Читать книгу Josh & Emma - Portrait einer Liebe - Sina Müller - Страница 7

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Eine einzelne Träne kullerte aus meinem Augenwinkel. Sie sah so glücklich aus. Der kleine Stachel namens Neid bohrte sich tiefer in das kalte versteinerte Etwas, das bis vor gut einem Jahr einmal mein Herz gewesen war. Ich versuchte, tapfer zu lächeln und freute mich für sie. Wirklich. Aber ich fragte mich, ob ich jemals wieder so etwas wie Glück empfinden würde. Ich schloss die Augen. Gleich würde Hallelujah kommen, das Lied, von dem sich Liv gewünscht hatte, dass es Joshua mit seiner einzigartigen, gefühlvollen Stimme für sie singen würde.

Ich hatte ihr einen Strich durch die Rechnung gemacht. Zu wissen, dass eigentlich er das Lied gesungen hätte, war fast genauso schlimm, als wenn er mir nun tatsächlich gegenübergestanden hätte. Ich seufzte und hoffte inständig, dass kein Laut aus meinen mit Lipgloss zugekleisterten Lippen gedrungen war.

Ich zwang mich dazu, die Augen zu öffnen, als ich die ersten Töne des Klassikers von Leonard Cohen hörte. Toms Stimme erfüllte den Innenraum der St. Anna-Kirche und hallte an den Wänden wider. Er klang wie ein gefallener Engel. Klar, verletzlich. Der Song schleuderte mich unvermittelt in meine Vergangenheit zurück. Ich erinnerte mich. An damals, als ich noch lebte. Damals, als diese Musik ein Teil von mir gewesen war. Ich schluckte, versuchte durchzuhalten und die Bilder von mir fernzuhalten. Das Strahlen der dunklen, tiefgründigen Augen. Die Grübchen. Die wuscheligen Haare, die jeden Tag anders aussahen. Die Muskeln, die sich unaufdringlich unter seinen T-Shirts spannten. Ich versuchte die Erinnerung an seine Küsse zu unterdrücken, an sein Lachen und seine sanften Berührungen. Ich erschauderte. Endlich. Applaus.

Erleichtert atmete ich durch. Ich hatte es überstanden und erhob mich, um ebenfalls zu klatschen. Mit einem gequälten Lächeln auf den Lippen. Sonnenlicht sickerte wie eine klebrige Flüssigkeit durch die bunten Gläser der Kirche und ließ die Farben in ihrem Inneren tanzen.

Liv strahlte mit der Sonne um die Wette, als sie sich zu mir wandte. Ich streckte den Arm aus, um ihre Hand zu drücken. Von meinem angestammten Platz als Trauzeugin in der ersten Reihe hatte ich sogar eine realistische Chance, sie zu erreichen. Doch im nächsten Moment wurde sie von ihren Verwandten umzingelt, die allesamt mit feuchten Augen ihre Glückwünsche ausriefen.

Ich versuchte, so schnell es meine Stöckelschuhe und das enge Kleid zuließen, aus der kleinen Kirche zu stürmen, um meine Gedanken abzuschütteln. Der heutige Tag gehörte Liv und Lukas. Meine Trauer um Joshua hatte hier nichts zu suchen.

Ich stellte mich etwas abseits unter einen der alten Kastanienbäume, die den Kirchplatz säumten, und blinzelte in die Sonne. Wer bitte heiratete mitten im August? Richtig: glückliche, total verliebte Liebespaare. Ich stöhnte auf. Kinderlachen drang vom nahegelegenen Spielplatz. Es war ein schöner Tag, warum nur konnte ich nicht loslassen und im Hier und Jetzt leben? Warum musste ich heute wieder an Joshua denken? In den letzten Wochen hatte ich es doch endlich geschafft, ein Vakuum an Gefühlen zu erzeugen. Doch nun war alles wieder da. Der Schmerz hatte sich wieder durch die dichten Wände gefressen, die ich im letzten Jahr fein säuberlich aufgebaut hatte.

