Читать книгу Die Kunst ist das Einzige, was bleibt - Sinda Dimroth - Страница 10

Оглавление

Julia

1905–1923

Hermann Bode wurde am 21. August 1882 in Hannover geboren, er war der Sohn von Hermann Friedrich Bode und seiner Frau Auguste. Der Vater diente im Deutsch-Französischen Krieg 1870 / 71 als preußischer Ulan im Garnisonslazarett und durfte nach dem Baderexamen alle zahnärztlichen Operationen ausführen. In seiner Praxis für Zahnheilkunde lernte er Auguste Henneberg kennen und nahm sie wenig später zur Frau. Das Ehepaar Bode hatte vier Söhne, der älteste hieß Wilhelm und war sieben, Karl war fünf und Hugo drei Jahre alt, als Hermann geboren wurde. Die Familie wohnte in der Schmiedestraße 33, im Zentrum von Hannover, nicht weit entfernt von der Marktkirche und dem Flussufer der Leine. Die Praxisräume lagen im ersten Stock des Wohnhauses, die Familie bewohnte das zweite Geschoss und hatte drei ausgebaute Dachzimmer für Lehrlinge angemietet. Im Hochparterre befand sich das Ladengeschäft der Firma Wiegmann, die Nähmaschinen und Fahrräder verkauften. Die Wiegmanns hatten drei Kinder, Marie, Heinrich und Elisabeth. Ihre Wohnung lag hinter dem Verkaufsraum. Marie, die Älteste, wurde Mary gerufen, weil man in Hannover stolz darauf war, dass das Haus Hannover seit 1714 England regierte und Königin Victoria mit Albert von Sachsen-Coburg und Gotha vermählt war. Mary war vier Jahre jünger als Hermann und blickte bewundernd zu ihm auf. Als sie neun Jahre alt war, starb ihr Vater, und Hermann fühlte sich berufen, die Freundin von nun an zu beschützen. Nach der Grundschule besuchte er das Gymnasium Lyceum II und dann das Realgymnasium bis zum Abitur.

Auguste Bode war auf einem Bauernhof in Burgwedel aufgewachsen, sie war ein mütterlicher Typ und deshalb kamen die Patienten des Vaters zuerst in ihre Küche, um dann beruhigt und getröstet den Weg in das gefürchtete Sprechzimmer zu wagen, wo sie durch die geschickte Behandlung des Baders, der eine würdige und patriarchalische Ausstrahlung hatte, nicht enttäuscht wurden. Die Mutter besorgte den Haushalt und kümmerte sich um die Zahntechniker, zwei junge Leute, die im Haus wohnten und zusätzlich verpflegt wurden. Als die Praxis gut lief, versuchte der Vater, seine Frau von den Kostgängern abzubringen, aber sie wollte dabei bleiben, weil das Geld, das sie verdiente, ein Zuschuss zu ihrer Haushaltskasse war. Bei den Bodes mussten die Mahlzeiten reichhaltig sein. An den Sonntagen gab es saftigen Braten mit Beilagen und werktags frisches Gemüse, es schmeckte den Kindern nirgendwo so gut wie zu Hause. Der dünn ausgewalzte Zuckerkuchen und der schmackhafte Zwetschgenkuchen mit Eierguss ließen Mary und Hermann das Wasser im Munde zusammenlaufen. Im rückwärts gelegenen Garten befand sich eine Tischlerwerkstatt, in deren Lagerraum die Kinder spielen durften und im Treppenhaus hing eine Schaukel, mit der man weit über das Treppengeländer hinaus fliegen konnte. An den Waschtagen stand Auguste neben dem Dienstmädchen am Waschkessel, der mit Holz beheizt wurde. Wenn die Kinder morgens vor der Schule ihren Abschiedsgruß über die Kellertreppe hinab riefen, kam ihnen der dichte Nebel aus der Waschküche entgegen, und die Mutter erwiderte: »Geht mit Gott, aber geht!«

Die Großmutter in Burgwedel baute Leinen an, welches im Winter versponnen und anschließend im Haus zu Weißwäsche verarbeitet wurde. Sämtliche Kleidungsstücke wurden von den Frauen angefertigt, auch die Anzüge der Buben, die sie der Reihe nach vom Ältesten bis zum Jüngsten auftragen mussten. Hermann kam sich oftmals schäbig und ärmlich gekleidet vor, wenn er auf die modischen Anzüge seiner Mitschüler schaute. Der Vater legte einen militärischen Maßstab an das Auftreten der Söhne, er duldete nicht, dass sie sich in ihrer Haltung vernachlässigten. Durch die sparsame Wirtschaftsführung der Eltern entstand im Laufe der Zeit ein bescheidener Wohlstand. Die Mutter legte Wert darauf, dass nur gediegene Ware gekauft wurde. »Das Teuerste ist meist das Billigste«, sagte sie und die Söhne mussten zu ihrem Leidwesen feststellen, dass die Kleidung immer wieder repariert und gestopft wurde, bevor es etwas Neues gab. Man legte Wert auf Geselligkeit im Hause Bode, die Kinder durften Freunde einladen und zu den Geburtstagen der Eltern kamen mehr als 30 Verwandte zu Besuch. Sie versammelten sich nachmittags zu Kaffee und Kuchen und blieben bis zum Abendbrot. Dann tischte die Hausfrau das Beste aus ihrer Küche auf und drängte die Gäste dazu, ordentlich zuzugreifen, wie sie es bei ihrer Mutter gelernt hatte, die eine lebenslustige und großzügige Bäuerin war. Mit ihrer strahlenden Fröhlichkeit war Auguste der natürliche Mittelpunkt der Gesellschaft, während Vater Friedrich meist würdig und zurückhaltend in seinem Ohrensessel saß. Streitigkeiten zwischen den Söhnen wurden nicht geduldet, die vier Brüder verstanden sich gut, sie musizierten zusammen und Hermann trat schon als Jugendlicher mit seinen Reimen hervor. So schenkte er der Mutter folgendes Gedicht:

Sie ist gedrungen, voll und kräftig,erst schön im schlichten Arbeitskleid,in ihrem Hause stets geschäftig,doch brauchst du sie, hat sie auch Zeit.Sie hört dir zu und weiß zu raten,und zwischendurch, wie sich’s so hat,begießt im Herde sie den Bratenund streicht dem Kind die Haare glatt.

