Читать книгу Josh & Emma - Portrait einer Liebe - Sina Müller - Страница 9

Zumindest ein Anfang

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Ich tat, was ich immer tat, wenn ich nervös war und die Zeit totschlagen musste: Ich wirbelte in meinem Zimmer herum, räumte die Dreckwäsche der letzten Woche auf, putzte und schrubbte, bis der schmucklose Raum wieder annähernd sauber war. Da ich nur mit dem Allernötigsten nach München gezogen war, hatte ich keine Dekosachen oder sonstige Möglichkeiten, mein neues Zuhause etwas wohnlicher zu gestalten.

Also ging ich meinen Skizzenblock durch. Ich blieb einen Augenblick an all den Skizzen von Joshua hängen und hielt inne. Ich hatte ihn gut getroffen. Wärme stieg in mir hoch. Nach einem liebevollen Blick auf seine schön geschwungenen Lippen zwang ich mich dazu, weiterzublättern, bis ich gefunden hatte, wonach ich suchte. Ich pinnte einige meiner alten Zeichnungen an die Wände. Zeichnungen aus meinem vorigen Leben. Zeichnungen, die Leben versprühten. Und die dennoch nichts mit Joshua zu tun hatten. Ich wollte es schön haben, wenn ich später nach Hause kam. Später, wenn alles zwischen Joshua und mir geklärt sein würde und ich hoffentlich bereit für ein neues Leben war.

Ich ging in den Garten und schnitt eine Sonnenblume ab. Ein bisschen Farbe würde guttun. Die Sonne kämpfte sich durch die hohen Bäume und kitzelte mich an der Nase. Ich nieste und hörte mich selbst lachen. Heute war ein guter Tag. In ein paar Stunden würde ich Joshua wiedersehen.

Nach einem viel zu langen Blick in meinen spärlich bestückten Kleiderschrank entschied ich mich für eine Capri-Jeans und ein schlichtes maritimes T-Shirt. Für das Eiszeit war das underdressed. Aber ich wollte bei Joshua nicht den Eindruck erwecken, ich hätte mich aufgebrezelt. Außerdem hatte ich keine Alternative: Livs ausrangierte Tops hatte ich in Freiburg zurückgelassen. Wozu hätte ich sie mitnehmen sollen?

Viel zu früh machte ich mich auf den Weg. Die Gedanken wirbelten in meinem Kopf, formten sich zu einem Klumpen, der sich nicht mehr auseinandernehmen ließ. Mir war es schleierhaft, wie Joshua zu mir stand. Im letzten Jahr hatten wir keinerlei Kontakt gehabt. Ich wollte ihm die Chance geben, seinen Traum zu leben. Ich wusste nicht, ob er sauer auf mich war. Ob er wütend, enttäuscht oder verletzt war. Ich vermutete, dass ihn mein Schlussstrich sehr getroffen hatte, denn er hatte mich geliebt. Aber was blieb, war die Ungewissheit, was er heute von mir wollte, und das machte mich schier wahnsinnig.

Ich hatte mir vorgenommen, alles zu ertragen. Gelassen. Würdevoll. Und auch wenn ich mir nichts mehr wünschte, als Joshua zurückzugewinnen, würde ich mich zurückhalten. Ich wusste, dass ich es verkackt hatte und Joshua keine zweiten Chancen gab. Aber vielleicht hatte ich heute endlich eine Gelegenheit, alles mit ihm zu klären. Und danach ein neues Leben anzufangen. Ohne die Fragezeichen, die ständig in meinem Kopf auftauchten.

Ich machte einen Abstecher durch den Englischen Garten und hoffte, dass mich der Anblick all der glücklichen, sonnenhungrigen Menschen nicht aus der Bahn werfen würde. Aber in Bewegung zu bleiben war allemal besser, als vor dem Eiszeit die Zeit totzuschlagen.

Ich versuchte mich abzulenken, beobachtete spielende Kinder, tobende Hunde und blickte neidisch zu all den verliebten Paaren, die lachend oder küssend auf der Wiese lagen. Den Sommer hatte ich immer geliebt. Seit letztem Jahr war alles anders. Nun verkroch ich mich lieber in meinem Zimmer, statt meine Nase in die Sonne zu strecken, starrte lieber an die Decke, statt mit Freunden den Sommer zu genießen.