„Hier“, sagte die mir inzwischen vertraute Stimme. Ich lächelte ihn an und nahm ihm das Sektglas dankbar ab. In den letzten Monaten war er an manchen Tagen der einzige Kontakt zur Außenwelt gewesen. Wenn ich mich in meinem Zimmer verkrochen und meinen Tränen hingegeben hatte. Tom, der Bassist von Amblish. Tom, der Trauzeuge von Lukas. Tom, der arrogante Macho.

Er ließ es sich nicht nehmen, mich immer und immer wieder an die Verantwortung zu erinnern, die wir als Trauzeugen hatten. Schließlich sollte der heutige Tag unvergesslich für Liv und Lukas werden. Und Tom sah es als unsere Aufgabe an, genau das zu organisieren. Zuerst hatte er mich genervt. Er erinnerte mich zu sehr an meine Zeit mit Joshua. Aber nach und nach hatte er mich überzeugt. Er war nett zu mir. Und er nahm keine Rücksicht auf meine Verfassung. Nie behandelte er mich wie ein rohes Ei, und ich war ihm dankbar dafür.

Über Joshua oder die anderen Jungs von Amblish sprachen wir nie. Auch nicht über die Musik oder was bei ihnen gerade ablief. Es glich einem Eiertanz, aber Tom absolvierte ihn jedes Mal meisterhaft.

„Du denkst wieder an ihn“, stellte er ohne Umschweife fest. Ich schluckte. Für ein oberflächliches Arschloch hatte er verdammt feine Antennen. Zerknirscht verzog ich den Mund und kippte den Sekt in einem Zug hinunter. Als sich die Bläschen in meinem Magen ausbreiteten und eine wohlige Wärme nach sich zogen, fühlte ich mich ein kleines bisschen besser. Joshuas wunderschönes Gesicht verblasste langsam vor meinem inneren Auge, und ich winkte ihm im stillen Gruß hinterher. Spätestens morgen früh würden wir uns wiedersehen. Wenn all der Trubel und die Promille verflogen waren.

„Hier, iss was. Du kannst es gebrauchen“, raunte Tom und hielt mir ein Laugengebäck hin. Er musterte mich durchdringend. Ich verdrehte die Augen. Diesen Spruch hatte ich in den letzten Monaten zu oft gehört. Nicht zuletzt Liv hatte mir mit Schimpf und Schande zu verstehen gegeben, was sie davon hielt, dass ich ein paar Kilos abgenommen hatte. Sie hatte sich nach langem Hin und Her entschieden, das Brautkleid ihrer Großmutter zu tragen. Als angehende Mode-Designerin ließ sie es sich aber nicht nehmen, ein Kleid für ihre Hochzeit zu kreieren. Und ich als ihre Trauzeugin hatte die Ehre, es zu tragen. Sie hatte das hellgrüne Spitzenkleid auf meine alten Maße geschneidert, und es hatte ziemlichen Stunk gegeben, dass sie es auf den letzten Drücker enger nähen musste. Wir hatten uns einfach zu lange nicht gesehen.

Ich wusste, ich hatte mich im vergangenen Jahr nicht nur äußerlich verändert. Mit den Kilos war auch die Leichtigkeit verschwunden. Geblieben war eine drückende Schwere, eine Melancholie, die mich an vielen Tagen verbittert erscheinen ließ.

„Oh Mann, ich bin nur trainiert“, verteidigte ich mich. Ein spöttisches Lachen drang aus Toms Mund.

„Na, dann müsste man ja Muskeln sehen.“ Er nahm meinen Arm unsanft in die Hand und hielt ihn sich dicht vor die Augen. „Ich sehe nur Knochen. Und Haut.“ Er ließ meinen Arm fallen und zog einen Mundwinkel entschuldigend nach oben. Ich schlug die Augen nieder.