Es erfüllte die Eltern mit Stolz, dass sie genug Geld verdienten, um den Söhnen ein Studium an der Universität zu ermöglichen. Wilhelm studierte Medizin und wurde Arzt, Karl entschied sich für evangelische Theologie, um Pastor zu werden, und Hugo erlernte in Berlin den Beruf des Kaufmanns. Nach Beendigung seiner Ausbildung schickte ihn der Reifenhersteller Continental nach East London in Südafrika, wo er den Rest seines Lebens blieb. Keiner der Brüder wollte die Praxis des Vaters übernehmen. Dem Jüngsten ließen die Eltern keine Wahl, er musste Zahnmedizin studieren. Der Sturm und Drang verherrlichte das Originalgenie als Urbild des höheren Menschen und des Künstlers. Vor diesem Hintergrund wollte Hermann einen künstlerischen Beruf erlernen und Musiker werden. Dieses Ansinnen wurde vom Vater brüsk zurückgewiesen, er sprach von einer brotlosen Kunst, mit der man den Eltern zur Last falle. Kinder aus reichem Hause konnten Künstler werden, für Menschen, die von ihrer Hände Arbeit leben mussten, war die Kunst ein Luxus oder eine Tändelei für die Bourgeoisie.

Hermanns Berufsausbildung begann mit einer sechsmonatigen Lehrzeit in der technischen Werkstatt von Dr. Hausmann. Die vier Söhne hielten Briefkontakt mit der Mutter, sie waren gut darüber informiert, was in Hannover passierte. Auguste verlangte, dass sie ihre Wäsche nach Hause schickten, damit sie schonend gewaschen und rechtzeitig ausgebessert und ergänzt werden konnte. Wenn diese Pakete zurückkamen, enthielten sie köstliche Zugaben aus Mutters Backstube.

Die Wege von Mary und Hermann trennten sich für fünf Jahre, sie kam in ein Mädchenpensionat nach England und er ging zum Studium an die Universität Berlin und anschließend an die Universität München, wo er im Dezember 1902 das zahnärztliche Staatsexamen machte. Während dieser Zeit pflegten die beiden eine rege Korrespondenz. Hermann schickte der Freundin unter anderem wertvolle Bücher, um sich mit ihr über deren Inhalt auszutauschen. Mit zahlreichen Randbemerkungen versehen, wurden Nietzsches Zarathustra und die Fröhliche Wissenschaft hin- und hergeschickt. Die Jugendfreunde beschrieben ihre Konzert- und Theaterbesuche und ließen einander teilhaben an neuen Erkenntnissen zu Buddhismus und Astrologie. Im Vollgefühl ihrer Jugend vermochte ihnen der lutherische Glauben nicht mehr zu genügen und sie suchten nach anderen und neuen Vorbildern, die sie für zeitgemäß hielten. Der Sturm und Drang mit seinem innigen Sich-Einfühlen in die Natur war für beide die Grundvoraussetzung, um den Sinn des Lebens und das Wesen menschlicher Existenz begreifen zu können. Hermann und Mary glaubten fest daran, dass das schöpferische Individuum sein Erleben in eine künstlerische Form bringen kann, um eine bessere Lebensform für alle Menschen zu erfinden.

Bei einem Hausball der Wigmanns trafen sich die Freunde wieder, aus Mary war eine junge Dame der Boheme geworden. Von diesem Fest gibt es ein Foto, auf dem sie schlank und selbstbewusst in die Kamera blickt. Die 19-Jährige hat ein bodenlanges weißes Spitzenkleid mit hochgeschlossenem Kragen an. Auffallend breite schwarze Augenbrauen betonen ihre ernsten Augen, die mit einem dunklen Lidstrich umrandet sind. Die Nase wirkt schmal, der geschminkte Mund lächelt mit vollen Lippen. Marys Erscheinung löste bei Hermann ein erotisches Verlangen aus, das die Geste des Beschützers noch verstärkte. Die stolze Freundin entzog sich seinen Annäherungsversuchen, sie war an einer Eheschließung oder der Gründung einer Familie nicht interessiert. Mary wollte auf einer Bühne stehen und tanzen wie Isadora Duncan. Über all die Jahre hielt ihre enge Freundschaft aus Kindertagen und sie trafen sich jedes Jahr zum Weihnachtsfest im Elternhaus. Hermann übernahm eine zahnärztliche Vertretung in Freiburg und verbrachte seine Assistenzzeit in Vevey am Genfer See und anschließend in Mailand. Nur ungern kam er nach Hannover zurück, um bei dem Infanterie-Regiment Nr. 74 als Einjähriger zu dienen.

In dieser Zeit machten Wilhelm, Karl, Hermann und Mary zu Ostern eine gemeinsame Reise nach Dresden, wo sie die Frauenkirche, den Zwinger und das Grüne Gewölbe, die Schatzkammer August des Starken, besuchten. Sie standen zwischen verspiegelten Wänden, auf goldenen Konsolen wurden Elfenbein, Porzellan, Edelsteine und Perlmutt ausgestellt und Hermann wandte sich an die Freundin: »Von all dem Zuckerguss wird mir übel, lass uns irgendwas Modernes in der Gemäldegalerie anschauen.«

Diesen Ausspruch hörte ein Aufseher und sagte: »Da kann ich Ihnen eine Empfehlung geben. In der Berliner Straße in Friedrichstadt haben die jungen »Brücke«-Künstler ihr Atelier, fahren Sie doch einfach mal hin.«

In einem leer stehenden Fleischerladen hatten die Künstler Erich Heckel, Ernst Ludwig Kirchner und Karl Schmidt-Rottluff ihre Bilder untergestellt und Kirchner wohnte dort. Erfreut über die zahlreichen Besucher zeigte er seine Gemälde und die seiner Kollegen. Ein wilder Reigen von Motiven bot sich dem Auge, die figurative Malerei war stark konturiert und in kräftigen Farben völlig unakademisch ausgeführt. Es gab Landschaften, ein Zirkusbild und Aktbilder, von denen das, eines nackten Mädchens besonders provokant wirkte. Hermann fragte: »Haben sie eine Akademie besucht?«

Kirchner gab zur Antwort: »Nein, wir sind Autodidakten und halten das für unsere Stärke!«

Auf dem Tisch lag Nietzsches Zarathustra und Mary jubelte erfreut:

»Sie lesen mein Lieblingsbuch! Und was sagen Sie zu dieser Lektüre?«

Kirchner erwiderte ernst: »Unsere Gruppe nennt sich Brücke, weil es im Zarathustra heißt: »Ihr seid nur Brücken: mögen Höhere auf euch hinüber schreiten!« Wilhelm wandte sich um und zeigte auf ein Mädchenbild: »Ich frage mich, was so ein Jungfräulein empfindet, wenn es sich völlig entkleidet den Blicken erwachsener Männer darbietet?«

Hugo mischte sich ein: »Das sind erotische Brücken, die der Fantasie und dieser Art von Kunst die Aufmerksamkeit garantieren.«

