Читать книгу Josh & Emma - Portrait einer Liebe - Sina Müller - Страница 12

Sehnsucht

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Becks. Wie konnte man nur wie ein Bier heißen? Ich lächelte sie trotzdem freundlich an und streckte ihr meine Skizze hin. Becks, das Mädchen, das direkt aus ihren Mangas, die sie ununterbrochen zeichnete, entsprungen zu sein schien: wasserstoffblonde Haare, bonbonfarbene Röcke und Kniestrümpfe zu flachen Schuhen. Becks, die mich bislang immer nur misstrauisch von der Seite beäugt hatte und die unzählige Stunden in der Freiarbeit schweigend neben mir gesessen hatte. Sie war mindestens genauso seltsam wie ich.

„Wow, jetzt weiß ich, was du hier zu suchen hast. Ich habe mich schon gefragt ...“, sagte sie und beugte sich tiefer über das Blatt. Ich spürte, wie mir die Röte ins Gesicht stieg. Lange hatte ich nichts anderes als Steine gemalt. In der heutigen Session hatte ich mich endlich an einen Entwurf getraut, eine Idee, die in meinem Kopf Gestalt annahm, seit mir Joshua von seinem Plan erzählt hatte, dass ich beim Artwork mithelfen könnte. Es war eine Collage aus den fünf Gesichtern, die gemeinsam die Silhouette eines Kopfes bildeten. Ich kannte jeden von ihnen. Auf der Bühne und fern ab davon. Ich kannte ihre wahren Gesichter.

„Na ja, ich habe nur was ausprobiert“, sagte ich kleinlaut und war versucht, ihr den Block aus der Hand zu reißen. Noch immer tat ich mich mit Lob schwer. Nach meiner Stein-Phase mehr denn je. Aber sie schien weit davon entfernt zu sein, irgendeinen blöden Spruch zu bringen.

„Bist du ein Fan von denen?“ Sie lächelte mich offen an. Ihre blauen Augen waren einen Tick zu groß, die Wimpern ein bisschen zu lang und voll, um echt zu wirken. Ich zog meinen Block wieder in sichere Gefilde und verknotete die Beine unter dem Tisch. Becks setzte sich wieder auf ihren Platz.

„So was in der Art. Mein Ex spielt in der Band“, antwortete ich gedämpft, um die anderen nicht zu stören, und schmeckte den bitteren Nachgeschmack, den das Wort ‚Ex’ auf meiner Zunge hinterließ.

„Cool. Wow. Ich steh ja nicht so auf Pop. Aber die haben echt was auf’m Kasten.“ Ein leises Lächeln stahl sich auf mein Gesicht, und ich stellte verwundert fest, wie ungewohnt es sich anfühlte, hier irgendeine Gefühlsregung von mir zu geben. Anderthalb Monate schon zwang ich mich Nachmittag für Nachmittag hierher, um meine Mappe zu überarbeiten, daran zu feilen und noch weitere Werke dafür anzufertigen. Bisher hatte ich eine magere Ausbeute von einem einigermaßen passablen Steinhaufen, der eine bizarre Magie ausstrahlte.

„Ja, das stimmt. Sie sind klasse. Hey, ich habe gesehen, du zeichnest Mangas? Darf ich?“ Ich deutete auf ihren Block. Ohne zu überlegen, streckte sie ihn mir entgegen und war keine Sekunde später mit ihrem Holzstuhl an meinen Tisch gerückt. Die übrigen Studis beachteten uns nicht. Sie waren mit ihren Bildern oder den anderen angesagten Menschen in diesem Raum beschäftigt. Becks und ich zählten zu den Außenseitern. Für sie war es wegen ihres provozierenden Äußeren sicher etwas schwerer, unsichtbar zu sein, dafür hatte sie das mädchenhaft Verspielte in aller Perfektion drauf. Es fiel also nicht weiter auf, wenn sie verträumt und versunken in ihre asiatische Comicwelt alles um sie herum ausblendete.