„Aber ...“, versuchte ich mich leise zu verteidigen. Wie sollte ich ihm nur klar machen, dass alles seinen Geschmack verloren hatte. Dass ich an Essen keinen Gefallen fand und mich das Meiste nur anekelte. Ich aß, weil ich musste. Nicht, weil es mir schmeckte. Und ab und zu vergaß ich es eben. Punkt.

„Nichts aber. Iss, sonst bist du heute Abend zu nichts mehr zu gebrauchen. Und das wäre schade.“ Er zwinkerte, und ich spürte, wie mir die Röte in den Kopf schoss. Tom flirtete aber schon über sein Sektglas hinweg mit Eleni, einer Cousine von Liv. Ich war froh über die Ablenkung.

Endlich kam das Brautpaar aus der Kirche geschritten. Liv machte in dem langen, altweißen Kleid ihrem Namen alle Ehre. Eine Elfenkönigin könnte nicht zarter, nicht märchenhafter aussehen. Mit ihrem extrem flachen Bauch brachte sie alle Gerüchte um den wahren Grund der Hochzeit zum Erliegen. Liv war gerade einmal neunzehn – und schwanger war sie jedenfalls nicht.

Ich war froh, als wir den Sektempfang auf dem Annaplatz hinter uns gebracht hatten und im Greiffenegg-Schlössle ankamen. Großmütig hatte ich mich bereit erklärt, die Kinderbespaßung zu übernehmen und war froh, dass ich für ein paar wenige Stunden keinen Small-Talk mit Livs oder Lukas’ Verwandten halten musste.

Liv hatte mich eindringlich ermahnt, die Kinder nicht in schwarz zu schminken. Schwarz – wie meine Bilder im letzten Jahr allesamt geworden waren. Schwarz – wie meine Stimmung. Schwarz. Farben ermüdeten mich. Aber brauchte man für Spiderman und kleine Hexen nicht schwarz? Ich war zuversichtlich, dass ich etwas zaubern würde, das den Kids gefiel und mir keine Kopfschmerzen bereitete. Bis ich den Schminkkasten öffnete und feststellte, dass Liv vorgesorgt hatte. Das Schwarz fehlte. Und das dunkelgrau, braun und dunkellila. Ich stöhnte auf, als mich das lustige Ensemble aus rot, gelb und grün schadenfroh anlächelte. Wie sollte ich aus diesen viel zu aufdringlichen Farben etwas halbwegs Anschauliches malen? Ich verfluchte Liv dafür.

Aber die Kinder waren Feuer und Flamme, dass ich sie in quietschebunte Schmetterlinge, gelb-grün-gestreifte Bienen und Tiger mit roten Streifen verwandelte. Und nach und nach genoss ich es ein bisschen, in die einzelnen Farben abzutauchen, auch wenn das viel zu bunte Ergebnis leichte Übelkeit in mir hervorrief.

„Immer schön anständig bleiben. Die Kids sind noch zu klein für deine Künste.“ Natürlich spielte er auf die Edding-Kritzelei an, bei der ich versucht hatte, ihm einen Penis auf die Wange zu zeichnen. Tom reichte mir ein Aperol Spritz und setzte sich neben mich auf den viel zu kleinen Stuhl. Er grinste mich zweideutig an und prostete mir zu. Ich ließ es zu, dass ich mich über seinen Besuch am Kindertisch freute. Obwohl ich bei Liv ein und aus ging, kannte ich außer Tom und der engsten Verwandtschaft des Brautpaares kaum jemanden. Die beiden heirateten im kleinen familiären Kreis, ohne ihren riesengroßen, hippen Freundeskreis, den sie für gewöhnlich um sich scharten. Eine Hochzeitsparty mit ihren Freunden würde kurz vor Weihnachten stattfinden. Dann, wenn alle ihre Familien besuchten und somit möglichst viele von ihnen in Freiburg waren.