Kirchner erwiderte ungerührt: »Das haben Sie richtig erkannt, wir befassen uns bewusst mit Tabus, um die Menschen zu beunruhigen.« Vor dem Laden platschte ein unerwarteter Regenschauer hernieder, deshalb drängte Karl zum Aufbruch. Hermann wollte eines der Aktbilder von Otto Mueller kaufen und erkundigte sich nach dem Preis, der nicht hoch war. Nachdem er selbst nicht genügend Geld dabei hatte, halfen ihm seine Brüder aus und Kirchner rollte die 65 cm hohe Kreidezeichnung in eine Papprolle. Zum Abschied hinterließ Bode seine Adresse und bat darum, bei einer Brücke-Ausstellung eingeladen zu werden. Alle vier winkten zum Abschied und Karl sagte zu Mary: »Das war eine Entdeckung, ich habe jetzt keine Lust mehr auf die Porzellansammlung von August dem Starken.«

Im April 1905 wurde Hermann zurück ins elterliche Haus befohlen, um in die Praxis des Vaters einzutreten, die er später einmal übernehmen sollte. In Hannover traf er sich mit Peter Bade, den er während des Studiums in München kennengelernt hatte. Der Freund wollte Facharzt für Orthopädie werden und hatte eine Stelle im Annaspital Hannover angetreten. Er war mit Constanze Peipers verheiratet und stellte Hermann bei einer Abendeinladung deren jüngere Schwester Julia vor. Der angehende Zahnarzt verliebte sich in die sanftmütige junge Frau aus gutem Hause. Am 29. Juni 1906 fand die kirchliche Trauung von Julia Peipers und Hermann Bode in Remscheid statt. Auf dem offiziellen Hochzeitsfoto steht der 24-jährige Ehemann hinter seiner Frau, gekleidet in einem Frack mit hohem weißen Stehkragen und einer grauen Weste. Seine blauen Augen wirken ernst und über dem schmalen Mund trägt er einen kurz geschnittenen Schnurrbart. Wohl aus Verlegenheit steckt seine Hand in der Hosentasche, während sich seine jungfräuliche Frau mit entblößten Schultern an ihn lehnt. Die 20-jährige Braut trägt ein weißes Spitzenkleid, das in Volants von der nackten Schulterpartie bis zum Gürtel fällt. Von dort bis zum Boden ist der durchsichtige Rock mit zarten weißen Blumen bestickt. Das lange schwarze Haar trägt Julia zum Knoten gebunden, ihre großen braunen Augen sind ungeschminkt, ihr Mund halb geöffnet, während sie ihren Kopf dem Geliebten zu wendet.


So wurden die beiden unerfahrenen Menschen mit den Segenswünschen der Eltern in ein gemeinsames Leben entlassen. Auf einer blumenumkränzten Glückwunschkarte fand sich der Spruch: »Lasst nie die Sonne über eurem Ärger untergehen.« Nach der Hochzeit zog das Paar in eine großzügige Parterrewohnung mit Garten an der Landwehrstraße. Die Eltern schenkten ihnen geschnitzte Eichenmöbel, Erbstücke, mit denen sie sich einrichten konnten. Vater Bode trennte sich von seiner geliebten Geige und Vater Peipers gab das Geld für einen Konzertflügel, damit seine Tochter täglich üben konnte.

Als Julia elf Jahre alt war, starb ihre Mutter, deshalb wurde sie nach Vevey am Genfer See auf ein Schweizer Mädchenpensionat geschickt, um eine standesgemäße Erziehung zu bekommen. Neben dem Französisch Unterricht, erhielten die Mädchen Klavierstunden und lernten Kochen, man brachte ihnen bei, dass die maskuline Intelligenz der femininen überlegen sei. Wieder zu Hause in Remscheid, bat die 17-Jährige den Vater, sie in Frankreich studieren zu lassen. Bei der Familie Arnaud lernte sie die Freiheits- und Gleichheitsgedanken der Revolution kennen und befasste sich mit französischer Literatur. Ihr Lieblingsschriftsteller war Romain Rolland, von dem sie sämtliche Bücher im Original las. Für Julia waren Goethes Wahlverwandtschaften und die deutsche Prüderie der Maßstab für Erotik. Die unbekümmerte Beschreibung sexueller Handlungen, die ihr in der französischen Literatur begegnete, trieb dem jungen Mädchen die Schamesröte ins Gesicht. Um die englische Sprache zu erlernen, kam die Studentin mit 19 Jahren für ein Semester nach England. Sie war eine anmutige, auf ansprechende Weise bescheidene Erscheinung mit langen schwarzen Haaren und tiefgründigen Augen. Zahlreiche Liebesbriefe und Fotos von Philip Routledge lassen darauf schließen, dass er ein Verehrer war, den sie nicht erhörte. Julia verliebte sich in Hermann Bode und wurde in ihrem 20. Lebensjahr seine Ehefrau.

Mit dem Hochzeitstag erwarb die Rheinländerin die Staatsbürgerschaft Preußens. Kaiser Wilhelm II. aus dem Hause Hohenzollern war der oberste Landesherr und regierte das Deutsche Reich. Eine Gleichberechtigung von Mann und Frau gab es in Deutschland nicht. Die Frauen konnten ohne Zustimmung des Mannes nicht arbeiten, ihren Aufenthalt frei bestimmen, oder ein eigenes Bankkonto besitzen. Dem Mann stand das sogenannte Letztentscheidungsrecht zu. Die Mitgift, die die Frau von den Eltern zur Hochzeit bekam, ging in das Verfügungsrecht des Gatten über, sie konnte über ihr eingebrachtes Gut nur mit Einwilligung des Ehemannes verfügen.

Julia begegnete ihren Schwiegereltern mit großer Ehrerbietung und war ein gern gesehener Gast bei Auguste. Hermann eröffnete seine eigene Zahnarztpraxis in der Georgstraße, weil er die Praxis des Vaters mit ihrer veralteten Technik nicht übernehmen wollte. Peter Bade wurde Chef der chirurgisch-orthopädischen Abteilung des Annastiftes und wohnte mit Stanzi nicht weit entfernt, sodass sich die Schwestern mehrmals die Woche sehen konnten. Auch Mary kam regelmäßig zu Besuch. Sie und Julia sahen sich zum Verwechseln ähnlich, waren aber vom Gemüt her sehr verschieden. Die Jugendfreundin wirkte selbstbewusst und temperamentvoll, während Julia schüchtern und in sich gekehrt war. Wenn Mary mit Hermann über die Wissenschaft der kosmischen Gesetze sprach, die mit ihrer Energie Einfluss auf das irdische Leben ausüben, hörte Julia schweigend zu. Um dem Mysterium des Weltraums näherzukommen, erwarb Bode die mathematischen und astronomischen Grundkenntnisse, die man benötigt, um die Umlaufbahn der Planeten zu bestimmen. Dieses Studium führte ihn von der Astronomie zur Astrologie und der Berechnung eines Horoskops. Im Weltbild von Hermann und Mary hatte jeder Mensch seinen Platz in der Ordnung des Alls einzunehmen, um voll Dankbarkeit die Wunder der Schöpfung und des Lebens zu erfahren.

