihrer Uhren einbildeten (und davon gab es viel mehr, je weiter das Jahrhundert fortschritt), bekamen jetzt Gesellschaft von einer ganz neuen Schicht der Uhrenbesitzer – den Eisenbahnern. Keine dieser Gruppen gab sich mit dem zufrieden, was sie als unnötige Macken in der Genauigkeit sah. Wenn man die Bahnhofsuhren nicht synchronisiert hatte, dann verursachten die verschiedenen und miteinander vergleichbaren Fahrpläne zwischen dem Abfahrts- und dem Zielpunkt nicht nur Verwirrung und Frustration, sondern ihre Fortschreibung musste immer unmöglicher, ja gefährlich werden. In dem Maß, wie sich das Land mit Eisenbahnen füllte, musste die Abweichung der Uhr des einen Fahrers von der eines anderen so gut wie sicher in einem Zusammenstoß enden. Und dann, ein Jahr später, fand man eine Lösung, zumindest für Großbritannien. Zum ersten Mal kam es zu einer Vereinheitlichung der Zeitmessung: Die Eisenbahnen begannen, die Uhren der Welt nach ihrer eigenen Uhr gehen zu lassen.

Als Erste setzte im November 1840 die Great Western Railway die Idee um, dass die Zeit entlang ihrer ganzen Strecke die gleiche sein sollte, egal wo ein Passagier ein- oder ausstieg. Diese Aufgabe ließ sich erfüllen, weil im Vorjahr der elektrische Telegraph eingeführt worden war und die Drähte entlang der Gleisstrecken unmittelbar die Zeitsignale aus Greenwich übermittelten. So orientierte sich die „Eisenbahnzeit“ an der „Londoner Zeit“, und 1847 galt sie auf der North Western Railway (dort war Henry Booth ihr größter Fürsprecher), der London and South Western, der Lancaster and Carlisle, der South Eastern, der Caledonian, der Midland und der East-Lancashire-Strecke.

Es gab außerdem Alleingänger unter den Verfechtern dieser Entwicklung. 1832 war Abraham Follett Osler, ein Glasbläser und Meteorologe aus Birmingham, so überzeugt von der Einführung der Standardzeit über die Eisenbahn hinaus, dass er die Dinge in die eigene Hand nahm. Erst sammelte er Spenden zur Aufstellung einer neuen Uhr vor der Birmingham Philosophical Institution, dann stellte er sie eines Abends von der Lokal- auf die Londoner Zeit um (und stellte damit um sieben Minuten und 15 Sekunden vor). Den Leuten fiel das auf, aber sie bewunderten auch die Genauigkeit der Uhr; binnen eines Jahres hatten die Kirchen und die Ladenbesitzer ihre Zeit darauf umgestellt.

Mitte des Jahrhunderts liefen rund 90 Prozent der Eisenbahnen Großbritanniens nach Londoner Zeit, obwohl diese Regelung auf einigen örtlichen Widerstand traf. Viele Stadtvertreter wehrten sich gegen jegliche Einmischung aus London und bekundeten ihren Unwillen, indem sie Uhren mit zwei Minutenzeigern betrieben – der spätere von beiden markierte üblicherweise ihre Lokalzeit. In einem Artikel mit der Überschrift „Aggression der Eisenbahnzeit“ äußerte 1851 ein Korrespondent des Chambers’ Edinburgh Journal seinen komischen Widerwillen: „Die Zeit, unser bester und teuerster Besitz, ist in Gefahr. [Die Einwohner sind] jetzt in vielen unserer britischen Städte und Ortschaften verpflichtet, sich dem Willen von Dampf und Dunst zu beugen und gehorsam den Gesetzen einer Eisenbahngesellschaft zu hetzen! Gab es je eine grässlichere Tyrannei?“ Der Autor unterstreicht seinen Abscheu mit vielen Beispielen, darunter ein Festessen und eine Hochzeit, die infolge der Zeitunterschiede gleichermaßen verdorben worden seien; danach rüttelt er die Leserschaft auf:

Ist es möglich, dass dieses böse Ungeheuer, das uns auf so tückische Weise das Gute verspricht, und doch nur Böses ernten wird, von frei geborenen Engländern geduldet wird? Gewiss nicht! Scharen wir uns stattdessen um die gute alte Zeit, entschlossen, gegen diese willkürliche Aggression zu agitieren und, wenn nötig, Widerstand zu leisten. Unser Feldgeschrei sei: „Die Sonne oder die Eisenbahn!“ Engländer! Säumt nicht, euch dieser gefährlichen Neuerung zu widersetzen! Es gibt keine Zeit zu verlieren: „Erwacht, erhebt euch, denn sonst fallt ihr ewig!“9

Die Eisenbahnzeit konnte einen schon durch ihre bloße Anwesenheit umbringen. 1878 publizierte ein gewisser Dr. Alfred Haviland, Epidemiologe und Autor des kurärztlichen Reiseführers Scarborough as a Health Resort, das Pamphlet Hurried To Death: or, A Few Words of Advice on the Danger of Hurry and Excitement Especially Addressed to Railway Passengers („Zu Tode gehetzt oder: Einige Worte des Rats über die Gefahr der Hetze und Aufregung, besonders an Eisenbahnpassagiere gerichtet“), in dem er in ziemlich atemloser Prosa vor den Risiken warnte, wenn man allzu eingehend den Zugfahrplan studierte, anschließend losrannte, um den abfahrenden Zug noch zu erwischen, und sich übermäßig Gedanken wegen all dieser neuen Zeitpläne machte. Havilands Belegmaterial, mit dem ihm das Kunststück gelang, gleichzeitig schlüssig und anrüchig zu wirken, konzentrierte sich auf Forschungsergebnisse, die nahelegten, dass Menschen, die sich regelmäßig auf die Bahnlinie von Brighton nach London wagten, schneller alterten als andere.

Der neue Zeitdruck bot Anlass zu einiger Heiterkeit. 1862 enthielt das Railway Traveller’s Handy Book – ein unerlässlicher Leitfaden, was man für den Zug anziehen, wie man sich auf der Schiene benehmen sollte und wie beim Passieren eines Tunnels – einen Abschnitt über den unkundigen Reisenden, der zum Zug rennt, obwohl er noch reichlich Zeit hat:

Etwa fünf Minuten vor der Abfahrt eines Zuges läutet man eine Glocke als Signal an die Passagiere, sich auf die Abfahrt vorzubereiten. Reisende, die an Eisenbahnfahrten nicht gewöhnt sind, verbinden das Läuten der Glocke mit der augenblicklichen Abfahrt des Zuges, und es ist höchst erheiternd, die Neulinge Hals über Kopf den Bahnsteig entlangrennen zu sehen, während sie über alles und jeden purzeln in ihrem Eifer, den Zug zu erwischen, der, wie sie wähnen, gerade ohne sie abfahren will.

Die Vielfahrer andererseits nähmen das Glockenzeichen als Signal, sich „an die Abteiltür zu stellen, von wo sie die panikerfüllte Menge gelassen mustern“.10

Der letzte Vereinheitlichungsschub folgte 1880, als das Parlament den Statutes (Definition of Time) Act verabschiedete. Fortan war es eine Ordnungswidrigkeit, auf öffentlichen Gebäuden vorsätzlich die falsche Zeit anzuzeigen. Außerhalb Großbritanniens aber bewegte sich die Zeit in anderen Gleisen. Frankreich, eine Nation, die sich die Eisenbahnen später zu eigen gemacht hatte als viele ihrer europäischen Nachbarn, fand eine Methode, seine traditionell widerborstige Einstellung zur Zeit auf das neue Transportmittel zu übertragen. Während die meisten Bahnhöfe für ihre Fahrpläne und die außen angebrachten Uhren die Pariser Zeit übernahmen, gingen die Uhren innerhalb der Bahnhofsgebäude durchweg und vorsätzlich fünf Minuten vor, um den Druck auf jene Passagiere zu mindern, die womöglich spät dran waren. (Das hielt sich von etwa 1840 bis 1880; regelmäßige Bahnfahrer durchschauten den Trick natürlich und passten ihre eigene Zeitplanung dementsprechend an, ein hübscher Fall von Laissez-faire.)