„Die sind echt gut.“ Ich blätterte weiter durch ihre Comics und fand mich in einer mir unbekannten Welt wieder. Voller Leben und Ausstrahlung. Keine Frage, die Kleine hatte Talent. Ich lachte bei einer Szene laut auf, in der ein kleiner Tiger mit gefletschten Zähnen ein jämmerliches „Miau“ rausbrachte und die Hauptperson ihrer Bilder – ein dunkelhaariges Mädchen mit schwarzen Kulleraugen und kurzem Rock – die Beine kreuzte, als müsste sie sich augenblicklich in die Hose machen. ihre Augen angsterfüllt geweitet.

„Tja, leider sind sie zu speziell.“ Sie verdrehte die Augen. „Die Profs meinen, ich wäre an der Film-Hochschule besser aufgehoben.“ Sie schien es locker zu nehmen. Bisher hatte ich kaum Kontakt zu den Profs gehabt, hatte es, wo es möglich war, vermieden, auf sie zu treffen und deshalb noch keine harsche Kritik geerntet. Wenn sie meine Steinphase miterlebt hätten, hätte ich diese zurecht kassiert. Hoffentlich war diese Zeit ein für alle Mal vorüber, so dass ich mich nun anderen Themen widmen konnte. Bilder, die lebten, waren mein Ziel. Bilder mit Emotionen. Bilder von Joshua und den Jungs.

„Ich glaube, du klingelst.“ Becks zeigte auf meine Tasche, aus der ein nervender Ton drang. Wieder spürte ich die Röte in mir aufsteigen. Ich hatte nicht erwartet, dass jemand anrief und daher vergessen, mein Handy lautlos zu stellen. Wer sollte sich auch bei mir melden? Kevin war in Costa Rica, Liv auf Hochzeitsreise und Tom würde nach der Szene am Wochenende sicher nicht bei mir durchklingeln. Ich wühlte aufgeregt in der Tasche und hoffte, dass sich die anderen nicht allzu sehr in ihrer Kreativität gestört fühlten. Als ich es endlich gefunden hatte, dachte ich, meine Verlegenheit könnte nicht noch größer werden. Fehlanzeige. Als ich Joshuas Namen auf meinem Display las, war es mit der Ruhe vollends vorbei.

„Hey“, sagte ich leise und flüchtete in den Flur.

„Emma, hey. Wie geht’s dir?“ Seine gute Laune konnte man fast greifen. Ich lehnte mich an die Wand, weil meine Knie bei den wenigen Worten weich wurden. Noch immer schmolz ich dahin, wenn Joshua mit seiner unverwechselbaren Stimme meinen Namen sagte.

Das schlechtes Gewissen kroch hoch und zeigte seine fiese Fratze. Ich wischte den Gedanken an Tom beiseite und ließ die Freude überhand gewinnen.

„Gut. Und dir?“ Was wollte er? Eigentlich hatte ich nicht erwartet, dass er so bald anrief, dachte, er würde irgendwann einmal per Mail nachfragen, wie ich mich wegen des Artworks entschieden hatte.

„Mir geht es auch gut. Hör mal, was machst du gerade? Ich bräuchte dich für ’ne halbe Stunde oder so.“ Mein Herz pumpte weiter, als ginge es um Leben oder Tod.

„Ich … eigentlich habe ich gerade noch Kurs. Was ist denn los?“, fragte ich atemlos.

„Meinst du, du kannst in zwanzig Minuten rauskommen? Ich hole dich ab. Dann erzähle ich dir alles, ja?“ Langsam wurde ich misstrauisch. Warum sagte er nicht, was los war?

„Ja … äh, klar.“

„Und bring bitte deinen Skizzenblock mit. Du hast ihn doch dabei, oder? Sonst müssen wir den noch holen.“ Ich kniff die Augen zusammen. Nun ahnte ich, was er vorhatte. Und Joshua kannte mich gut genug, dass ich einen Rückzieher gemacht hätte, wenn er mir früher davon erzählt hätte. Ich schloss die Augen.