Ein tiefer Atemzug, bevor ich in das kühle Glasgebäude des Eiszeit trat. Trotz des schönen Sommerwetters war es im Inneren brechend voll, und ich war froh, dass ich so umsichtig gewesen war, zu reservieren. Die Dame am Empfang führte mich an einen kleinen Zweiertisch an der Glasfront. Ein lauschiges Plätzchen, um mit Joshua in trauter Zweisamkeit zu reden, sah anders aus. Aber das Eiszeit war das einzige Lokal gewesen, in dem ich bisher war. Ich war nicht viel unterwegs. Mit wem auch? Die hippen und aufgestylten Menschen in meinem Kurs hatten Besseres zu tun, als mit diesem in sich gekehrten, viel zu dünnen Mädchen auszugehen, das sich ausschließlich auf Steine konzentrierte. Schwarze Steine. Ich konnte sie verstehen. Schließlich hatte ich mir keine Mühe gegeben, Anschluss zu finden. Die selbstgewählte Isolation kam mir ganz gelegen.

Ich blickte mich verstohlen um und zupfte an meinem viel zu schlichten T-Shirt. Vielleicht hätte ich doch etwas anderes anziehen sollen? Wie einfach es gewesen war, als Liv nur ein paar Meter von mir entfernt gewohnt hatte und immer aushelfen konnte, wenn mein Kleiderschrank nichts Passendes ausspuckte. Ich vermisste sie. Sehr sogar.

Die Bedienung brachte die Karte und lächelte mich vielsagend an. Dankbar, endlich eine Beschäftigung zu haben, schlug ich sie auf und kämpfte mich durch die unzähligen Aperitifs, deren Namen mir nichts sagten. Nervös blickte ich mich um, mein Blick huschte immer wieder Richtung Eingang. Wie würde es sein, ihn gleich wiederzusehen? Ich freute mich darauf. Und hatte unendlich Angst davor. Ich vertiefte mich wieder in die Karte und suchte nach etwas, das keinen Brechreiz in mir hervorrief. Joshua sollte sich schließlich keine Sorgen machen und denken, ich litt an einer Essstörung.

„Hey, Emma.“ Mein Puls schnellte in die Höhe, und ich stand so schnell auf, dass ich am Tisch hängenblieb und das Besteck furchtbar klapperte. Na super, das Blamieren hatte ich somit auch hinter mir. Ich spürte, wie mir das Blut in den Kopf schoss. Ich presste die Lippen aufeinander und schaute in diese sanften Augen. Plötzlich war es mir egal, ob alle im Raum mich anstarrten. Es war mir egal, was alle von mir dachten. Ich spürte nur diese unendliche Vertrautheit. Diese Wärme, die sich in meinem Körper ausdehnte, der in den letzten Monaten schockgefrostet gewesen war. Er stand einfach da und lächelte mich an.

Ich blinzelte, und mein Blick wanderte von seinen Augen zu dem schön geschwungenen Mund, der ein sanftes Lächeln preisgab. Seine Grübchen zeichneten sich tief neben den Mundwinkeln ab. Er sah gut aus, von einem Zusammenbruch war keine Spur mehr. Seine Haare waren kürzer und nicht mehr ganz so wuschelig. Dafür hatte er mal wieder genau das richtige Outfit gewählt. Eine cremefarbene Chino, die weich fiel, Flip-Flops und ein weißes luftiges Hemd. Er wirkte stylish, hip und doch gelassen.

Meine Mundwinkel verzogen sich zu einem schiefen Grinsen, und ich bewegte mich einen halben Schritt auf ihn zu, um ihm die obligatorischen Küsschen zur Begrüßung zu geben. Ich war darauf vorbereitet, dass mich seine Nähe mit voller Wucht treffen würde und schlug sicherheitshalber die Augen nieder. Ihm zeitgleich in die Augen zu blicken, das war schon einmal schiefgegangen.

„Ich …“, stammelte ich und zeigte unbeholfen auf den Platz mir gegenüber. „Hey, Joshua“, sagte ich schließlich, da mir nicht mehr einfallen wollte, was ich eigentlich sagen wollte. Ich setzte mich hin und verknotete die Beine unter dem Tisch.

„Hast du schon was bestellt?“ Joshuas wache Augen verfolgten jede noch so kleine Bewegung von mir. Ich riss den Blick von ihm und schaute der Bedienung minder interessiert zu, wie sie Besteck und Servietten auf einem Tisch arrangierte. Das Geklapper in dem großen rechteckigen Raum war schier unerträglich, und doch schien sich die Stimmung in den letzten Minuten geändert zu haben. Das übliche Getuschel drang zu mir, die bekannten, verschämten Blicke zu unserem Tisch.