In Deutschland schien mit den Eisenbahnen die Zeit wie durch Zauberwerk zu schrumpfen. Als der Theologe David Friedrich Strauß Ende der 1840er-Jahre von Heidelberg nach Mannheim reiste, staunte er über die Fahrt, die statt in „fünf Stunden in einer halben“ verlief. 1850 verkürzte die Ludwigs-Eisenbahn-Gesellschaft die Zeit noch weiter, warb sie doch für eine Fahrt von Nürnberg nach Fürth, auf der man „1½ Stund. in 10 Min.“ reiste.11 In seiner Geschichte der Stunde hält der deutsche Historiker Gerhard Dohrn-van Rossum immer wiederkehrende zeitgenössische Bemerkungen fest, wonach die Eisenbahnen „die Vernichtung von Raum und Zeit“ und „Emanzipation von der Natur“ bewirkten.12 Wie auch Henry Booth in Liverpool schätzten Reisende, die Berge durchfuhren und Täler überbrückten, es so ein, dass die Auslöschung dieser Hindernisse ihre Lebenszeit praktisch verdoppelte. Die Fantasie beschleunigte alle Möglichkeiten.

Der Nationalcharakter, der „Volksgeist“, verlangte es, dass die Züge nicht nur durchweg fahrplanmäßig verkehrten, sondern dass die Bahnhofsuhren das auch bewiesen und zentral gleichgeschaltet wurden. Doch mit der Annahme des Wechsels von der ‚äußerlichen‘ Ortszeit zur ‚inneren‘ Eisenbahnzeit dauerte es über fünfzig Jahre. Erst in den 1890er-Jahren wurde Deutschland durch die Eisenbahnzeit vereinigt, doch es waren eher politische und militärische Erfordernisse als der Gedanke an die Passagiere, die diesen Schritt erzwangen. 1891 sprach Feldmarschall Helmuth von Moltke, der die Eisenbahnen während seines Feldzugs in Frankreich effizient eingesetzt hatte, im Berliner Reichstag über die Notwendigkeit, im ganzen Land nur eine Uhrzeit zu haben. Die Eisenbahn habe den größten Einzelfortschritt herbeigeführt, den das Militär zu Moltkes Lebzeiten gekannt habe – dass er nämlich 430.000 Mann in vier Wochen hatte konzentrieren können –, doch gebe es noch ein Problem zu überwinden.

[M]eine Herren, wir haben in Deutschland fünf verschiedene Einheitszeiten. Wir rechnen in Norddeutschland, einschließlich Sachsens, mit Berliner Zeit, in Bayern [mit] Münchener, Württemberg mit Stuttgarter, in Baden mit Karlsruher und in der Rheinpfalz mit Ludwigshafener Zeit. Wir haben also in Deutschland fünf Zonen; und alle die Unzuträglichkeiten und Nachtheile, denen wir befürchten an der französischen und russischen Grenze zu begegnen, die haben wir heute im eigenen Vaterlande. Das ist, ich möchte sagen, eine Ruine, die stehen geblieben ist aus der Zeit der deutschen Zersplitterung, die aber, nachdem wir ein Reich geworden sind, völlig wegzuschaffen wäre.13

Und so übernahm Deutschland die zeitliche Genauigkeit aus Greenwich.14

Der größten Herausforderung sah sich die Frage nach einer Standardzeit jedoch auf dem Riesenkontinent Nordamerika gegenüber. Sogar Anfang der 1870er-Jahre musste ein amerikanischer Bahnreisender noch viel Gottvertrauen haben, denn die Bahnhofsuhren zeigten von Ost nach West 49 verschiedene Zeiten an. Es war Mittag in Chicago, aber 12.31 Uhr in Pittsburgh. Besondere Dringlichkeit erhielt das Problem nach 1853, als es durch unregelmäßige Zeitmessung zu verschiedenen tödlichen Eisenbahnunfällen kam (wobei es auch nicht gerade hilfreich war, dass die Züge normalerweise in beiden Richtungen auf ein und demselben Gleis verkehrten).