„Ich habe ihn hier“, sagte ich resigniert, und gleichzeitig stieg Vorfreude in mir hoch. In Gedanken ging ich die Zeichnungen durch, die ich eingesteckt hatte. Portraits, Skizzen von Konzerten. Joshua bei Proben. Das würde ausreichen, um der Agentur einen ersten Eindruck meiner Arbeit zu vermitteln. Ich gab Joshua noch die Adresse durch und legte mit klopfendem Herzen und einer Horde wildgewordener Schmetterlinge im Bauch auf.

Als ich wieder in den Kursraum kam, schaute mich Becks neugierig an. Ich spürte, wie sich wieder dieses dämliche Grinsen auf meinem Gesicht eingebrannt hatte und versuchte vergeblich, ein unbeteiligtes Gesicht zu machen.

„Gute Nachrichten?“ Sie kaute auf ihrem Bleistift rum, ihre unzähligen bonbonfarbenen Armreifen klimperten. Ich setzte mich an den Tisch und kontrollierte nochmal, ob ich auch wirklich alle Skizzen von Amblish in der Mappe hatte.

„Mmmh“, nuschelte ich. „Sag mal, Becks, kannst du mir einen Gefallen tun?“

„Kommt drauf an.“ Sie kniff fragend die Augenbrauen zusammen.

„Wenn jemand fragt, kannst du einfach sagen, dass mir schlecht geworden ist?“ Ich grinste weiter und bekam meine Gesichtszüge einfach nicht in den Griff.

„Okay, alles klar. Wenn du mir morgen erzählst, was los ist!“ Ich zwinkerte und schulterte meine Tasche. Ich würde noch eine halbe Ewigkeit draußen warten müssen, aber das war besser, als noch weitere zwanzig Minuten in diesem stickigen Raum bei künstlichem Licht zu sitzen.

„Wow, das war … das war wirklich inspirierend. Und Jim. Der ist ja der absolute Hammer. Hast du gehört, was er über meine Skizzen gesagt hat? Die sind ja noch nicht fertig, und trotzdem war er total aus dem Häuschen. Was hältst du von seiner Idee mit den Portraits von euch? Ich kann mir das total gut vorstellen, wenn die in negativ im Hintergrund hinter den Songtexten stehen. Oder was meinst du?“ Meine Wangen glühten, und ich spürte dieses Kribbeln in den Fingern, das sich immer dann bemerkbar machte, wenn mich etwas aufwühlte. Aufregung hatte sich in jeder Faser eingenistet.

Jim hatte es mir voll angetan. Er war um die vierzig und so ganz anders, als ich mir einen Agenturchef vorgestellt hatte. Er wirkte normal, nahm sich Zeit und studierte jede Seite, bevor er mir mit einem offenen Lachen bescheinigte, dass ich etwas auf dem Kasten hatte. Er mochte meine Bilder und konnte sich gut vorstellen, dass wir gemeinsam ein super Artwork hinbekommen würden. Er skizzierte seine Idee, und ich überschlug mich mit weiteren Vorschlägen, wie wir die Jungs noch besser aus einem anderen Blickwinkel beleuchten könnten. Eben so, wie sie waren, und nicht, wie sie oft gesehen wurden. Es sei ein sehr persönliches Album, hatte Joshua gesagt, und so sollte auch das Artwork werden. Persönlich. Selbst Joshua hatte ich vergessen und war zusammengezuckt, als er mir seine Hand auf den Rücken legte, um mir zu sagen, dass er sich etwas zum Trinken holen wollte.

„Ich nehme an, deine Antwort ist Ja? Machst du’s? Bist du dabei?“ Joshua steuerte mit einem sanften Lächeln auf den Lippen den VW-Bus vom Parkplatz.

„Ja. Ja! Klar bin ich dabei. Die Chance kann ich mir doch nicht entgehen lassen. Mensch, Joshua, KLM ist die Agentur. Die haben einen gigantischen Ruf, und wenn ich dort ...“ Ich fasste mir an die Stirn, um nicht gleich durchzudrehen.