„Nein. Ich ...“ Ich atmete tief durch und zwang mich dazu, ihn anzuschauen. Schließlich konnte ich nicht den ganzen Abend an ihm vorbeiblicken, als wäre er aus Luft. „Ich habe auf dich gewartet.“ Ein nervöses Lächeln stahl sich auf mein Gesicht.

„Ah. Okay.“ Joshua stand auf und streckte seine Hand nach mir aus. „Lass uns woanders hingehen. Ich weiß was Besseres.“ Und bevor ich es richtig registrierte, lag meine Hand in Joshuas. Eine Welle von Gefühlen schwappte über mich. Glück, Angst. Freude und Überforderung. Es fühlte sich vertraut an. Seine Wärme brannte auf meiner kühlen Haut und fachte ein Feuer in mir an, das ich für längst erloschen gehalten hatte.

Er zog mich zur Tür. Während ich mehr oder minder elegant hinter ihm her stolperte, starrte ich auf unsere Hände. Immer wieder betete ich mir wie ein Mantra vor, dass es nichts zu bedeuten hatte. Dass es verdammt noch mal nichts zu bedeuten hatte. Auch wenn ich mir nichts sehnlicher wünschte.

Mein Hirn war leer. Alles, was ich wahrnahm, war seine Nähe. Und dieses Gefühl war berauschend. Viel zu lange hatte ich in diesem dichten Nebel vor mich hinvegetiert. Hatte darauf gewartet, wieder etwas zu fühlen. Doch viel zu schnell löste Joshua seine Hand, und übrig blieb dieses Kribbeln in meinen Fingerspitzen.

Er öffnete gerade die schwere Glastür, als ich eine aufgeregte Stimme hinter uns hörte. „Herr Meyer, Herr Meyer, einen Moment bitte.“ Joshua hielt inne und verzog unmerklich das Gesicht. Ich spürte seine Hand nur eine Papierstärke von meinem Rücken entfernt. Ich schluckte. Ich durfte nicht zulassen, dass er mir so nahekam. Der Wunsch, ihn zurückzuerobern, war jetzt schon größer als jedes Gebäude, das die Menschheit jemals bauen würde. Die Chancen, dass dies in Erfüllung ging, war allerdings eher Unterboden-Niveau. Kellerbereich. Ich würde wieder in das schwarze Loch fallen, aber dies galt es, mit aller Macht zu verhindern. Aber diese Nähe, diese Wärme. Jede Faser meines Körpers war darauf programmiert, auf Joshua zu reagieren. Er erinnerte sich. Ich erinnerte mich.

„Herr Meyer … Ich … Mein Name ist Olchowski. Ich bin der Manager des Hauses. Ist etwas nicht nach Ihrem Geschmack? Möchten Sie vielleicht einen anderen Tisch?“ Ein drahtiger Mann mit solariumgegerbtem Gesicht stand hinter uns. Er war gut einen Kopf kleiner als Joshua und wirkte in seinem schwarzen, dreiteiligen Anzug ein bisschen fehl am Platz in dieser Sommerhitze – auch wenn es hier drinnen klimatisiert war. Er strahlte Joshua an und fand es ganz offensichtlich aufregend, dass ein Popstar in seinen heiligen Hallen anwesend war. Ich linste zu Joshua, der den Mann freundlich anlächelte und sich dann zu ihm hinunterbeugte. Joshua sprach zu leise, als dass ich hätte verstehen können, was er sagte. Er zog vielsagend die Augenbrauen hoch und legte eine Hand beschwichtigend auf den Arm des Managers. Dieser nickte, und sein Blick schweifte zu mir. Schüchtern schaute ich zu Boden. Was auch immer Joshua zu ihm gesagt hatte, es hatte mit mir zu tun, das war klar.

„Ich verstehe. Es wäre schön, Sie bald wieder hier begrüßen zu dürfen, Herr Meyer. Dürfte ich …“ Er räusperte sich. „Dürfte ich Sie noch um ein Autogramm bitten? Mein … äh … meine Freundin ist ein großer Fan von Ihnen.“ Nach einem freundlichen Nicken von Joshua verschwand er im Stechschritt Richtung Theke. Entschuldigend zog Joshua die Schultern hoch. Noch immer spürte ich seine Hand, die nur Millimeter von meinem Schulterblatt entfernt lag und die Tür aufhielt. Ich war versucht, einen halben Schritt nach hinten zu tun, um den Kontakt herzustellen. Stattdessen starrte ich weiter in diese dunklen Augen, in denen sich ein unbekanntes Glitzern widerspiegelte. Es war nicht ‚mein‘ Strahlen. Aber es brachte mein Herz fast ebenso zum Stolpern.