Ein Bündel Anweisungen, das W. Raymond Lee, der Betriebsdirektor der Boston and Providence Railroad, im August 1853 erließ, legte die Kompliziertheit und die Anfälligkeit für menschliches Versagen offen. Teilweise las es sich wie ein Drehbuch der Marx Brothers. „Die Standardzeit ist zwei Minuten später als die Uhr von Bond & Sons, Congress Street 17 in Boston“, so fing die erste Vorschrift an. „Der Schalterbeamte im Bahnhof Boston und der Schalterbeamte im Bahnhof Providence haben die Aufgabe, die Bahnhofszeit zu regeln. Ersterer vergleicht sie täglich mit der Standardzeit und Letzterer vergleicht sie täglich mit der Zeit der Schaffner, und die Übereinstimmung zweier beliebiger Schaffner, dass eine Abweichung in der Bahnhofszeit vorliegt, ist Rechtfertigung genug für ihn, diese zu ändern.“15

Und so erging der Ruf an eine ganz unerwartete Spezialistengruppe. Die amerikanischen Astronomen hatten schon lange behauptet, die Zeit ihrer Observatorien sei die genaueste, die zu haben sei, und nunmehr forderte man sie auf, die Bahnhofsuhren zu stellen, wo immer das ging (womit sie die Rolle als Hüter der Zuverlässigkeit von den Stadtuhren und den Schaufenstern der Juweliere übernahmen). Rund zwanzig astronomische Institute spendeten in den 1880er-Jahren den Eisenbahnlinien ihre Zeit, wobei das US Naval Observatory an vorderster Stelle lag.

Neben den Astronomen ragt eine Person heraus. Ein Bahningenieur namens William F. Allen fungierte als ständiger Sekretär der General Time Convention und hatte schon lange die Vorteile eines universalen Zeitsystems erkannt. Bei der Sitzung im Frühjahr 1883 hatte er den versammelten Funktionären zwei Karten vorgelegt, die seine Sicht der Dinge außer Zweifel zu stellen schien. Eine bestand aus einem Farbenmeer, das beinahe fünfzig Einzellinien zeigte, so als hätte ein wütendes Kind sie hingekrakelt, die andere war eine schlichte Darstellung aus vier Farbstreifen, die im Abstand von jeweils 15 Längengraden von Norden nach Süden liefen. Die neue Karte, so behauptete Allen, enthalte „alle Aufklärung, auf die wir in Zukunft hoffen dürfen“.16 Dabei schlug er etwas Bemerkenswertes vor: Die Zeitmessung seines Kontinents sollte sich nicht nach dessen nationalem Meridian, sondern nach einem Meridian jenseits der US-Grenzen richten und auf Signalen beruhen, die über eine Telegraphenleitung vom Royal Observatory in Greenwich übermittelt wurden.17

Im Sommer 1883 schickte Allen Karten und Einzelheiten zu seinen Vorschlägen an 570 Geschäftsführer von Eisenbahngesellschaften und stieß auf die Zustimmung der breiten Mehrheit; anschließend versorgte er sie mit „Übersetzungstabellen“ für die Umstellung der Orts- auf die Standardzeit. Und so begann die uns vertraute Epoche der öffentlichen Zeitfestlegung um zwölf Uhr mittags am Sonntag, dem 18. November 1883, und die 49 bisherigen Zeitzonen reduzierten sich auf vier. Allen, der die Umstellung vom Western Union Building in New York City aus verfolgte, hielt fest: „Die Glocken von St. Paul’s läuten nach der alten Zeit. Vier Minuten später wurde, sich dem elektrischen Signal vom Naval Observatory fügend […] die Ortszeit abgeschafft, wahrscheinlich für immer.“