„Ich weiß“, sagte Joshua ruhig. Seine Grübchen, die sich neben seinen Mundwinkeln abzeichneten, zeigten, wie zufrieden er mit meiner Reaktion war. „Lass uns darauf anstoßen, ja?“ Er drehte seinen Kopf zu mir und nickte aufmunternd. Die Aussicht, nun in ein Restaurant zu gehen, schmälerte augenblicklich meine Freude. Ich brauchte Luft, sonst würde ich an Schnappatmung sterben.

„Ja, okay. Hast du eine Idee, wohin?“ Joshua überlegte einen Moment, bis sich ein siegessicheres Grinsen auf sein sonnengebräuntes Gesicht stahl. Er sah entspannt aus. Wo nahm er nur all die Zeit her, um sich in der Sonne zu aalen? Ich dachte eigentlich, dass die Studiozeit schwere Arbeit war. Mit Nachtschichten, wenig Pausen und jeder Menge Stress. Ein kreativer Overload.

„Bereit für eine Überraschung?“ Ich war mir nicht ganz sicher, ob ich das tatsächlich war, nickte aber mehr oder minder begeistert.

Ich staunte nicht schlecht, als Joshua direkt vor dem Bahnhof hielt und den Motor abstellte.

„Kannst du schnell warten? Nicht, dass wir abgeschleppt werden.“ Ich nickte, und schon war Joshua ausgestiegen. Ich kurbelte das Fenster runter und blickte ihm nach. Aus dem Radio drang die übliche Bonbonmusik, und ich lächelte, als schließlich No lovesong angestimmt wurde. Ich ließ es zu, dass sich all die Erinnerungen, die dieser Song in mir auslöste, ausbreiteten, festsaugten und mein Blut zentrifugierten.

„Weiter geht’s“, sagte Joshua und drehte wie selbstverständlich das Radio aus. Die Papiertüte, die er mitgebracht hatte, legte er auf den Rücksitz. Er hatte es noch nie leiden können, seine eigenen Songs in Gegenwart eines anderen anzuhören. Ganz im Gegensatz zu Tom. Ich schüttelte den Kopf und verscheuchte den blonden Surfertyp mit dem wahnsinnig knackigen Po aus meinem Gehirn. Er gehorchte. Vorerst.

Joshua stellte den VW-Bus auf dem Parkplatz des Deutschen Museums ab. Wollte Joshua mir nun eine Lektion in Physik erteilen? Verstohlen schaute ich auf die Uhr. Acht. Wahrscheinlich hatten sie schon geschlossen, was auch die wenigen Autos auf dem Parkplatz erklären würde. Doch Joshua lotste mich an dem Museumsgebäude vorbei über eine Brücke Richtung Isar. Als er auf eine kleine Böschung zusteuerte, die an das Ufer führte, bot er mir seine Hand an. Ich überlegte einen Moment. Seine Berührung würde mich durcheinanderbringen, all die Gefühle hervorbringen, die ich so vehement versuchte zu unterdrücken. Ich blickte auf die Steigung und gab mich geschlagen. Mit meinen Flip-Flops würde ich hier allein nicht heil runterkommen.

Augenblicklich reagierte mein Rückenmark mit einem Kribbeln. Ein Schauder kroch meinen Nacken entlang und explodierte knapp unterhalb meiner Ohren wie ein Feuerwerk. Joshua ging vor mir und stützte mich mit der einen Hand, in der anderen hielt er die Papiertüte, aus der mir ein unbekannter, köstlicher Geruch entgegen strömte. Ich versuchte, mich auf den Weg zu konzentrieren und vermied es, dauernd auf Joshuas Tattoo zu starren. Es war so unauffällig, als würde es tatsächlich zu ihm gehören.