Der Manager kam mit Stift und Block bewaffnet auf Joshua zugestürmt und konnte es kaum erwarten, sein Autogramm an sich zu reißen. Ich musste unwillkürlich lächeln, denn es war klar, dass der gute Herr mindestens ein genauso großer Fan von Joshua war.

Endlich spürte ich Joshuas Hand, die mich zaghaft durch die Tür in die Hitze schob. Ich atmete ein und stellte erleichtert fest, dass mir hier draußen das Luftholen deutlich leichter fiel. Blicke verfolgten uns, und ich war froh, als wir endlich um die Ecke bogen und aus dem Blickfeld all der Neugierigen traten.

Das Lachen über den Auftritt des schwärmenden Managers unterdrückte ich noch immer. Erfolglos. Joshua linste aufmerksam zu mir rüber und rempelte mich schließlich an.

„Was?“

„Interessant, dass wohl nicht nur Mädchen auf dich stehen.“ Nach einem Blick in Joshuas fragendes Gesicht brach ich in albernes Gelächter aus.

„Was … was hast du ihm denn gesagt?“, wollte ich wissen, als wir uns wieder einigermaßen beruhigt hatten. Meine Neugier hatte gesiegt.

„Ach, nur, dass wir uns lange nicht gesehen haben und er es mir sicher nicht verübeln kann, dass ich mit dir allein sein will“, antwortete er leichtfertig. Mein Magen flatterte. „Du hast ganz schön abgenommen.“ Es war kein Vorwurf, eher eine neutrale Feststellung, und ich nahm sie als solche an. Joshua würde verstehen, wie es mir ging. Das hatte er immer getan.

Wir liefen nebeneinander her, Joshuas Hand war wenige Zentimeter von meiner entfernt, und doch berührten wir uns nicht. Ich konnte seine Nähe spüren. Seine Wärme.

„Du hast deine Haare geschnitten.“

Er schaute mich mit einem leisen Lächeln an und sah dabei so traurig und einsam aus, dass ich ihn umarmen wollte. Ich spürte Tränen in mir aufsteigen. All die Tränen, die ich in den vergangenen Monaten unter dem Schleier der Gefühllosigkeit begraben hatte. Ich wendete den Blick von ihm ab und riss die Augen weiter auf, in der Hoffnung, die plötzliche Luftzufuhr würde die Tränen trocknen.

„War ein ziemlich hartes Jahr“, stellte Joshua ohne Umschweife fest. „Komm, lass uns was essen gehen. Hast du Hunger?“ Mein Magen antwortete lautstark auf Joshuas Frage. Seit über einem Jahr hatte ich diese Leere in meinem Magen nicht mehr wahrgenommen. Energisch schluckte ich die Tränen runter.

„Wohin gehen wir?“, fragte ich und versuchte, meine Stimme unter Kontrolle zu halten.

„Ich habe da neulich eine kleines somalisches Restaurant gesehen. Das sah nett aus.“

„Somalisch? Ich wusste gar nicht, dass du auf afrikanisches Essen stehst.“

„Ich auch nicht. Aber sollen wir das mal ausprobieren?“ Er legte den Kopf schief und lächelte mich aufmunternd an. Ich hielt einen Moment inne, als ich hinter seinem linken Ohr einen kleinen Stern erblickte. Erst dachte ich, es wäre eine Halluzination, aber nein, es war tatsächlich ein kleiner dunkelblauer Stern, der sich hinter seinem linken Ohrläppchen versteckte. Unauffällig. Unaufdringlich. Und doch war er da.

„Seit wann hast du ein Tattoo?“ Ich versuchte einen genaueren Blick darauf zu erhaschen.

„Eine Weile“, sagte er und schaute mir herausfordernd in die Augen. Augenblicklich tanzten die totgeglaubten Schmetterlinge wie ein wild gewordener Bienenschwarm in meinem Magen herum.

„Jedes Tattoo verdient eine gute Geschichte“, murmelte ich. Stern – Emma Stern. Vergangenheit. Ich schluckte.