„Soll ich dich auch noch schminken?“, fragte ich neckisch und malte ihm einen rosa Klecks auf die Nasenspitze. Ich lachte ein bisschen zu laut, aber Tom sah mich nur freundlich aus seinen strahlend blauen Augen an. Seine Haare hatte er zur Feier des Tages geschnitten. Nun trug er sie kurz. In seinem braunen Anzug, dem cremefarbenen Hemd und der karierten Krawatte sah er wirklich gut aus – objektiv betrachtet. Nur die zahllosen Ringe an seinen Fingern und die Tattoos, die sich von seinen Händen ausgehend an seinen Armen bis zum Ohr entlangschlängelten, ließen vermuten, dass er ein Rockstar war. Ohne das überhebliche Zucken um seinen Mund hätte ich ihn sogar als attraktiv bezeichnet. Aber Tom war eben Tom. Und er blieb Tom. Ich widmete mich wieder Tim – Livs kleinem Bruder – und zauberte eine fliederfarbene Glitzerlibelle auf seine Wange.

„Wenn ich mir aussuchen kann, wo und mit was, bin ich dabei.“ Er zwinkerte, als ich innehielt und ihn verdattert anschaute. Baggerte er mich gerade an? Ich schüttelte angeekelt den Kopf und widmete mich dem Schminkkasten. Aus dem Augenwinkel sah ich, dass sich Tom umständlich von dem Kinderstuhl hochhievte.

„Ich bereite mal alles für den Film später vor.“ Tom legte eine Hand auf meine nackte Schulter. Ich erschauderte, obwohl sie sich warm anfühlte. Langsam wurde er mir doch zu vertraulich.

„Du siehst heute wunderschön aus“, flüsterte er mir ins Ohr und war verschwunden, bevor ich mich umgedreht hatte. Ich verzog den Mund. Und ich freute mich über sein Kompliment, auch wenn ich wusste, dass es gelogen war.

Tom hatte bei der Sitzordnung seine Finger im Spiel gehabt. Das vermutete ich jedenfalls, als ich auf meinen Platz zusteuerte und ihn direkt daneben sitzen sah. Er grinste mich vielsagend an und schob meinen Stuhl ein kleines Stück nach hinten. Ich lächelte zaghaft und versuchte dankbar auszusehen, er meinte es schließlich gut.

Auch den Rest des Abends wich er mir nicht von der Seite. Wahrscheinlich hatte er von Eleni einen Korb bekommen. Und außer uns gab es nur ältere Damen oder kleine Kinder. Eleni und ich waren also die Einzigen, die in sein Beuteschema passten. Wobei ich mir nicht vorstellen konnte, dass Tom tatsächlich sein Glück bei mir versuchen würde.

Das Gesöff namens Aperol Spritz, das Tom ständig vor meiner Nase abstellte, schmeckte ausgesprochen gut. Und es machte mich lockerer. Ich ließ mich von der guten Stimmung anstecken. Lachte mit Tom. Umarmte Liv und sprach ein halbwegs ernstes Wörtchen mit Lukas, dass er meine beste Freundin gut behandeln sollte. Wir quatschten, tanzten und fast war es wie früher. Früher, als ich noch Spaß am Leben hatte.

Ich hielt inne und versuchte den Nebel zu spüren, der mich normalerweise umgab. Zumindest für den Moment schien er sich verzogen zu haben, stellte ich erfreut fest. Ich umarmte Tom und grinste Liv vielsagend an.

„Ich muss gleich los. Morgen Mittag stehen wieder Proben an. Willst du mitfahren oder bleibst du noch?“, fragte Tom und hielt die Arme weiter um mich geschlossen.

„Wohin mitfahren?“, fragte ich und zog die Augenbrauen zusammen.

„Na, nach München!“ Tom grinste, als hätte ich eine dämliche Frage gestellt. Dabei probte Amblish doch normalerweise im Bandhaus in Oberried.