„Here we are.“ Theatralisch breitete Joshua die Arme aus. Ich blickte mich um. Vor uns lag eine gigantische Kiesbank mitten auf der Isar. Joshua schnappte sich wieder meine Hand und zog mich zu einem kleinen Übergang, bei dem man mit einem großen Schritt trockenen Fußes auf die Insel gelangen konnte. Es fühlte sich so vertraut an, wie meine Hand in seiner lag. Als könnte es nicht anders sein. Ich watete einfach durchs Wasser und genoss die Kühle, die sich auf meinen Füßen ausbreitete. Vielleicht würde mir das einen klaren Kopf verschaffen?

Wir waren nicht allein, andere hatten dieselbe Idee gehabt. Obwohl es noch taghell und angenehm warm war, brannten die ersten Lagerfeuer, Würstchenduft stieg mir in die Nase, und von überall her drang fröhliches Geplapper. Niemand beachtete uns, und was noch wichtiger war: Niemand schien Joshua zu erkennen, und ich entspannte mich ein kleines bisschen. Das hier war jedenfalls besser als das Eiszeit. Und in Anbetracht der sommerlichen Hitze auch besser als das kleine somalische Restaurant, in dem wir uns das letzte Mal getroffen hatten.

Wir setzten uns auf einen großen Stein, der vom Wasser umspült wurde. Viel zu lange hatte Joshua meine Hand gehalten, als dass es noch als Hilfestellung durchgehen würde. Als hätte er den gleichen Gedanken gehabt, zog er sie nun sanft zurück. Er streifte seine Leinenschuhe ab und krempelte die Hose hoch, bevor er seine Füße in das erfrischende Nass hielt. Ich hatte es da schon einfacher mit meinem kurzen Rock und den Flip-Flops, die ich mit einem Rutsch von den Füßen gestreift hatte.

Joshua holte eine Flasche Sekt aus der Tüte und drückte mir zwei Plastikbecher in die Hand. Wie zu erwarten, sprudelte der Sekt beim Öffnen aus der Flasche und lief über Joshuas cremefarbene Leinenhose.

„Auf unsere … unsere Zusammenarbeit“, sagte ich geschäftsmäßig, aus Ermangelung anderer Ideen, und nahm ihm die Flasche ab, um einen Schluck zu trinken. Was war es sonst, was uns momentan verband? Die Bläschen stiegen mir augenblicklich in die Nase, und ich prustete die Hälfte wieder aus. Joshua lachte und griff nach den Bechern, die ich in der anderen Hand balancierte.

„Die brauchen wir wohl nicht.“ Er zwinkerte und verbannte die Plastikdinger wieder in die Tüte. Stattdessen zauberte er zwei Take-away-Boxen hervor. „Dachte, du hast vielleicht Hunger“, sagte Joshua beiläufig und öffnete seine Box. Es duftete verführerisch nach Reis und Kokosmilch. Scharf und lieblich. Mir lief das Wasser im Mund zusammen.

„Thailändisch?“, riet ich und fischte nach einem weiteren Schluck Sekt das Besteck aus der Tüte. Joshuas Finger streiften meine Hand, als er seines entgegennahm, und wieder spürte ich diesen Schmerz, der kein Schmerz war. Er linste entschuldigend zu mir rüber und nickte als Antwort auf meine Frage. Noch immer fiel es mir schwer, in seine Augen zu schauen, ohne jedes Mal fast in Ohnmacht zu fallen. Ich musste einen Weg finden, das abzustellen.

„Du stehst im Moment wohl auf exotisches Essen?“

„Ja, ich dachte, wenn ich nicht selbst die Welt bereisen kann, mach’ ich das wenigstens kulinarisch.“ Ich wurde hellhörig.

„Fernweh?“, fragte ich, nahm die Flasche in die Hand und genehmigte mir einen weiteren Schluck.

„Ein bisschen.“ Joshua planschte weiter mit den Füßen in der Isar.

„Bäh. Sorry, das ist total kalt!“ Ich verzog angewidert das Gesicht, als ich die erste Ladung in den Mund gesteckt hatte. Zwar war ich durch das jahrelange Schulessen ziemlich abgehärtet, aber kalte Soßen brachte ich einfach nicht runter.