„Was?“

„Ach, nichts“, antwortete ich tapfer und suchte krampfhaft nach einem anderen Thema. „Hey, hast du das von Liv mitbekommen?“, fragte ich betont fröhlich. Warum wollte sich nicht einfach diese zwanglose Verbundenheit zwischen uns einstellen? Ich gierte nach seiner Nähe, nach einer Berührung, einem Zeichen, dass er mich noch immer mochte. Zumindest mochte. Aber alles, was ich bekam, war diese beschissene Freundlichkeit. Warum schrie er mich nicht an? Warum schüttelte er mich nicht? Warum küsste er mich nicht?

Ich sollte aufhören zu denken.

„Dass sie geheiratet hat? Ja. Tom hat was davon erzählt. Krass. Was hältst du davon?“

„Keine Ahnung. Eigentlich ist sie zu jung zum Heiraten. Aber sie ist glücklich.“ Das war sie im Moment ganz sicher. Und ich wünschte ihr von Herzen, dass sie das ewig blieb.

„Glücklich. Das ist schön“, sagte Joshua und hörte sich an, als wäre er mit seinen Gedanken ganz weit weg. „Da vorne. Da ist es.“ Er deutete auf einen unscheinbaren Eingang. Es sah unspektakulär aus. Durch die bodentiefen Glasscheiben erhaschte ich einen Blick ins Innere. Es war nicht viel los. Gerade einmal zwei Tische waren belegt. Erleichtert atmete ich aus. Joshua hielt schon die Tür auf und wartete darauf, dass ich vor ihm eintrat. Im Inneren begrüßte uns eine zierliche, dunkelhäutige Frau. Sie war kaum älter als wir, hatte aber diesen wissenden Blick, der erkennen ließ, wie viel sie schon von der Welt gesehen hatte.

Sie trug ein langes, buntes Kleid. Wahrscheinlich war es typisch somalisch, das Muster und die Farbenpracht ließen jedenfalls auf Afrika tippen. Sie lächelte freundlich und führte uns zu einem kleinen Tisch am anderen Ende des verwinkelten Restaurants. Die Einrichtung war schlicht. An der Wand stand eine lange, dunkle Holzbank, davor quadratische kleine Tische. Schwarzweiß-Fotografien an den Wänden gaben einen kleinen Einblick in das Leben in Somalia. Wüste, Frauen mit gemusterten flatternden Gewändern und Tonkrügen auf dem Kopf. Kleine lachende Kinder mit nackten Bäuchen. Wie anders diese Bilder waren als die, die in den Medien gezeigt wurden. Dort sah man ausschließlich das Elend, das es mit Sicherheit auch zur Genüge gab. Doch verlor man bei all dem Leid leider aus dem Blick, dass das Land ganz sicher auch seine schönen Seiten hatte.

„Und, wie gefällt es dir in München? Was macht dein BWL-Studium?“ Joshua schaute mich interessiert an. Die hübsche Bedienung legte die Speisekarten vor uns hin und zündete eine kleine Kerze an. Ich lächelte, dankbar für die Zeit, die mir diese kleine Unterbrechung schenkte, und überlegte krampfhaft, was ich Joshua antworten könnte. Ich räusperte mich.

„Um ehrlich zu sein, bin ich erst seit ein paar Wochen hier. Und das, was ich mache, ist eher so ein Vorstudium“, druckste ich herum. Joshua kniff die Augenbrauen zusammen.

„Vorstudium? Ich dachte, du wolltest direkt letzten Herbst hierherkommen?“ Er nahm die Speisekarte in die Hand und klappte sie auf. Ich war froh, dass er nicht gleich explodiert war.

„Na ja, das war …“ Ich konnte ja schlecht sagen, dass ich ihn angelogen hatte. „Joshua, ich hatte nicht vor, nach München zu gehen. Ich habe es nur vorgeschoben, um es … um es einfacher zu machen.“ Nun war es raus. Zumindest die halbe Wahrheit.

„Einfacher zu machen? Emma, ich dachte, du hast mit mir Schluss gemacht, damit du dein Leben leben kannst. Damit du hier in München BWL studieren kannst. Mit Kevin“, presste er heraus. Die Speisekarte war ihm nun egal. Er funkelte mich zornig an. Seine Kiefermuskeln spannten sich an, seine Lippen waren zu schmalen Strichen zusammengepresst.

„Ich …es tut mir leid. Ich ... ich wollte dir nicht länger im Weg stehen. Deshalb bin ich gegangen“, murmelte ich und richtete den Blick auf die Buchstaben in der Karte, die mir nichts sagten.