Neun Monate nach der Hochzeit von Julia und Hermann wurde im März 1907 ein Mädchen geboren. Es war eine Hausgeburt, deshalb hatte der werdende Vater eine Hebamme, eine Säuglingsschwester und ein Dienstmädchen namens Pauli eingestellt. Die Säuglingsschwester verließ die Familie nach drei Monaten, während Pauli schon bald zur Familie gehörte. Der Vater überwachte penibel die Hygienemaßnahmen, weil er im Studium gelernt hatte, was Bakterien bei einer Wöchnerin anrichten können. Als Hermann sein erstes Kind in den Armen hielt, war er glücklich und dankbar über dieses kleine Lebewesen, das Julia ihm unter Qualen geschenkt hatte. Nach der Mutter Jesu, dem Ideal der Mutter Gottes, nannte er das Mädchen Maria. Zur Geburt überreichte Hermann seiner Frau einen wertvollen Schmuckkasten, in dessen Deckel eine drehbare Bronzeplatte mit Lebensbaum eingelas-

sen war. Rechts und links vom Stamm waren ihre Namen eingraviert, darunter stand: »In Liebe und Treue«.

Hermann wollte sein Kind nicht taufen lassen und erklärte dies seinem Bruder Karl, der Pastor war:

Mein lieber Bruder, Ich bin über Nietzsche und Haeckel hinausgegangen, weil sie mir beide den Weg ins Positive, nach dem ich schrie, nicht zeigen konnten. Das Leben ist das Maß aller Dinge. Nach ihm erkenne ich Gut und Böse, in dem, was für mich lebensfördernd oder lebenshemmend ist. Ich fühle mich so als Individualität im Glauben an das Leben. Ich will mit voller Kraft für die freie Entwicklung des Einzelwesens eintreten, soweit diese Entwicklung nicht das Leben Vieler hemmt. Ich will mit weitem Blick und Herzen den Glauben Vieler gelten lassen, solange er nicht wertvolleres mit seinen Dogmen zerstört. Ich will eine Weiterentwicklung der Menschheit, aber kein Endziel, das nur zu fern liegt, als dass wir uns den Kopf darüber zerbrechen könnten. Aber das ist mir doch zur festen Überzeugung geworden, dass unsere Entwicklung nicht über die Erde hinausgeht. Über die Punkte, die ich gegen das Christentum habe müssen wir ein andermal uns mündlich aussprechen. Herzlichst dein Bruder Hermann

Hannover den 22. Mai 1907 bei der Schlosswache

Ernst Haeckel (1834–1919) war ein deutscher Mediziner, Philosoph und Freidenker, der die Ideen von Charles Darwin ausbaute. Er war ein strenger Atheist und lehnte jeden Schöpfungsakt ab, sein Monismus war der einer durchgeistigten Materie; er sah Gott als identisch mit dem allgemeinen Naturgesetz und vertrat einen durch Goethe und Spinoza inspirierten Pantheismus. Haeckel sah die Biologie in vielem mit der Kunst verwandt. Seine »Kunstformen der Natur« gehörten wie »Brehms Tierleben« in jeden Haushalt. Die darin enthaltenen Abbildungen beeinflussten die Kunst des beginnenden 20. Jahrhunderts vor allem den Jugendstil. (Wikipedia)

Die blonde, blauäugige Maria war noch kein halbes Jahr alt, als Julia erneut schwanger war und im November 1908 mit Zwillingen niederkam. Bei der Hausgeburt erblickte zuerst ein gesundes Mädchen das Licht der Welt, das Zweitgeborene war nicht lebensfähig. Bode überlegte sich die Namen seiner Kinder sehr genau, hierfür studierte er das Deutsche Namensbüchlein, in dem die Bedeutung und Herkunft einzelner Silben erklärt wurde. Er notierte: »Zuerst waren es romantische Gedanken, die Gefallen fanden an der Seltsamkeit des Vergangenen und am herben, tiefsinnigen Klang. Man verwandte die alten Namen so wie man künstliche Ruinen baut und wob auch wohl geschichtlichen Gehalt in diesen Gedankenkreis mit ein. Die Wesensart des Kindes wird in seinem Namen aufgerufen, sodass der Name zur Kennung und zum Wegweiser für das erkennende Selbst und zu ihm hin wird. Sprache prägt unser Denken.«

Erkengard war ein zartes Baby, mit braunen Augen und braun gelockten Haaren. Der Vater hatte sich einen Jungen gewünscht und war enttäuscht. Die Wöchnerin sollte von seinen Gefühlen nichts bemerken, deshalb schenkte er ihr zur Geburt des zweiten Kindes einen von Brillanten umkränzten Saphirring.

Julia hatte sich in den Augen ihres Mannes in eine vegetative Pflanze verwandelt, die Nahrung für ihre Kinder war. Ihm fehlten die geistreichen Gespräche über Literatur, die er früher mit ihr hatte führen können. Um dem Geschrei von zwei Babys zu entgehen, suchte Hermann an den Wochenenden vermehrt den Kontakt zu seinem Bruder, mit dem er ins Theater ging oder Kunstausstellungen besuchte, während Julia ihre Freizeit mit ihrer Schwester verbrachte. Stanzi half ihrem Mann in der orthopädischen Praxis, danach musizierten die Frauen gemeinsam und besprachen die neuesten Entwicklungen in der Kindererziehung, über die sie sich viele Gedanken machten. Mit zwei Kleinkindern war Julia vollauf beschäftigt, als sie 1909 feststellte, dass sich wiederum ein neuer Erdenbürger in ihrem Bauch eingenistet hatte. Dieses Mal musste es der von Hermann gewünschte Sohn werden. Im Mai 1910 wurde Elsa in diese Welt geboren. Sie hatte die braunen Augen und schwarzen Haare der Mutter. Zur Geburt der dritten Tochter bekam Julia ein silbergefasstes Büchlein geschenkt, das sie an einem Lederband um den Hals tragen sollte. Bode wollte, dass alle Aufträge, die er seiner Frau erteilte, in diesem Notizbuch festgehalten würden, damit sie über den Tag nicht in Vergessenheit gerieten.