Wie in Europa griffen die Vorgaben der Eisenbahnen allmählich auf die Umgebung über, und die Ausrichtung am Zeitplan auf der Schiene verbreitete sich bald in alle Bereiche des täglichen Lebens. Doch ebenfalls wie in Europa frohlockte nicht jede Stadt über die verordnete Einheitlichkeit. Pittsburgh verbot die Standardzeit bis 1887, während Augusta und Savannah bis 1888 Widerstand leisteten. In Ohio stimmten die Mitglieder des Schulausschusses von Bellaire für die Übernahme der Standardzeit und wurden auf Befehl des Stadtrats umgehend verhaftet. Lauter als die meisten anderen protestierte Detroit: Zwar war die Stadt genau genommen Teil der Central-Time-Zeitzone, behielt aber ihre Ortszeit (28 Minuten später als die Standardzeit) bis 1900 bei. Henry Ford, der sich im Reparieren von Uhren übte, ehe er das Autogeschäft auf den Kopf stellte, baute und verkaufte eine Uhr, die Orts- und Standardzeit gleichzeitig anzeigte, und beide blieben bis 1918 gebräuchlich.18


Ende 1883 vermerkte der Indianapolis Centennial, im entscheidenden Kampf zwischen Mensch und Natur habe der Mensch endlich und endgültig einen Vorsprung erzielt: „Die Sonne spielt nicht länger den Boss in dieser Sache […] Die Sonne wird hiermit aufgefordert, nach Eisenbahnzeit auf- und unterzugehen.“ Grund der Abneigung dieser Zeitung gegen das neue System war die schwindende Rolle der Kirche und ihrer Glocken, die die Gemeindemitglieder zum Gebet riefen (und letztendlich auch das Schwinden der gesamten gottgewollten Ordnung der Dinge). „Die Planeten müssen in Zukunft ihre Bahnen nach jenen Fahrplänen ziehen, die die Eisenbahnmagnaten vorgeben […] Die Leute werden nach Eisenbahnzeit heiraten müssen.“19 Ein Reporter in Cincinnati merkte an: „Je länger ein Mann ein Pendler ist, desto mehr wird er zum lebenden Fahrplan.“

Das Wort „Pendler“ war brandneu (jemand schwang wie ein Pendel zwischen Wohn- und Arbeitsort hin und her; im Englischen war ein commuter jemand, der den Preis seiner Fahrkarte in den günstigen Dauertarif ‚umwandelte‘). Aber das Konzept des Zugfahrplans, so neuartig es 1830 beim Start der Strecke Liverpool–Manchester gewesen war, war nunmehr in Fleisch und Blut übergegangen.20 Die erste internationale Konferenz über Zugfahrpläne fand im Februar 1872 in Köln statt. Vertreter aus Österreich, Frankreich, Belgien und der Schweiz stießen zu den Delegierten im frisch vereinten Deutschland. Die Diskussion war einfach und kompliziert zugleich: Wie sollte man Züge, die über Staatsgrenzen hinweg verkehrten, so koordinieren, dass man Passagieren und Fracht eine einfache Fahrt ermöglichte und den Betreibern eine effektive Dienstleistung? Und wie sollte man besagte Dienstleistung anschließend so publik machen, dass es dieses Verfahren unterstützte und vereinfachte? Zu den wichtigsten Übereinkünften gehörte, wie man den Fahrplan optisch darstellen wollte; man einigte sich auf lateinische Ziffern im 12-Stunden-Format. Jahr für Jahr wuchsen die Konferenzen an Delegiertenzahl und Ertrag: Zu den Gründungsmitgliedern gesellten sich schon bald Ungarn, die Niederlande, Spanien, Polen und Portugal, und die von London ausgehende Vereinheitlichung der Zeit stellte sicher, dass die Passagiere immer häufiger ihren Anschluss bekamen. Man traf sich zweimal im Jahr, vor dem Sommer- und dem Winterfahrplan, bis der Erste Weltkrieg ein Ende der Kooperation und in vielen Fällen auch des grenzüberschreitenden Verkehrs brachte. (Der Krieg machte vieles Gute an den Eisenbahnen zunichte; andererseits erleichterte ihre Möglichkeiten die moderne Kriegführung. Der Duke of Wellington hätte ihren Wert zweifellos erkannt, was natürlich auch für Mussolini galt.)21

Es wird gar nicht lange dauern, dann tauscht der Zug seinen Symbolstatus als Inbegriff für Tempo und Schrecken gegen die Rolle als Inbegriff der Gemächlichkeit; bald werden wir sehen, wie ihn das Auto als Kurzformel für Tempo und Stress überholt. Aber begeben wir uns erst auf andere Spuren, zu einem anderen Tempobegriff und ins charmante alte Österreich, wo ein Mann mit wilder Frisur gleich ein nervöses Orchester dirigieren wird.