Joshua lachte schallend und nahm mir die Kartonverpackung aus der Hand.

„Hast recht, war ne blöde Idee. Wir holen uns nachher etwas auf dem Heimweg, okay?“

Das friedliche Plätschern beruhigte mich und trieb ein bisschen von der Nervosität davon, die ich in Joshuas Gegenwart verspürte.

„Ich frage mich gerade, wie jemand Fernweh haben kann, der mehr unterwegs als zu Hause ist.“ Joshua antwortete nicht sofort. Er überlegte, wie er es immer tat, wenn ihn ein Thema ernsthaft beschäftigte. Ich betrachtete das sprudelnde Wasser vor mir und spürte, wie der Sekt langsam eine wohlige Lockerheit in mir auslöste. Ich schloss die Augen und streckte die Nase in die Abendsonne.

„Stimmt schon, ich bin viel unterwegs. Aber meistens sehe ich nichts von den Städten, geschweige denn vom Land, durch das wir touren. Ich kann dir sämtliche Flughäfen der Metropolen in Europa im kleinsten Detail beschreiben. London, Berlin, Dublin, Paris. Aber wie es dort bei Tag aussieht, wie das Leben dort ist, das geht meistens an uns vorbei. Flughafen, Hotel, Set. Manchmal, wenn wir Glück haben, noch ein Interview bei einem Radiosender in der Stadt, ein Gig in einer Kneipe. That's it. Ich würde … Manchmal würde ich einfach gerne einen Rucksack packen und eine ganze Weile verschwinden. Reisen, das Leben genießen, Leute auf der Straße kennenlernen. Und mal wieder in einer Fußgängerzone spielen. Das vermisse ich wirklich.“ Er nahm einen Schluck Sekt und lehnte sich zurück.

„Hört sich gut an“, sagte ich gedankenversunken und versuchte mir Joshua mit einem Rucksack in Indien in einem verlausten Hostel vorzustellen. Ohne Erfolg.

„Komm doch mit“, hörte ich Joshua sagen und verschluckte mich am Sekt. Augenblicklich startete der Film in meinem Oberstübchen. Joshua und ich im Flugzeug. Am Strand. Zusammen in kleinen verwinkelten Dörfchen. Hach.

„Das ist dein Traum, nicht meiner“, sagte ich abwehrend. Ich durfte es nicht zulassen, dass sich diese Idee in mir einnistete. Natürlich würde ich alles dafür geben, Zeit mit Joshua zu verbringen. Die Aussicht, auch noch unendlich viel Zeit mit ihm zu verbringen, auf Reisen zu sein mit ihm, war zu verlockend. Aber als was? Als Freunde? Getrennte Zimmer? Wie sollte das funktionieren?

„Abwarten, vielleicht wird es irgendwann auch zu deinem. Ich kann meine Zelte eh nicht abbrechen. Vielleicht kommt ja irgendwann die Zeit.“ Er klang zuversichtlich. Ich verdrängte die Idee in die hintersten Ecken meines Gedächtnisses. Dennoch drängte sich die Frage auf, warum Joshua das vorschlug. Er war nicht der Typ, der etwas einfach so daher sagte.

Es dämmerte. Der Sommer steuerte auf das Ende zu. Die Tage wurden bereits kürzer und auch abends wehte jenes laue Lüftchen, das man im Hochsommer selten auf der Haut spürte. Ich legte die Essens-Box beiseite und lehnte mich zurück. Leise Gitarrenmusik drang zu uns und vermischte sich mit dem Geplätscher des Flusses, der gemächlich über unsere Füße floss.

„Hey, wir haben am Freitag einen Gig“, sagte Joshua leise und blinzelte in die Abendsonne. Ich blickte ihn von der Seite her an. Ich betrachtete ein paar Falten, die sich zart um seine Augen legten. Es machte ihn reifer, männlicher und für mich noch anziehender.