„München“, flüsterte ich und überlegte krampfhaft, was Amblish in München zu suchen hatte. München. Meine neue Heimat. Ich seufzte. Nach einem dreiviertel Jahr in der selbstgewählten Isolation konnten meine Eltern meine dauernde Anwesenheit nicht mehr ertragen und schoben mich zu meinem Onkel Eric nach München ab. Sie schrieben mich für ein Probestudium in Grafik Design ein. Bis zum nächsten Semester sollte ich meine Mappe fertighaben, um mich anschließend an einer Grafik-Schule zu bewerben. Doch ich verkroch mich lieber in der winzigen Einliegerwohnung. Und litt weiter vor mich hin. Still.

Der Gedanke daran war alles andere als angenehm. Morgen würde ich wieder allein sein. Morgen wären all der Schmerz und die Erinnerungen wieder da. Erinnerungen an Joshua.

„Ich fahr mit“, beschloss ich kurzerhand. Noch ein paar weitere Stunden in Toms Gesellschaft waren allemal besser, als die nervtötende Fahrt mit Udo von der Mitfahrzentrale, der mir jedes Mal das Ohr abkaute und erzählte, wie nahrhaft die Äpfel vom Bodensee waren.

Tom lächelte siegessicher und legte seinen Arm um mich. Ich wand mich aus der Umarmung und suchte meine Sachen zusammen. Liv hob erstaunt die Augenbrauen, als ich die Party mit Tom verließ, und bedeutete mir, sie anzurufen. Das würde ich sicher tun. Aber nicht heute Nacht. Schließlich war es ihre Hochzeitsnacht. Ich umarmte sie ein letztes Mal und drückte Lukas einen freundschaftlichen Kuss auf die Wange. Und schon saß ich in Toms Potenzschleuder. Ein 5er-BWM mit Ledersitzen, einer dicken Musikanlage und mindestens 250 PS. Ich wollte mir lieber nicht vorstellen, wen er hier schon alles flachgelegt hatte.

Müde strampelte ich meine Stöckelschuhe von den Füßen und schaute aus dem Fenster, als die Lichter der Freiburger Nacht an mir vorbeizogen. Der viele Alkohol machte sich bemerkbar. Ich war unendlich müde. Froh, dass mich mein übliches Gedankenkarussell in Ruhe ließ, kuschelte ich mich in den Sitz ein. Mein Kleid war eigentlich viel zu kurz für solche Verrenkungen, aber damit musste Tom halt irgendwie klarkommen. Ich hoffte, dass er keinen Unfall baute, weil er auf meine nackten Oberschenkel starrte, und fiel in einen dumpfen, traumlosen Schlaf.

Als ich mit einem Ziehen im Nacken aufwachte, beschleunigte sich mein Puls von Null auf Zweihundertachtzig. Joshuas einzigartige rauchig-weiche Stimme dröhnte mir aus den Lautsprechern entgegen. Ich hielt die Augen geschlossen und versuchte, den Schock zu verdauen. Während der letzten Monate hatte ich eine grandiose Vermeidungsstrategie gefahren und immer und überall aufgepasst, dass kein Song von Amblish lief. Ich hörte weder Radio noch ging ich shoppen oder in Clubs. Alles, wobei ich mit einem Song von Amblish konfrontiert werden könnte, mied ich, als könnte ich mir dort eine lebensbedrohliche Seuche holen.

Die Wärme, die seine Stimme augenblicklich in mir auslöste, legte sich wie eine kuschelige Wolldecke über mich. Hüllte mich ein und schenkte mir das lang vermisste Gefühl der Geborgenheit. Ich ließ es zu, dass das süße Gift weiter in den Betonblock um mein Herz eindrang und erste Risse entstanden.

Ich lauschte, doch ich kannte das Lied nicht. Es musste ein neuer Song sein. Sanft und kraftvoll. Traurig und wunderschön. Ich schluckte. All die Erinnerungen, die ich so fein säuberlich verschlossen hatte, waren auf einen Schlag wieder da. Eigentlich sollte ich traurig sein. Doch ich fühlte mich gut. Ich wartete auf den erstickenden Nebel, doch er kam nicht. Ich schüttelte benommen den Kopf. Sollte ich etwa über Joshua hinweg sein? Nein, der Alkohol musste das Schmerzzentrum in meinem Gehirn betäubt haben.