1 Damit schließt sich ein eleganter Kreis: Der Verlagsgründer, Louis Hachette, baute sein Presse- und Teillieferungsimperium in den 1820er-Jahren aus Bücherständen in Bahnhöfen auf, genau wie W. H. Smith in England.

2 Als 2015 eine für den Bahnhof King’s Cross bestimmte Statue gegossen wurde, die an Gresleys 75. Todestag erinnern sollte, stritt man in der Eisenbahner- und Entenpresse eine Zeitlang, ob nicht zu Gresleys Füßen eine Stockente erscheinen sollte. In den frühen Entwürfen erschien der Vogel, am Ende entschied man sich jedoch gegen ihn.

3 George Stephenson, der am meisten zur Praxistauglichkeit der Dampflokomotive beitrug, kooperierte eng mit seinem Sohn Robert, der später zum Experten für die Erstellung komplizierter Streckenabschnitte wurde; auch Isambard Kingdom Brunel, sonst vor allem für die Untertunnelung der Themse und ambitionierte Dampfschiffe bekannt, widmete den Großteil seiner Zeit dem Strecken- und Brückenbau zu Lande für die Great Western Railway (A. d. Ü.).

4 Zu diesem Zeitpunkt stand der Weltrekord für Dampflokomotiven noch bei 200,4 Stundenkilometer, die zwei Jahre zuvor auf einer Fahrt zwischen Hamburg und Berlin gemessen worden waren. Zu den Mitreisenden, die diese Leistung bejubelten, zählten auch Reinhard Heydrich und Heinrich Himmler. Hitler erfuhr die Nachricht unmittelbar von Joseph Goebbels, der die Passagierliste selbst aufgestellt hatte. Die Leistung war also nicht nur ein Sieg der deutschen Ingenieurskunst, sondern auch der Naziherrschaft.

5 Die je nach Jahreszeit nicht passierbaren Kanäle – die andere langsame Transportmethode in der Geburtszeit der Eisenbahnen – waren hauptsächlich für den Frachtverkehr bestimmt.

6 Sinngemäße Übersetzung einer Passage aus Histoire d’un crime (1877).

7 Tatsächlich dauerte die Fahrt am Eröffnungstag, dem 15. September 1830, unter Teilnahme des Duke of Wellington und anderer Würdenträger etwas länger. Grund war der tödliche Unfall von William Hutchinson, des Parlamentsabgeordneten für Liverpool und engagierten Unterstützers der neuen Bahnstrecke. Der körperlich hinfällige Mann, der die Zeit nicht richtig einschätzte, die die Rocket für die Fahrt auf dem Gleis bis zu seinem Standort brauchen würde, wurde vom Zug erfasst, während zahlreiche Passagiere auf den Gleisen herumwimmelten und die Lokomotiven auf halber Strecke Wasser aufnahmen. Was für ein Symbol für den Fortschritt!

8 Auch nördlich von London machte sich die Diskrepanz bemerkbar: Leeds lag 6 Minuten und 10 Sekunden hinter London zurück, Carnford 11 Minuten und 5 Sekunden, Barrow 12 Minuten und 54 Sekunden.

9 Als flammender Appell etwas zwiespältig: Mit den Worten „Awake, arise, or be forever fallen!“ rüttelt in Miltons Paradise Lost (1,330) ausgerechnet Satan die aus dem Himmel gestürzten Engel zum schnellen Handeln auf (A.d.Ü.).

10 Für manche bildete das Durcheinander um die Eisenbahnen nur einen weiteren unwillkommenen Einbruch der modernen Welt. „Mit all den Eisenbahnen, Dampfschiffen, Druckerpressen ist es gewiss ein höchst abscheuliches ‚Gewebe‘ geworden, dieses Leben, das wir führen“, schrieb Thomas Carlyle 1835 aus London an Ralph Waldo Emerson in Amerika. Ihn entsetzte der „sausende Webstuhl der Zeit“, ein Zitat aus Goethes Faust I (V. 508). Die Druckerpresse war, wie erwähnt werden sollte, inzwischen schon 300 Jahre alt, und man fragt sich, wo die beiden Schriftsteller ohne sie geblieben wären.