„Wow. Cool. Ist es das erste Konzert seit ...“ Ich rang nach Worten.

„Seit ich ausgetickt bin? Ja.“ Ich wusste noch immer nicht, was passiert war. Memo an mich: später unbedingt im Netz danach suchen. „Es ist nur ein kleiner Gig. Ein Testballon, ob ich schon wieder so weit bin. In der Kaufinger macht ein neuer Apple-Store auf. Wir spielen als Überraschungs-Act ein paar Songs. Nichts Wildes.“ Er wirkte entspannt.

„Und, wie fühlt es sich an?“

„Gut … krass. Irgendwie. Ich hab tierisch Bock, endlich wieder auf eine Bühne zu gehen. Aber ich hab auch Schiss davor. Weißt du, was ich meine?“ Ich nickte mechanisch. Für Joshua war es immer selbstverständlich gewesen, dass er seine Coolness, seine Energie auf Kommando abrufen konnte. Sicher machte es ihm zu schaffen, dass er sich nun nicht mehr darauf verlassen konnte.

Er drehte den Kopf zu mir und blickte mich aus diesen dunklen Augen durchdringend an. „Hast du Lust, zuzuschauen?“ Er ahnte sicher nicht, dass er mir mit diesen nebensächlich klingenden Worten den Boden unter den Füßen wegzog.

„Joshua, ich weiß nicht. Ich glaube, das ist keine so gute Idee. Überleg mal, was die anderen dazu sagen würden.“ Sie hatten unter meinem plötzlichen Schlussstrich sicher genug zu leiden gehabt. Und beim Gedanken daran, Tom über den Weg zu laufen, war mir nicht wirklich wohl zumute.

„Lass sie doch denken, was sie wollen“, entgegnete Joshua lachend. „Wovor hast du Angst? Ist doch nichts dabei.“ Ich wand mich. Für Joshua mochte das stimmen. Für ihn war es vielleicht das Normalste der Welt, seine Ex-Freundin auf ein Konzert mitzunehmen.

Ich schüttelte den Kopf und senkte den Blick. Ja, ich hatte Angst. Angst davor, wieder in dieses beschissene Loch zu fallen, das ein Jahr lang mein Zuhause gewesen war. Aber das würde ich Joshua sicher nicht sagen.

„Es würde mir besser gehen, wenn ich wüsste, dass du da bist.“ Ich wollte ertrinken in diesen Augen, diesen Worten und dem Gefühl, das sie in mir auslösten, und dennoch schaltete mein Selbsterhaltungstrieb auf Alarm.

„Oh, wow. Du verstehst es, mich unter Druck zu setzen.“ Ich zog die Knie an und umschlang sie eng. Ein Konzert von Amblish? Auf Einladung von Joshua? „Joshua, ich kann nicht. Bitte zwing mich nicht dazu.“

„Ich zwing dich nicht. Aber ich bitte dich. Es wäre mir wichtig.“ Er legte eine Hand auf meinen Arm und legte den Kopf schief. „Bitte.“ Ich presste meine Lippen aufeinander und blickte ein paar weitere Momente in das Wasser, das ohne Unterlass den Stein, auf dem wir saßen, umspülte. Ihn interessierten all die menschlichen Lächerlichkeiten nicht. Wahrscheinlich verstand er genauso wenig wie ich, warum ich mich so sehr dagegen sträubte.

„Okay, aber ich bring jemanden mit.“ Vielleicht würde es meine Anwesenheit etwas entschärfen, wenn ich nicht allein aufkreuzte. Dann würden die Jungs vielleicht keine falschen Schlüsse ziehen. Dann wäre es nicht ganz so offensichtlich, dass ich nur wegen Joshua kam. Ich betete, dass Becks keine anderen Pläne hatte.

„So lange es nicht Kevin ist“, sagte Joshua mit einem schmunzelnden Unterton.

„Nein, ganz sicher nicht.“ Ein leises Lächeln huschte über meine Lippen.

Josh & Emma - Portrait einer Liebe

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