„Du bist ja wach“, sagte Tom und drehte die Anlage leiser. Ich drückte mich umständlich auf dem Sitz hin und her und suchte eine halbwegs bequeme Position. Mein kurzes Kleid gab eindeutig zu viel Bein preis, aber das war mir egal. Ich gähnte herzhaft und versuchte vergeblich, die Gedanken an Joshua zu unterdrücken. Draußen dämmerte es bereits. Es konnte nicht mehr lange dauern, bis wir an unserem Ziel angekommen sein würden.

„Yep. Mann, wie selbstverliebt muss man eigentlich sein, um ’ne CD von seiner eigenen Musik im Auto laufen zu lassen? Stehen da deine Miezen drauf? Ich wette, du hast einen ganzen Stapel Autogrammkarten im Handschuhfach“, witzelte ich und beugte mich Richtung Konsole. Tom versuchte mich aufzuhalten, hatte aber keine Chance. Ich öffnete das Fach mit einem lauten Rums und wurde von einem Berg Kondome überschüttet.

„Ups“, sagte ich und starrte die goldenen, blauen und roten Verpackungen an. Größe XL – war ja klar, dass Tom auch in diesem Bereich an maßloser Selbstüberschätzung litt. Ich nahm einen Gummi in die Hand und grinste Tom vielsagend an. Zeitgleich brachen wir in schallendes Gelächter aus.

„Allzeit bereit, my dear. Bedien’ dich ruhig. Man weiß nie, wann man sie mal brauchen kann“, raunte er und zwinkerte vielsagend. Ich spürte, wie mir die Röte ins Gesicht schoss und klappte das Handschuhfach schnell wieder zu.

„Was sind das für Songs? Die kenne ich gar nicht“, versuchte ich abzulenken.

„Die sind für das nächste Album. Wir gehen noch einmal ins Studio und nehmen sie neu auf. Josh ist unzufrieden und will es nochmal machen – mit mehr Ruhe.“ Josh. Eine kleine Nadel pikte beim Klang seines Namens in mein Herz. Ich ignorierte sie.

„Die sind doch gut.“ Ich lehnte mich ans Beifahrerfenster und musterte Tom. Er sah müde aus. Aber ohne potenzielle Zuschauer war er so viel lockerer und weniger arrogant. Fast konnte ich ihn gernhaben.

„Na, ja. Als wir sie aufgenommen haben, hatte er … er hatte ’ne schwierige Zeit. Und da wir eh erst mal alle Gigs abgesagt haben, können wir jetzt in Ruhe daran feilen.“

„Wie? Alle Gigs abgesagt?“ Plötzlich beschleunigte sich wieder mein Puls. Was bedeutete das? Was war los?

„Hast du das nicht mitbekommen?“, fragte Tom verständnislos und schaute kurz zu mir rüber.

„Was mitbekommen?“ Meine Stimme zitterte. Nichts hatte ich mitbekommen. Nichts. Ich hatte Amblish aus meinem Leben radiert und Liv gebeten, mir nichts zu sagen. Aus Selbstschutz.

„Na, Josh ist im Mai zusammengebrochen. Dachte, du wüsstest davon“, sagte er ohne Umschweife. Ich blinzelte verständnislos und spürte, wie mich eine eisige Kälte ergriff.

„Zusammengebrochen?“ Meine Stimme zitterte.

„Das letzte Jahr war für alle zu viel. Josh hat es eben zuerst erwischt. Die sensible Seele.“ Alles zu viel. Sensible Seele. In mir drehte sich alles. „Hey, keine Panik. Niemand gibt dir die Schuld. Josh am allerwenigsten.“ Ich verzog den Mund zu einem gequälten Lächeln.