„Nicht länger im Weg stehen? Mensch, Emma, jetzt sprich mal Klartext!“

„Ich habe gehört, wie Carol und Tom über Amerika gesprochen haben. Damals, auf dem ZMF.“ Ich blickte Joshua herausfordernd an. Aber der Groschen fiel nicht.

„Und?“

„Carol hat erzählt, dass du einen Deal mit den Oberbossen laufen hast. Keine Übersee-Konzerte, sonst bist du raus.“ Er lachte kurz laut auf, ungläubig, und vergrub die Hände in den Haaren. Er blickte sich hilfesuchend um. In diesem kurzen Moment schien es ihm den Boden unter den Füßen wegzuziehen.

Die Bedienung kam an unseren Tisch und holte Joshua in die Gegenwart zurück. Da wir gerade mit etwas anderem beschäftigt waren und beide keine Ahnung von der somalischen Küche hatten, bestellte Joshua eine Auswahl der beliebtesten Speisen. Für zwei. Und Tee.

„Und du dachtest, das hätte ich wegen dir getan“, ergänzte Joshua meine Ausführung. Ich nickte schwach und blickte in die flackernde Kerze. „Glaubst du nicht, dass du da einen Schritt zu weit gegangen bist? Selbst wenn das so gewesen wäre, diese Entscheidung hätte ich gerne selbst getroffen“, sagte Joshua tonlos.

„Ich weiß. Es tut mir leid.“ Er blickte aus dem Fenster und entfloh in ein Paralleluniversum, zu dem ich keinen Zutritt hatte. Die nächsten Minuten verbrachten wir schweigend. Ich traute mich nicht, ihn anzusprechen. Er sah so verletzt aus. So enttäuscht.

Ich drehte den Ring an meinem Finger und suchte nach den richtigen Worten. Wie sollte ich ihm klar machen, dass es ein Fehler gewesen war? Egal, was ich sagte, es würde danach aussehen, dass ich ihn zurückwollte. Das wollte ich. Mehr als alles andere. Aber ich wusste, dass ich meine Chance vertan hatte. Joshua würde mir keine zweite geben.

Die Bedienung stellte die dampfend heißen Teetassen mit Minzblättern vor uns ab. Wer war auf die Idee gekommen, bei dieser Hitze heißen Tee zu trinken? Aber vielleicht würde es die Kälte vertreiben, die sich wieder in mir einnisten wollte.

„Lucky ist schwul“, sagte er plötzlich und blickte mit einem abwesenden Blick an mir vorbei. Ich erschrak, als ich seine Stimme hörte und kippte fast das Teeglas um. Im letzten Moment hielt ich es fest.

„Ja, und?“ Lucky hatte es zwar nie direkt gesagt, aber irgendwie hatte ich immer gewusst, dass er schwul war. Ich hatte kein Problem damit. Warum auch?

„Als es damals bei uns losging mit den ganzen Gigs, der Reiserei, hatten wir ein Gespräch. Lucky war ziemlich durcheinander. Er hatte schon seit Jahren einen Freund, aber das wussten nur ganz wenige. Lucky ist ziemlich introvertiert. Er gibt nicht viel von sich preis. Jedenfalls ist Sven krank. Krebs. Er kämpft dagegen an, aber es sieht nicht gut aus. Lucky wollte für ihn da sein. Aber Sven wünschte sich, dass Lucky diese Chance wahrnahm. Es brach Lucky das Herz, ihn so oft allein zu lassen. Zu wissen, dass Sven im Krankenhaus liegt, während er selbst auf der Bühne steht und Applaus kassiert.“ Joshuas Augen wirkten traurig. Empathisch, wie er war, nahmen ihn solche Geschichten immer sehr mit. Ich legte den Kopf schief und beschloss, ihn nicht zu unterbrechen. Was Luckys Freund mit unserer Geschichte zu tun hatte, war mir allerdings noch schleierhaft.

„Jedenfalls saß ich mit Lucky an diesem einen Abend bei mir in der Wohnung. Es war klar, dass Sven den Krebs nicht besiegen würde, dass Lucky sich zwischen seiner Zukunft als Musiker und seinem Freund entscheiden musste. Und wir … na ja, ich habe ihm angeboten, vor ihm zu stehen, die Abmachung mit den Bossen zu treffen. Damit er zumindest bei Sven sein kann, wenn es zu Ende geht. Damit er ihm in den letzten Stunden beistehen kann.“ Joshuas Mundwinkel zuckte in Erinnerung.