11 Schon 1835 wurde diese erste deutsche Bahnstrecke überhaupt mit einer Reisezeit von 12 bis 13 Minuten befahren (A.d.Ü.).

12 Gerhard Dohrn-van Rossum, Die Geschichte der Stunde. Uhren und moderne Zeitordnung. München 1992, S. 318f.

13 Letzte Reichstagsrede Moltkes vom 16. März 1891; Reden des General-Feldmarschalls Grafen Helmuth von Moltke (Gesammelte Schriften und Denkwürdigkeiten, Siebenter Band.). Berlin 1892, S. 38f.

14 Oder wie es der Reichstagsbeschluss formulierte: „Die gesetzliche Zeit in Deutschland ist die mittlere Sonnenzeit des fünfzehnten Längengrades östlich von Greenwich.“

15 Parallelentwicklung: Im 21. Jahrhundert folgten die ultraschnellen Glasfaserkabel, die beispielsweise für den Hochfrequenzhandel zwischen den Börsen und den Händlern in New York und Chicago genutzt werden, der Telegraphenlinie, die die Eisenbahnen rund 150 Jahre zuvor verlegt hatten.

16 Dabei stützte er sich auf die gewagten Ideen von Professor C. S. Dowd, dem Direktor des Temple Grove Seminary für junge Damen in Saratoga, New York, der als Erster vorgeschlagen hatte, den Kontinent in vier oder mehr „Zeitgürtel“ zu unterteilen.

17 Vor dieser Vereinheitlichung lautete die erste Telegraphennachricht, die über rund 40 Meilen auf der Strecke Baltimore–Washington übermittelt wurde: „What hath God wrought!“ (Biblisch: Numeri 23,23 – „Was hat Gott vollbracht!“).

18 Keinerlei derartige Grenzziehungen gab es dagegen in Russland: Während des Baus der Transsibirischen Eisenbahn von 1891 bis 1916 lief die Strecke den riesigen Entfernungen zum Trotz vollständig nach bürgerlicher Moskauer Zeit. Heute durchquert die Bahn in acht Tagen Fahrtzeit sieben Zeitzonen.

19 Zitiert nach Jack Beatty, Age of Betrayal. The Triumph of Money in America 1865–1900. New York 2008, and Ian R. Bartky, Selling the True Time. Nineteenth-Century Timekeeping in America. Stanford 2000. Gerade letzteres Buch ist ausführlich und war eine nützliche Quelle für die amerikaspezifischen Details in diesem Kapitel.

20 Wer dem Zustand eines Eisenbahnfanatikers auch nur nahekommt und Michael Portillo bewundert (das tun heute mehr als früher), kennt natürlich Bradshaw’s, das Handbuch, das 1839 in England als Fahrplan im Taschenformat begann und sich bald zu einem Eisenbahnatlas des Vereinigten Königreichs in Kombination mit einem Reiseführer und einem Europahandbuch entwickelte. Es war unglaublich nützlich und gleichzeitig ungeheuer zuverlässig, und durch seine Popularität sahen sich die Eisenbahngesellschaften gezwungen, die Züge pünktlich fahren zu lassen – es war eher so, dass der gedruckte Fahrplan den Zugdienst diktierte als umgekehrt. [Michael Portillo, ein konservativer Ex-Minister, wird in Großbritannien häufig mit dem selbstironischen Ausspruch zitiert, der größte Erfolg seiner Zeit als Staatssekretär sei die Rettung der Bahnstrecke Settle–Carlisle vor der Sparwut Margaret Thatchers gewesen (A.d.Ü.).]

21 Viele Augenzeugenberichte legen nahe, dass die Pünktlichkeit der faschistischen Züge ein Mythos war, doch kann kein Zweifel daran bestehen, dass sie bis dahin unerreichte Möglichkeiten für synchrone Truppenbewegungen boten.


Eine Klangrevolution: drei Minuten Seligkeit von den Beatles

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