Die frühe Kindheit empfanden die Mädchen als besonders harmonisch. Sie hatten Freude an dem großen Garten, in dem es einen Sandhaufen und eine Schaukel gab. Im Haus wurde viel Musik gemacht, Hermann spielte Geige und Julia begleitete ihn auf dem Flügel. Wie Friedrich der Große spielte der Vater außerdem noch Querflöte und komponierte eigene Musikstücke. Jeden Abend, wenn er von der Praxis nach Hause kam, wurde gemeinsam gesungen; so lernten die Töchter ihre Stimme im Kanon zu halten und konnten die eingeübten Kinderlieder mehrstimmig vortragen. Bevor zur Nacht das Licht gelöscht wurde, bekamen sie eine Geschichte vorgelesen. Das Buch Tausendundeine Nacht enthielt märchenhafte Illustrationen und mit der Erinnerung an diese Bilder schliefen die Kinder ein und träumten von Scheherazade und dem Sultan, von schwarzen Sklaven und fliegenden Teppichen. Die Märchen des Hans Christian Andersen belebten ihre kindliche Fantasie. Sie konnten nicht genug bekommen von der Nachtigall, die so wundervoll sang: »Da bekam der Tod Sehnsucht nach seinem Garten und schwebte, wie ein kalter, weißer Nebel, aus dem Fenster.«

Hermann komponierte lustige Kinderlieder und beschenkte die Töchter mit Selbstgereimtem:

Zum Frühlingssonnenschein geh nicht auf die Wiesen,weil da die Blümlein aus dem Boden schießen.Auch in den Wald zu gehen sollst du nicht wagen,weil dort die Bäume wie toll ausschlagen.Drum willst du sicher sein, ich rate dir ehrlich,schließ dich ins Zimmer ein, draußen ist’s gefährlich!

Das Musikzimmer lag unter dem Kinderzimmer und die drei Mädchen hörten zu, wenn die Eltern musizierten. Manchmal lagen sie mit dem Ohr auf dem Fußboden und lauschten, um nur ja keinen Ton zu versäumen. Zur damaligen Zeit gab es kein Radio, keinerlei Musik, die nicht direkt ausgeübt wurde, nicht nur deshalb pflegte und schätzte man die Hausmusik. Das Wohnzimmer war mit Eichenmöbeln eingerichtet, die mit pflanzlichen Motiven verziert waren und aus dem 14. Jahrhundert stammten. Gleich neben der Tür stand der grün glasierte Jugendstilkachelofen, der vom Flur aus beheizt wurde. Hinter seinem Schmiedeeisentürchen wurden im Winter die Bratäpfel gegart und verströmten einen aromatischen Duft. Mit Preiselbeeren gefüllt kam diese Köstlichkeit als Nachspeise auf den Tisch. Von den Spaziergängen brachte Julia Wiesenblumen und Unkräuter mit nach Hause und arrangierte sie in einem irdenen Krug, den sie auf eine handgewebte Tischdecke stellte. Aus samtigen Stoffen nähte sie Kleider für ihre Töchter und deren Puppen. In einer Ecke des Wohnraums stand ein niedriger Kindertisch mit drei kleinen Stühlen. Dort kochten die Mädchen auf einem Blechherd kleine Mahlzeiten oder servierten ihren Püppchen Tee aus winzigen Porzellantassen. Die Großeltern schenkten ihnen ein Puppenbett aus Schmiedeeisen und einen Leiterwagen. Fels, Hermanns Airedale Terrier, konnte mit einem Ledergeschirr vor den Wagen gespannt werden, dann zog die Kinderschar singend in den nahegelegenen Park, in dem sie Elfen und Kobolde jagten.

Nach dem dritten Kind war Julia füllig geworden, ihre großen braunen Augen wirkten sanftmütig, ihre Gestalt sehr weiblich und weich und sie umsorgte ihre Töchter und kochte mit Leidenschaft. Jeden Morgen ging sie auf den Markt und holte frisches Gemüse und Obst. Die Landfrau wickelte die Ware in eine alte Zeitung ein, die Julia zu Hause glatt strich und las. Stundenlang probierte sie neue Rezepte aus und konnte beim Abschmecken ausgefallener Saucen die Zeit vergessen. Wenn die Kinder nicht folgen wollten, dann drohte die Mutter mit einem Kleiderbügel. Man hörte sie nie herumschreien, als letztes Erziehungsmittel kniff sie kräftig in den Arm des Kindes und sagte: »Wirst du wohl!«

Kam eine Person, die Julia nicht leiden konnte in die Wohnung, dann riss sie, kaum war diejenige aus dem Haus, alle Fenster und Türen auf und wedelte mit dem Küchentuch die fremde Hinterlassenschaft zum Tempel hinaus. Es gab nur ein Badezimmer, in dem auch die Toilette stand. Unangenehme Gerüche verbrannte sie mit mehreren Streichhölzern oder einem Fidibus. Sollten die Kinder nicht verstehen, was die Eltern sich zu sagen hatten, dann sprachen sie Französisch. Julia hatte eine sonderbare Angewohnheit: Sie ließ durch die gespitzten Lippen hörbar die Luft entweichen, es war kein Pfeifen, aber man spürte einen Luftzug. Maria mochte das nicht und sagte dann ärgerlich: »Hör auf, mich anzupusten, ich bin doch keine heiße Kartoffel.« Von der Ältesten derart zurechtgewiesen, füllten sich Julias Augen mit Tränen. Sie war sehr empfindsam und immer ein bisschen traurig.

Vater Hermann erschien jeden Morgen mit Anzug und Krawatte, so fühlte er sich standesgemäß gekleidet. Täglich nahm er ein Bad und legte großen Wert auf Körperpflege, Hygiene und eine würdevolle Erscheinung. Seine Schlafanzüge waren aus weißer Seide, das kühle glatte Material hatte eine Sinnlichkeit, die für ihn der Inbegriff von Luxus war. Er scheitelte das Haar mit Brillantine und nach der Rasur klopfte er sich ein französisches Duftwasser auf die Wangen, danach polierte er seine Fingernägel mit einem Lederbalg. Bode war ein pedantischer Mensch, alles musste exakt nach seinen Vorstellungen gemacht werden. Julia und die Kinder hatten sich unterzuordnen, um in den Genuss seiner liebevollen und fürsorglichen Seite zu kommen. Pünktlich um Viertel vor neun verließ der Zahnarzt das Haus und ging in die Praxis, gegen sechs Uhr abends blickten die Mädchen schon erwartungsvoll aus dem Fenster und wenn der Vater um die Ecke bog, dann sprangen sie ihm entgegen, als hätten sie den ganzen Tag sehnsüchtig auf ihn gewartet. Wenn das Abendbrot beendet und abgeräumt war, rauchte der Hausherr eine selbstgedrehte Zigarette, pflückte die Tabakkrümel von der Lippe und schwenkte den französischen Rotwein in einem bauchigen Kristallglas, bevor er daran nippte.

Im Feuilleton des »Hannoverschen Anzeigers« traf Bode auf einen Artikel von Karl Brandler-Pracht, in dem er über die Astrologie schrieb: »Es ist nicht nur nötig zu wissen, was uns in der Zukunft treffen wird, sondern auch, wann es uns treffen wird, damit man es für seinen Lebensweg in Betracht ziehen kann.« Auf dem Weg in die Praxis kaufte er Band I der Astrologischen Kollektion, in der der Autor die astronomischen Grundbegriffe und die genaue Berechnung der Sternkonstellationen erklärt. Zur Bestimmung der Position und der Umlaufbahn von Planeten waren komplexe Formen von Geometrie und Trigonometrie zu erlernen, hierbei ließ sich Bode von einem Mitarbeiter der Sternwarte beraten. Nachdem er die Konstellationen beherrschte, erstellte er die Geburtshoroskope seiner Kinder und übte an ihnen die Interpretation.