„Das ist …“ Ich räusperte mich. „Uff, krasse Geschichte. Aber warum hat das Lucky nicht selbst gefordert.“

„Einen Arm abzuhacken ist leichter als den Kopf.“ Er lächelte schief, und ich wusste, was er meinte. Ein Drummer war leichter zu ersetzen als der Bandleader. Die Stimme, das Gesicht.

„Wussten die anderen davon? Marc? Tom?“ Beim Klang von Toms Namen beschleunigte sich mein Pulsschlag. Ich hoffte nur, dass ich nicht rot anlief.

„Nein. Niemand. Lucky wollte das nicht. Deshalb habe ich auch dir nichts davon erzählt. Dass er zu mir gekommen ist, hat ihn sicher verdammt viel Überwindung gekostet.“ Joshua lehnte sich in dem schmucklosen Holzstuhl zurück. Die Bedienung kam gerade mit einem wagenradgroßen Flechtkorb mit Deckel um die Ecke und steuerte auf unseren Tisch zu. Ich riss erstaunt die Augen auf.

Sie stellte das Ungetüm auf den Tisch und hob ohne großes Aufsehen den Deckel. Darunter verbarg sich ein Teppich aus Hirsefladen, wie uns die Bedienung akzentfrei erklärte. Darauf verteilten sich Lamm, Huhn, Kichererbsenmus und andere pampige Dinge, deren Namen ich augenblicklich wieder vergaß. Wirklich appetitlich sah es nicht aus, und ich blickte mich vergebens nach Besteck um. Die dunkle Schönheit erklärte uns mit einem Lachen, dass man mit den Fingern aß. Man riss sich einfach ein Stück des Hirsefladens ab und griff sich damit etwas von den breiigen Zutaten.

Ich warf einen misstrauischen Blick zu Joshua, er schien allerdings kein Problem damit zu haben, sich einen Teller mit mir zu teilen, aus dem wir mit den Fingern aßen. Er riss sich bereits ein Stück Fladen ab und tunkte es in das undefinierbar aussehende Essen.

„Und, was ist mit Sven? Ist er ...“, versuchte ich den Faden wieder aufzunehmen. Ich nahm den Fladen in die Hand und war erstaunt, dass er die Konsistenz eines Küchenschwammtuches hatte. Noch immer misstrauisch, versuchte ich zwischen Daumen und Zeigefinger ein Klümpchen Huhn aufzufischen.

„Tot? Nein. Ihm geht es … na ja, nicht sehr gut. Er liegt hier in München. Noch ein Grund, warum wir hier sind.“ Ich wurde hellhörig.

„Noch ein Grund?“

„Lach nicht. Aber ich nehme gerade Gesangsstunden.“ Er lächelte schief.

„Gesangsstunden? Du?“ Ich traute mich endlich, den Küchenschwamm samt Hühnchen in meinen Mund zu stecken und hielt inne. Tausend Farben explodierten auf meiner Zunge. Es war würzig, scharf und doch schmeckte es so dezent. Gierig riss ich ein weiteres Stück von dem Fladen ab und pickte mir ein kleines bisschen des Kichererbsenmuses.

„Ja. In der Kopfstimme hat sich so ein unsauberes Vibrieren eingeschlichen. Das kriege ich allein nicht mehr raus“, versuchte er zu erklären. Ich war mir sicher, dass alles an Joshuas Stimme perfekt war. Er musste mich verarschen. „Im Moment macht Lev Hatchinson Urlaub am Starnberger See. Er ist ein absoluter Profi und hat sich nach langem Hin und Her bereit erklärt, ein bisschen mit mir zu arbeiten.“ Er schien total aufgeregt zu sein. Seine Augen glitzerten, und die erdrückende Stimmung der letzten Minuten war wie weggewischt.

„Wir nehmen gerade ein neues Album auf.“ Sollte ich ihm sagen, dass ich es wusste? Beim Gedanken an Tom schoss mir unwillkürlich die Röte ins Gesicht. Was wusste Joshua von Tom und mir? Ich hoffte inständig, dass Tom dichtgehalten hatte. Allerdings hielt ich ihn nicht für so bescheuert, dass er seine neueste Errungenschaft direkt Joshua unter die Nase hielt.

„Mhm“, nuschelte ich daher nur und griff weiter zu den leckeren Speisen.