„Was ...“ Ich räusperte mich, um den Kloß in meinem Hals hinunterzuschlucken. „Was ist mit Amerika?“

„Amerika? Herzchen, wir nehmen gerade unsere zweite Platte auf, und danach sehen wir weiter. Wir wollen es eine Spur langsamer angehen lassen. Diese ständige Reiserei, Interviews, Gigs, Termine, zwischendrin ins Studio. Das hat nicht nur Josh zugesetzt. Wir alle sind ausgelaugt und brauchen ’ne Auszeit.“ Sollte das heißen, dass alles umsonst gewesen war? Dass sie nicht in Amerika gewesen waren und vorerst auch nicht gehen würden? Ich lehnte den Kopf zurück und versuchte mich selbst zu beruhigen. Nicht meine Schuld. Es war nicht meine Schuld.

„Wie geht es Joshua jetzt?“, flüsterte ich, bemüht, meine Stimme im Griff zu haben.

„Besser. Er räumt in seinem Leben auf.“ Ich zog fragend eine Augenbraue hoch. „Er war eine zeitlang in Italien bei seiner Mom. Das hat ihm echt gutgetan. Und ich glaube, vom Alkohol und den Drogen lässt er grad auch die Finger.“

„Alkohol und Drogen? Joshua?“, fragte ich fassungslos, meine Stimme überschlug sich.

„Ja, Süße, dein Supermann ist lange nicht der Saubermann, für den du ihn hältst.“

„Na, du wirst es wissen.“ Demonstrativ verschränkte ich die Arme vor der Brust. Tom war sicher nicht ganz unschuldig, wenn Joshua Drogen nahm. Wie sonst kam er wohl an das Zeugs? Wahrscheinlich hatten sich die beiden sogar nach den Konzerten gemeinsam zugedröhnt.

Und wieder war es da. Das schlechte Gewissen, das mich auffressen wollte. Ich schob es beiseite. Ich konnte nichts dafür, dass Joshua zu zerbrechlich für diese Welt war.

Ich spürte die altbekannte Nebelfront auf mich zurollen, und plötzlich überkam mich die Angst vorm Alleinsein. Ich wollte nicht mit meinen Gedanken Karussell fahren, wollte nicht immer und immer wieder daran denken, dass es ein Fehler gewesen war, mit Joshua Schluss zu machen. Die Gewissheit, dass alles umsonst gewesen war, machte die Sache nicht besser.

„Hey, wir sind gleich da“, stellte Tom fest und räkelte sich auf dem Fahrersitz, als die Lichter der Stadt uns willkommen hießen.

„Mhm.“ Kalte Luft schlug mir entgegen, als Tom ohne Vorwarnung alle Fenster öffnete. Ich schnappte nach Luft und schlug Tom unsanft auf den Oberarm. „Mann, Tom.“ Er lachte schadenfroh.

„Komm schon. Eine kleine Abkühlung schadet dir nicht. Du hast es dir auf dem Sitz viel zu gemütlich gemacht. Sonst kriege ich dich gleich nicht mehr hier raus.“

„Wäre das so schlimm?“, fragte ich leise.

„Nein, ganz und gar nicht.“ Wir fuhren am Bahnhof entlang. Gelbes Licht drang durch die Fensterscheiben, und ich war froh, dass ich nicht mit dem Zug gefahren war und nun hier allein stehen musste.

„Zu dir oder zu mir?“, fragte Tom unvermittelt. Ich legte den Kopf schief und strafte ihn mit einem giftigen Blick. „Okay, okay. Einen Versuch war es wert“, sagte Tom und strubbelte mit einer Hand durch meine Haare. Ich versuchte ihn abzuwehren und fiel in sein Lachen ein. Er konnte es einfach nicht lassen.