Als Demonstration gegen die rein verstandesmäßige Haltung der Aufklärung, entfesselte die Literatur von Sturm und Drang einen Gefühlsüberschwang, der sich eine innige, umfassende und einfühlende Nähe zur Natur ersehnte. Der Stimme seines Herzens folgend suchte und fand Bode ein Grundstück am Steinhuder Meer, das er 1911 kaufte. Der naturbelassene Flecken Erde hatte einen schwankenden Untergrund und war mit Schilf zugewachsen. Viele Ladungen Kies, Erde und Sand wurden mit Pferdefuhrwerken angekarrt und in den Sumpf geschüttet, bis man ein Holzhaus auf Pfählen errichten konnte. Das Häuschen hatte eine große überdachte Veranda mit Sitzplatz und ein Wohnzimmer mit Blick aufs Wasser. Es gab eine Küche und zwei Schlafzimmer. Das Trinkwasser wurde vor der Küchentüre mit einer Pumpe aus dem Boden gesaugt. Wenn die Bodes im Frühjahr das erste Mal in ihr Feriendomizil kamen, holten sie die Matratzen auf einem Bollerwagen aus dem Dorf. Über den Winter kamen die Bettsachen zum Bauern, um nicht feucht oder von Mäusen zerfressen zu werden. Die Wände waren himmelblau getäfelt und unter der Decke schwebte eine ausgestopfte graue Möwe mit harten Kulleraugen und weitgespannten Flügeln. Das Licht kam von einer Petroleumlampe. In den Zimmern roch es immer ein wenig moderig, deshalb standen die Fenster und Türen meistens offen und Julia hatte große Angst davor, dass eines ihrer Kinder ins Wasser fallen und ertrinken könnte.

In Steinhude war alles auf den Wassersport eingestellt. Auf dem Dachboden hingen die Segel an Flaschenzügen und das Segelzubehör befand sich in einer blauen Holzkiste. Ein kleines Ruderboot lag umgedreht am Ufer, mit diesem stakte der Vater zu seinem Segelschiff, welches außerhalb des Schilfgürtels an einer Boje vertäut war. Im Boot stehend, mähte er jedes Wochenende eine Schneise bis ins tiefe Wasser, dabei stöberte er Enten, Taucher und Vögel auf, die vor dem Eindringling auf der Flucht waren. Die Mädchen liefen barfuß, sie hatten weiße Kleider an und ihre langen Haare waren jeweils mit einer farbigen Schleife zusammengebunden. Die drei wurden in eine strenge Zucht genommen, im täglichen Wechsel hatten sie Bootsdienst, Gartendienst oder Küchendienst, den sie am wenigsten mochten. In den Herbstferien spielten die zahlreichen Kinder der Strandhausreihe Verstecken mit Anschlag, dabei fiel regelmäßig einer von ihnen ins Wasser.

Die Fischer standen in ihren schwarzen Torfkähnen, die sie mit langen Stangen oder mit einem rechteckigen Segel vorwärts bewegten.

An einem sonnigen Herbsttag entdeckte Julia das Fischerboot in der Ferne und signalisierte der Besatzung mit beiden Armen zuwinkend, dass sie an Land kommen sollten. Als das Schiff näher kam, sah man, dass die Männer lange geschwungene Meerschaumpfeifen im Mund hatten, aus denen es ordentlich qualmte. Sie stakten an den Steg und brachten einen Eimer mit Aalen an Land. Die Kinder schauten sich das Gewimmel der schlangenartigen Körper an, dabei stieß Maria den Eimer um. Die ganze Brut verkroch sich eilig unter dem Haus, welches auf Pfählen stand. Bode legte sich auf den Bauch und griff nach dem glitschigen Gewürm, während die Mädchen schreiend vor Aufregung um ihn herum hüpften. Er erwischte zwei lange Aale und stand auf, um sie zurück in den Eimer zu geben, dabei meinte er lachend: »Ich fühle mich wie Laokoon, der mit den Schlangen kämpft.«

Julia kaufte zwei Aale, daraufhin bestiegen die Männer ihren Kahn und segelten, eine nach Tabak duftende Rauchwolke hinter sich herziehend, davon. Hermann formte mit Zeigefingern und Daumen ein Rechteck und sagte: »Das gäbe ein wundervolles Bild, Elsa, hol schnell den Fotoapparat.« Er arrangierte Julia und die drei Mädchen auf dem umgedrehten Ruderboot, der Wind zerzauste ihr Haar, während im Hintergrund die untergehende Sonne den silbrigen See in ein rötliches Licht tauchte. Die bildliche Wiedergabe von Sommer, Sonne, Kindheit und See wurde zur Allegorie für die Sehnsucht nach einer heilen Welt. Der Vater ließ das Bild vergrößern und hängte es in seiner Praxis auf.

Im Hochsommer verbrachte die Familie so manche Nacht mit der Beobachtung des Sternenhimmels, der sich tiefblau bis zum Horizont über den See wölbte. Eingewickelt in ihre Kamelhaardecken, lag sie in Liegestühlen und blickte bei völliger Dunkelheit in Richtung Nord-Osten. Dem ausgestreckten Zeigefinger des Vaters folgend, suchten die Mädchen neben der Kassiopeia das Sternbild des Perseus und hörten ihn sagen: »In der ersten Augusthälfte kann man viele Meteoriten, die sogenannten Perseiden, beobachten. Die Erde kreuzt zu dieser Zeit die Bahn eines Kometen der Staub und Sand verliert, wenn er der Sonne nahekommt. Diese Teilchen bringen die Luftmoleküle zum Leuchten und verglühen in der Erdatmosphäre, deshalb sieht man einen Funken, den man Sternschnuppe nennt. Von alters her kann man sich bei jeder Sternschnuppe etwas wünschen.« Bode legte eine große Sternenkarte in die Wiese und leuchtete mit der Taschenlampe auf einzelne Sternbilder, die seine Töchter am Himmel suchen sollten. Er schickte ihre Gedanken auf eine lange Reise hinaus ins All: »Die Milchstraße ist die Galaxie, in der sich unser Sonnensystem mit der Erde befindet. Der Blick in den gestirnten Himmel ist immer ein Blick zurück in die Vergangenheit. Das Licht der allernächsten Sterne braucht Lichtjahre, bis es bei uns ankommt, und einige sind längst erloschen, wenn wir sie sehen.« Es wurde geflüstert, so beeindruckend war der unendliche Raum, in dem sich die Erde mit ihren Bewohnern um die Sonne drehte. Der Vater raunte: »Wenn in der Zukunft euer Gemüt von Kummer und Sorgen getrübt wird, dann sollt ihr am nächtlichen Himmel acht Sterne suchen, beim achten könnt ihr dem Weltraum den Auftrag erteilen, euer Problem zu übernehmen.«