„Darüber wollte ich mit dir sprechen“, sagte Joshua geschäftsmäßig. Mein Puls beschleunigte.

„Über deine Platte? Ich versteh’ nicht“, gab ich zu.

„Na ja, es ist … es ist ein sehr persönliches Album. Die meisten Songs habe ich geschrieben, nachdem … na ja, nachdem du mit mir Schluss gemacht hast. Und irgendwie ist es mir wichtig, dass du reinhörst, bevor wir es in die Welt hinausschicken.“ Er griff in seine Hosentasche und streckte mir einen USB-Stick entgegen. Sollte ich ihm sagen, dass ich die Songs schon gehört hatte? In Toms Auto? Unsicher griff ich nach dem Stick.

„Aber ...“

„Kein Aber. Hör sie dir einfach an. Du brauchst mir nichts dazu sagen. Aber bitte, hör sie an.“ Seine Augen waren traurig und doch voller Zuversicht. Ich brachte es nicht übers Herz, ihm den Wunsch abzuschlagen und drehte den Stick unsicher in den Händen. Schließlich nickte ich zaghaft.

„Es … es gibt da noch etwas“, startete Joshua leise. Er schien nicht recht zu wissen, wie er anfangen sollte.

„Okay, raus damit“, versuchte ich ihn aufzumuntern. Dabei war mir gar nicht wohl bei den Möglichkeiten, die nun kommen konnten. Hatte er eine neue Frau kennengelernt?

„Ich … Ach, du wirst es ja eh rauskriegen, wenn du die Songs anhörst. Die meisten Lieder handeln von dir. Von uns.“ Verlegen fuhr er sich durch die Haare. Mein Atem stockte. Die Abrechnung. Natürlich. Wie sonst würde Joshua mit mir abrechnen? „Ich wollte, dass du es weißt. Vorher.“

„Joshua, ich ...“ Er verschloss meinen Mund mit seinem Zeigefinger. Die Berührung schmerzte wie tausend Nadelstiche. Und war wunderschön.

„Sag nichts. Es ist okay.“ Er lächelte mich schief an.

„Ist mein Song auch mit drauf?“ Ich konnte mich nicht daran erinnern, ihn in Toms Auto gehört zu haben. Aber das hatte natürlich nichts zu sagen.

„Du meinst Five?“ Ich nickte und spürte, wie mir bei der Erinnerung an das Lied ganz flau im Magen wurde. „Nein. Nein! Ich habe es seit dem Abend nicht mehr gespielt“, antwortete er leise.

„Oh, das ist schade. Es ist so ein grandios gutes Lied.“

„Ja, das stimmt. Hör zu, Emma, jetzt wo du weißt, dass es in dem Album um uns geht … Ich hätte da einen Wunsch.“ Er räusperte sich. „Ich möchte, dass du das Artwork machst.“ Seine Augen leuchteten vor Begeisterung. Mein Magen krampfte sich zusammen. Ich schlug die Augen nieder.

„Joshua, ich kann das nicht“, stammelte ich. Ich würde ihm jeden Wunsch erfüllen, aber das war eine Spur zu groß für mich. Steine. Ja, Steine könnte ich ihm anbieten.

„Doch, du kannst das. Es ist nicht so, dass du das allein machen sollst. Wir haben eine Spitzenagentur, und ich habe Jim deine Zeichnungen gezeigt. Er meinte, er will es mit dir versuchen.“ Ich schüttelte den Kopf. Was bedeutete das?

„Aber ich … Joshua, ich kann im Moment nicht zeichnen“, versuchte ich ihm klarzumachen. „Ich kann es einfach nicht.“ Wieder spürte ich die Tränen in mir aufsteigen. Alles, was mir Joshua in der letzten Stunde gesagt hatte, wirbelte unkontrolliert in meinem Kopf umher. Ein stechender Schmerz bohrte sich hinter meine Augen, und ich spürte Übelkeit in mir aufsteigen.

„Okay. Überleg es dir einfach, ja?“, sagte er sanft. Ich schlug die Augen nieder. „Magst du lieber gehen?“ Automatisch schüttelte ich den Kopf und ignorierte den Schwindel, die Kopfschmerzen und brennenden Augen. Nein. Ich wollte nicht, dass der Abend schon zu Ende ging. Ich war noch nicht bereit, wieder allein zu sein. Und Joshua verstand.

Josh & Emma - Portrait einer Liebe

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