Tom ergatterte direkt vor Onkel Erics Haus im Lehel einen Parkplatz. Ich kramte in der Handtasche nach dem Schlüssel und kämpfte mich aus dem Auto. Meine Oberschenkel klebten am Ledersitz fest und machten ein schmatzendes Geräusch, als sie sich endlich davon lösten. Beschämt blickte ich mich nach Tom um, aber der war bereits ausgestiegen und öffnete den Kofferraum.

„Darf ich dir wenigstens die Tasche reinbringen?“, fragte Tom, als ich sie ihm abnehmen wollte und hob sie außerhalb meiner Reichweite. „Ich benehme mich auch anständig. Versprochen.“ Tom zauberte sein wahrscheinlich vertrauensvollstes Lächeln auf sein Gesicht und sah dabei so ulkig aus, dass ich lachen musste und schließlich Richtung Haus nickte. Zufrieden legte Tom seinen Arm um meine Schulter. Er war fast genauso groß wie Joshua, aber er fühlte sich anders an. Steifer. Kantiger. Unpassend. Ich schluckte und eilte die drei Treppenstufen zu meiner Wohnungstür hinunter. Mein Onkel Eric ließ mich auf Bitten meines Vaters in dem Souterrain-Zimmer wohnen, das er sonst an Studenten vermietete.

„Hereinspaziert.“ Tom blieb unschlüssig stehen, während ich das Licht anknipste und den Wohnungsschlüssel an das Schlüsselbrett hing. Schon stand ich in dem kleinen Etwas, das Wohnzimmer, Schlafzimmer und Küche in einem war. Tom folgte mir. „Willst du noch was trinken?“, fragte ich, da er nicht den Anschein machte, sich in den nächsten Minuten zurückzuziehen. Er blickte sich interessiert um.

„Kaffee. Gerne.“ Ich hatte ja eher an ein schnelles Glas Wasser gedacht, wollte aber nicht unfreundlich sein. Schließlich hatte er mich mitfahren lassen und mir somit eine nervige Fahrt mit Udo erspart. Ich schaltete die Senseo-Maschine ein und verzog mich ins Badezimmer. Als ich wieder rauskam, hatte Tom es sich auf meinem Bett gemütlich gemacht. Ich schluckte im ersten Moment, sah aber schnell ein, dass es momentan keine andere Sitzgelegenheit gab – den Schreibtischstuhl hatte ich als Ablage für meine Klamotten zweckentfremdet.

Dennoch zitterten meine Finger nervös, als ich den Kaffee mit einem Klick in eine geblümte Siebziger-Jahre-Tasse laufen ließ und sie Tom reichte – ich war Besuch einfach nicht gewohnt. Tom trank seinen Kaffee schwarz. Das wusste ich noch aus Amblish-Zeiten. Müde von dem langen Tag und der Fahrt sank ich ebenfalls aufs Bett und streckte mich genüsslich aus. Einen Moment die Augen zumachen. Nur einen Moment. Ausruhen. Tom würde es mir verzeihen.

Keine Sekunde später spürte ich ein sanftes Streicheln auf meinem Kopf. Ein Traum. Es fühlte sich gut an. Ich streckte mich – und fühlte eine Hand. Atem dicht an meinem Mund. Ich öffnete die Augen und schaute direkt in Toms blaue Augen, die mich erwartungsvoll anstrahlten. Mein Herzschlag beschleunigte sich. Ich räusperte mich.

„Was wird das?“, fragte ich mit erstickter Stimme. Er strich mir über die Wange und lächelte sanft.

„Nach was sieht es denn aus?“ Mein Verstand sagte Nein, wollte ihn wegschieben, ihn mit Schimpf und Schande aus der Wohnung jagen. Aber ich konnte nicht. Mein Körper wollte ihn. Unbedingt.

Zu sehr sehnte ich mich danach, jemandem nahe zu sein, mich in eine weiche Wolke aus Geborgenheit fallen zu lassen. Das Gefühl, begehrt zu werden, fehlte mir. Und es fühlte sich einfach wundervoll an, wie er mich berührte.

Josh & Emma - Portrait einer Liebe

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