Manchmal schlief Elsa in Julias Armen ein, dann nahm der Vater die Schlafende vorsichtig auf und brachte sie ins Haus. Nachdem auch die beiden größeren in ihren Kojen lagen, sagte Maria: »Der Weltraum ist mir unheimlich, ich stelle mir vor, wie die Erdkugel mit all den Menschen durch den luftleeren Raum rast, bis sie eines Tages mit einem Meteoriten zusammenstößt und wie ein Luftballon zerplatzt.« Bode setzte sich auf einen Hocker, um seine Tochter mit der langen Geschichte der Astronomie zu beruhigen: »Seit Jahrtausenden blicken die Menschen in den Himmel, in dem sie ihre Götter vermuten. Schon in Mesopotamien, dem Land zwischen Euphrat und Tigris, kannte man die Einteilung des Himmels in Tierkreiszeichen. Die Namen der Menschen sind verklungen, die Städte zu Staub zerfallen und da wo einst Felder und Gärten erblühten, ziehen heute Nomaden mit ihren Tieren durch die Wüste. Die Ägypter und später die Griechen gaben den Sternen Namen und dachten sich anhand der Mondphasen und des Sonnenjahres den Kalender aus. Wir sind nur ein Sandkorn im großen Getriebe des Weltalls, das sich ohne unser Zutun stetig weiter bewegt, du kannst getrost deine Augen schließen.«

Als die Sommerferien vorbei waren, kam Mary zu Besuch und die ganze Familie versammelte sich an dem alten Eichentisch, um zu hören, was die Tänzerin zu berichten hatte. Julia machte mit Hackfleisch gefüllte Pfannkuchenröllchen, dazu servierte sie einen Rapunzelsalat, während Hermann zur Feier des Tages eine Flasche »Moseltröpfchen« aus dem Keller holte. Mary warf ihre schwarzen Haare zurück und erzählte: »Wie ihr wisst, besuche ich die Tanzschule von Rudolf Laban. Wir wohnen in kleinen Hütten auf dem Monte Verita, einem verwilderten Grundstück über dem Lago Maggiore. Da hat sich eine Künstlerkolonie zusammengefunden, die im Garten Gemüse anbaut und sich vegetarisch ernährt. Bei Hitze tragen wir keine Kleider und tanzen in der Natur, mit dem Sonnenuntergang als Hintergrund. Laban ist ein außergewöhnlicher Lehrer. Er veranstaltet Vorführabende für Freunde, habt ihr keine Lust eure Sommerferien im Tessin zu verbringen?«

Bode meinte: »Das ist mit den Kindern nicht zu machen, vielleicht komme ich alleine nach Askona.«

Julia nickte und Mary fuhr fort: »Aus Zürich kommen Künstler zu Besuch, die sich Dadaisten nennen. Ich habe Tristan Tzara und Hugo Ball kennengelernt, die haben Lautgedichte vorgetragen, und mit Sophie Taeuber und Hans Arp habe ich mich angefreundet. Die Dadaisten wollen rücksichtslos Unbekanntes erproben, die Zerstörung des Sinnzusammenhangs im Kunstwerk entspricht jedoch nicht meiner Vorstellung von Kunst.«

Mary holte eine Zeitung aus ihrem Mantel. »Der Künstler Marinetti hat ein futuristisches Manifest veröffentlicht, das uns sehr beschäftigt. Die Übersetzung lese ich euch vor:

»Ein aufheulendes Auto ist schöner als die Nike von Samothrake. Wir wollen den Krieg verherrlichen – diese Hygiene der Welt, die schönen Ideen für die man stirbt und die Verachtung des Weibes. Wir wollen die Museen, die Bibliotheken und jegliche Akademien zerstören und gegen den Moralismus, den Feminismus und die Feigheit kämpfen, welche auf Zweckmäßigkeit und Eigennutz beruhen. Schon zu lange ist Italien ein Markt von Trödlern. Wir wollen das Land von den unzähligen Museen befreien, die es wie Friedhöfe über und über bedecken. Museen sind öffentliche Schlafsäle, in denen man für immer neben verhassten oder unbekannten Wesen schläft! Museen sind absurde Schlachthöfe für Maler und Bildhauer, die sich entlang der umkämpften Ausstellungswände, gegenseitig mit Farben und Linien abschlachten.«

Hermann runzelte die Stirn: »Aus der Sicht des Revolutionärs zählen nur Taten. Mir stellt sich die Frage, wo die Grenze verläuft, zwischen dem Aufruf zur Gewalt und der Tätlichkeit, die ich zur Durchsetzung von Kunst ablehne.«

Julia meinte: »Mich erschreckt die Verachtung gegenüber den Frauen«, und Mary setzte hinzu: »Die Futuristen behaupten, dass Frauen keine Kunst machen können. Pah! Ich weiß es besser. Nietzsche sagt im Zarathustra: ›Nur im Tanze weiß ich der höchsten Dinge Gleichnis zu reden‹ und jetzt tanze ich für euch, den Gesang des Zarathustra.« Mary schlüpfte aus den Schuhen und legte die warme Wolljacke zur Seite, dann löschte sie das Licht und bewegte sich im Schein einer Kerze, die unwirkliche Schatten an die Wände warf. Leise hörte man sie sagen: »In dein Auge schaute ich jüngst. Oh Leben! Und ins Unergründliche schien ich mir da zu sinken.« Sie schwebte durch den Raum und sank in sich zusammen. Die Familie war tief berührt von dieser Darbietung und Hermann machte den Vorschlag, alle gemeinsamen Freunde einzuladen, damit sie Marys Kunst erleben konnten. Die zweiflügelige Verbindungstür zwischen Wohn- und Esszimmer wollte man als Bühne nutzen und eine Schweizer Freundin von Mary sollte den Tempeltanz auf dem großen Tamtam rhythmisch begleiten.

Am Tag der Aufführung kamen die Geschwister von Hermann und Mary und ein paar alte Freunde. Die Tänzerin erschien in einem schwarzen enganliegenden Kleid. Ihr Auftritt begann in völliger Dunkelheit und absoluter Stille. Wegen der Finsternis hatten die Besucher ihre Augen geschlossen, sie vernahmen das Pochen der Trommel, das sich langsam steigerte. Wie bei einem Sonnenaufgang wurde es nach und nach hell und die betörende Frauengestalt sichtbar. Die Künstlerin stand auf den Zehenspitzen, die Arme hoch aufgereckt, mit in den Nacken geworfenem Kopf still da. Man spürte die enorme Konzentration, den der Zehenstand erforderte, bis sie die Zuschauer in ihrer Gewalt wusste. Langsam sanken ihre ausdrucksstarken Hände herab und die Gestalt drehte sich im Rhythmus der Trommelschläge, schneller und schneller, wobei Mary ihren Körper wie einen Bogen zurückbeugte und wie ein Kreisel auf der Stelle rotierte. Ihre Hände warfen groteske Schatten an die Wände und das schwarze Haar flog um ihren Kopf. Die Drehungen wurden langsamer und langsamer, bis die ganze Figur in sich zusammensank, das Licht verlöschte und der Trommelschlag verstummte. Für Mary Wigman war der Tanz eine metaphysische Erfahrung und Ausdruck einer inneren Bewegung.


Emil Nolde »Der Tanz«

Die Bode-Mädchen waren voller Bewunderung für die Freundin des Vaters und wollten von ihr unterrichtet werden. Sie zeigte ihnen, wie man die Arme hält und die Hände fächert, der Kopf sollte leicht zurückgeneigt sein und der Rücken sich in einer bestimmten Spannung biegen. Julia spielte Chopin und die Grazien hüpften in wallenden Gewändern barfuß durch die Wohnung, übten das würdige Schreiten und kleinere Sprünge im Takt der Musik, dabei hatten sie große Freude an der rhythmischen Bewegung. Mary brachte das Ehepaar Emil und Ada Nolde mit, die sie in der Schweiz kennengelernt hatte. Nolde hatte eine Mappe dabei, in der er zahlreiche Aquarelle aufbewahrte. Bode war sehr angetan von der farbigen Durchlässigkeit der getuschten Bilder und kaufte das Blatt Der Tanz, auf dem vier Frauen in wildem Reigen ihre Arme ausbreiten und die Haare fliegen lassen. Bei dem Bild, das lange über dem Esstisch hing, dachten alle an die befreundete Tänzerin. Im Tausch gegen ein Landschaftsbild vom Genfer See reparierte Bode die Zähne der Noldes.

1912 stellte die Künstlergruppe »Der Blaue Reiter« in der Berliner Galerie »Der Sturm« aus. Bode las die Ausstellungsbesprechung und reiste mit Mary nach Berlin, um die Bilder von Wassily Kandinsky, Alexej Jawlensky und Robert Delaunay zu sehen. Der freie Umgang mit Farbe, Form und Inhalt war neu und aufregend. Die starke Farbigkeit der ungemischt aufgetragenen Pigmente wirkte belebend und die Dynamik der wiedergegebenen Sujets hatte etwas Mitreißendes. Hermann stand lange vor jedem einzelnen Bild. Er wollte herausfinden, was ihn an dieser Malerei erregte und ansprach. Die Farbgebung passte nicht zu dem wiedergegebenen Gegenstand, das war verwirrend und hatte etwas Revolutionäres. Er besprach sich mit Mary und sie kamen zu dem Schluss, dass es das Erzählerische war, das die Freiheit der nächsten Generation ausdrückte. Hier war eine treibende Kraft am Werk, die sich nichts vorschreiben ließ und frei assoziierend etwas in Gang brachte, was die Besonderheit des Daseins auszudrücken vermochte. Der ganze Raum roch nach frischer Ölfarbe, weil die Bilder erst kurz zuvor entstanden waren. Die Aufsicht in der Galerie hatte Else Lasker-Schüler, die Mary erkannte und ansprach. So erfuhren sie, dass sich die Künstlerpaare Kandinsky – Münter und Jawlensky – v. Werefkin angefreundet hatten und sich in Murnau mit den Malern Marc und Macke zusammentaten. Sie waren in Paris gewesen und kannten die Bilder von Picasso, Braque und Delaunay, die in ihrer Komposition und Farbgebung ungewöhnliche Wege gingen. Der Galerist Herwarth Walden trat hinzu und meinte: »Die Franzosen gliedern den Bildraum ihrer Gemälde formal neu, die abgebildeten Gegenstände werden gleichzeitig aus verschiedenen Blickwinkeln dargestellt. Die Formen sind der Inhalt der Bilder, die Nachahmung der Natur tritt in den Hintergrund.«

Hermann erwiderte: »Die Aufteilung erinnert mich an bunte Glasfenster, sogar die schwarzen Bleifassungen sind hier als Ränder zu sehen. Warum nennt sich die Gruppe ›Blauer Reiter‹?«

Walden erklärte: »Franz Marc hat bis vor Kurzem impressionistische Landschaften gemalt, aber durch den Kontakt mit den russischen Malern Jawlensky und Kandinsky haben sich sein Malstil und der Inhalt seiner Gemälde verändert. Marc lebt auf einem Bauernhof in Bayern, sein Sujet ist die Erlebniswirklichkeit der Tiere. Er wagt es, die Pferde blau zu malen oder umgibt sie mit einer unwirklichen Farbenpracht, die seine Metapher für Imagination ist. Marc liebt Pferde, Kandinsky Reiter und die Farbe Blau gefällt ihnen beiden, voilà so entstand der Name für die gemeinsame Ausstellung.«

Die Farbenpracht der Bilder beschäftigte Bode, er blätterte in einem Heft, in dem die Künstler über die Anarchie in der Kunst und der neuen Musik schrieben, und sagte zu Mary: »Diese Künstler sollten wir uns merken. Hast du mit deinen Freunden in Askona über die Darstellung von Bewegung gesprochen, die in diesen Bildern einen Spannungsbogen zu deiner Arbeit im Bühnenraum aufzeigt?«

Julia hatte nichts dagegen, dass ihr Mann mit Mary zu Ausstellungen reiste. Sie wollte auf keinen Fall, dass ihre Kinder während ihrer Abwesenheit unbeaufsichtigt von Dienstboten betreut wurden. Zusammen mit ihrer Schwester Stanzi besuchte sie die Veranstaltungen des Hannoveraner Frauenvereins für Frauenkleidung und Frauenkultur, in denen viel über alternative Erziehung und Pädagogik gesprochen wurde. Hier traf sie Elli Beindorff, die Tochter von Günther Wagner, dem Eigentümer der Pelikan-Fabrik. Die Damen setzten sich gemeinsam für die Rechte der Frauen ein. Zuerst ging es um die Abschaffung des Korsetts, um Kindbetthygiene und die Unterstützung von Kinderreichen, bei denen der Ernährer durch Unfall oder Krieg verstorben war. Später forderte der Frauenverein, ähnlich wie die Suffragetten in London, das allgemeine und gleiche Wahlrecht für Frauen. Im Zuge der Novemberrevolution 1918 konnten sie das Frauenwahlrecht tatsächlich durchsetzen. Die Frauen entwickelten eine Solidarität, die ihnen erlaubte, gegen die dominanten Männer aufzubegehren, darüber hinaus half man einander in Notsituationen. Die Damen aus den reichen Familien hielten es für ihre Pflicht, den Armen zu helfen. Elli Beindorff war eine kultivierte und warmherzige Person, die von ihren Eltern zur Wohltätigkeit erzogen worden war.

Die Kunst ist das Einzige, was bleibt

Подняться наверх